AUFBRUCH DER ERINNERUNG: Francos langer Atem

In Spanien herrschte über die Folgen des Bürgerkriegs und über die Verbrechen der Diktatur lange Zeit ein „Pakt des Schweigens“. Der Österreicher Georg Pichler hat ein eindrucksvolles Buch darüber geschrieben, wie es dazu kam und wie das Schweigen gebrochen wurde.

Die nicht aufgearbeitete Vergangenheit des Franco-Regimes prägt die Gegenwart der spanischen Gesellschaft zutiefst: Spanische Franquisten bei der Offiziersausbildung in Avila, wo auch Nazi-Offiziere der „Legion Condor“ unterrichteten.

Das Dorf Joarilla de las Matas in der Provinz León kennt kaum jemand. Es liegt abseits der Haupt- und Nebenstraßen. In das kastilische Nest mit nicht einmal 400 Einwohnern sind die Freiwilligen der „Associación para la recuperación de la memoria histórica“ (ARMH) gekommen, der Vereinigung für die Wiedererlangung der historischen Erinnerung, um nach Leichen zu graben.

Auf einem Feld werden sie fündig: „Alle möglichen Arten von Knochen liegen über- und durcheinander, die Beinknochen erkennt man schnell, Becken- und Schulterknochen auch, bald nimmt man Unterarme mit Elle, Speiche und den abstehenden Hand- und Fingerknöcheln wahr, dazwischen leicht gekrümmt eine Wirbelsäule und halb zertrümmerte oder eingedrückte Schädel mit ihren riesigen Augenhöhlen und zahnbesetzten Oberkiefern.“

Über jeden Fund werde Buch geführt, schreibt Georg Pichler über die Exhumierungen. Auch er hat Ausgrabungen unternommen – und zwar journalistisch in seinem Buch „Gegenwart der Vergangenheit“. Der Österreicher, Professor für deutsche Sprache und Literatur in Madrid, führte Buch über „Die Kontroverse um Bürgerkrieg und Diktatur in Spanien“. So lautet der Untertitel des 333 Seiten umfassenden Werks, das im Züricher Rotpunktverlag erschienen ist.

Pichler „exhumiert“ die spanische Geschichte auf eindrucksvolle Weise. Nicht nur am konkreten Beispiel von Joarilla de las Matas: Dort wurden am 4. November 1937 inmitten des Spanischen Bürgerkrieges zwanzig politisch engagierte Bergarbeiter, allesamt Sozialisten, Kommunisten oder Anarchisten von der Armee General Francisco Francos festgenommen und nach einem Schnellgerichtsverfahren erschossen und verscharrt. Sie gelten bis heute als „Desaparecidos“, als „Verschwundene“.

Um die Identität der Personen eindeutig zu bestimmen, müsse noch viel Forschungsarbeit geleistet werden, schreibt Pichler. Um die Schrecken der Franco-Diktatur aufzuarbeiten, bedarf es in Spanien viel größerer Anstrengungen, wie er mit seinem Buch bestätigt. Denn nach Francos Tod 1975 herrschte in der spanischen Gesellschaft lange Zeit ein einvernehmliches Schweigen über die Diktatur. Eine politische Aufarbeitung der Vergangenheit setzte erst Ende der Neunzigerjahre ein.

Eine juristische Aufarbeitung gab es hingegen bis heute nicht. Ein Amnestiegesetz von 1977 verhindert die Verfolgung der damaligen Verbrechen. Kein einziger Scherge des Regimes wurde jemals zur Rechenschaft gezogen, die zahllosen Todesurteile, die Franco selbst unterschrieb, wurden niemals aufgehoben. Immer noch liegen mehr als 100.000 nicht identifizierte Leichen in den Massengräbern. Anderen Schätzungen zufolge sind es insgesamt 143.000 Verschwundene. Zivilgesellschaftliche Bewegungen wie die ARMH legen mit den Exhumierungen der Massengräber den Finger in eine offene Wunde. Spaniens berühmtester Untersuchungsrichter Baltasar Garzón hatte 1998 einen internationalen Haftbefehl gegen Chiles Ex-Diktator Augusto Pinochet erlassen. Danach ermittelte er gegen argentinische Militärs wegen des „Verschwindenlassens“ von spanischen Staatsangehörigen. Nun wollte er die Verbrechen des Franco-Regimes untersuchen. Deshalb eröffnete er ein Verfahren gegen mehrere Verantwortliche und veranlasste, 19 Massengräber zu öffnen.

Mit dem Star-Richter befasst sich auch Georg Pichler. Garzón wurde vor zwei Jahren wegen angeblicher Rechtsbeugung mit Berufsverbot belegt. Pichler berichtet von drei Prozessen gegen Garzón. Doch weit mehr beschäftigt ihn das kollektive Gedächtnis der Spanier. Er hat Nachkommen beider Seiten, sowohl der Franquisten als auch der Republikaner interviewt, Historiker ebenso wie Politiker. Die einen wollen den Mythos Franco wahren und stemmen sich gegen eine Aufarbeitung der Geschichte, weil sie unter anderem befürchten, die Verbrechen würden vor Gericht kommen, die anderen fordern ein Ende der Straflosigkeit, die Kinder und Enkel der Diktaturopfer zumindest eine angemessene Bestattung ihrer Vorfahren.

Pichler interviewt den Journalisten und früheren Maoisten Pio Moa, der behauptet, Franco sei „der beste Politiker, den Spanien in den letzten beiden Jahrhunderten hatte“.

Doch es geht Pichler nicht allein um die heutige Sicht auf den Bürgerkrieg. Das ist nur ein Teil des Buches. Die ausgebliebene Aufarbeitung der Vergangenheit wirkt sich auf ihr Fortwirken aus: Der Autor hat die Debatten verfolgt, die sich um das Thema drehen – wie zum Beispiel beim jüngsten Unabhängigkeitsbestreben der Katalanen, die bei ihren Begründungsversuchen die Unterdrückung während der Franco-Diktatur nennen.

Pichler fragt sich, ob der Franquismus das Land noch heute prägt, und stellt dabei fest, dass dies in erheblichem Maße der Fall ist. Zwar liegen der Spanische Bürgerkrieg (1936-1939) und die Diktatur (bis 1975) bereits Jahrzehnte zurück. Doch der Ungeist des Diktators lebt weiter. Die spanische Gesellschaft ist nach wie vor tief gespalten: „Nach nunmehr drei Generationen stehen sich viele Nachfahren der zwei Seiten noch immer feindlich gegenüber.“

Lange Zeit war die einzig mögliche Form der öffentlichen Erinnerung an den Bürgerkrieg jene der Franquisten. In ihrem Geschichtsbild wurde er als Kreuzzug dargestellt. Das Regime glorifizierte seine gefallenen Anhänger als Märtyrer. Ihre Gegner wurden dagegen als „Anti-Spanier“ diffamiert und bis zum Ende der Diktatur einer systematischen Repression und Diskriminierung ausgesetzt.

Nach Francos Tod gab es keinen radikalen Bruch mit dem Regime. Spanien wurde lange Zeit für die „transición“ hoch gelobt, den friedlichen Übergang von der Diktatur zur Demokratie seit Mitte der Siebzigerjahre. Doch der scheinbar problemlose Machtwechsel entpuppt sich immer mehr als Mythos, als „ein staatlicher Pakt des Schweigens“ zwischen den Repräsentanten des alten Systems und der gemäßigten demokratischen Opposition.

Die „Transición“ (1975-1982) sei gescheitert, schlussfolgert der Autor. Denn die Vergangenheit sei ausgeklammert und eine öffentliche Auseinandersetzung mit der Diktatur vermieden worden. Ein Amnestiegesetz vom Oktober 1977, die erste Maßnahme des neu gewählten demokratischen Parlaments, führte zwar einerseits dazu, dass die politischen Gefangenen des Regimes aus den Gefängnissen frei kamen, auf der anderen Seite sicherte es auch den franquistischen Schergen Straffreiheit zu.

Zugleich schien die „Impunidad“, die Straffreiheit, von einer gesellschaftlichen Amnesie begleitet zu sein. Mehr als 20 Jahre fand keine gesellschaftliche Debatte über Diktatur und Bürgerkrieg statt. Die „Transición“ basierte demnach auf dem Verschweigen der Verbrechen. Die „nationale Versöhnung“ stand einer gesellschaftlichen Vergangenheitsbewältigung entgegen. Sowohl die so genannte Gedächtnisbewegung als auch engagierte Einzelne wie Richter Garzón haben den „Pakt des Schweigens“ gebrochen.

Dass die verstärkte politische Auseinandersetzung und geschichtspolitische Debatte ausgerechnet in die erste Regierungszeit der konservativen „Partido Popular“ (PP) von 1996 bis 2004 fiel, ist mehr als ein Zufall. Damals forcierten die Oppositionsparteien, die Sozialisten und die „Izquierda Unida“ (Vereinigte Linke) gemeinsam mit den Regionalparteien die öffentliche Debatte über die Repression während der Diktatur. Sie brachten Gesetzesinitiativen zur Entschädigung und Rehabilitierung von Opfern ein. Ungefähr zeitgleich erschien eine Fülle an wissenschaftlichen Untersuchungen über die franquistische Unterdrückungspolitik. Ausstellungen und Fernsehsendungen beschäftigten sich ebenfalls mit dem Thema.

Inzwischen boomt die revisionistische Literatur, die Franco als Retter vor dem Kommunismus preist, auf dem spanischen Buchmarkt. Pichler interviewt den Journalisten und früheren Maoisten Pio Moa, der behauptet, Franco sei „der beste Politiker, den Spanien in den letzten beiden Jahrhunderten hatte“, und den Anwalt Jaime Alonso, Präsident der Franco-Stiftung und Gewerkschaftschef, der das Erbe des Diktators als „beeindruckend“ preist.

Pichler lässt beide Seiten zu Wort kommen – und er lässt kaum einen Aspekt aus. Zum Beispiel widmet er sich in seinem Buch auch der Tragödie der 30.000 Kinder, die in Kliniken Regimegegnern weggenommen und regimetreuen Paaren zugesprochen wurden. Hier gibt es Parallelen zu den lateinamerikanischen Militärdiktaturen, insbesondere zu der argentinischen von 1976 bis 1983.

Pichlers Buch ist umfassend, was die spanische Thematik angeht. Ein internationaler Vergleich, insbesondere mit der Aufarbeitung der Verbrechen der lateinamerikanischen Diktaturen wäre zusätzlich noch interessant. Auch das Verhältnis des europäischen Auslands zur Franco-Diktatur im Kontext des Kalten Krieges zu beleuchten, wäre interessant gewesen, hätte jedoch den Rahmen gesprengt, den sich der Autor gesetzt hat.

Auf der einen Seite wirke die Vergangenheit in die Gegenwart herein, so Pichler, auf der anderen sei sie selbst von dieser Gegenwart durchsetzt, von der aus die vergangenen Geschehnisse immer neu gedeutet werden: „Um die heutige Sicht auf den Spanischen Bürgerkrieg geht es in diesem Buch.“

Ein Unterkapitel widmet sich den „identitätsstiftenden Symbolen des Franquismus“, ein anderes dem Nationalkatholizismus, weitere den Gedächtnisorten der Franco-Anhänger. Danach rückt die Sicht der Verlierer in den Vordergrund; im Kapitel über die Repression. Sowohl Exilanten als auch Widerstandskämpfer, die im Land blieben, werden vorgestellt.

Der Germanist greift bei seiner Arbeit sowohl auf wissenschaftliche als auch auf journalistische Methoden zurück. Die Hauptelemente des Buchs sind Interviews – mit Nachfahren, Experten, Forschern und Journalisten. Vor jedes Gespräch stellt er eine szenische Beschreibung: „Ein verschlungenes Vorortviertel im Norden von Madrid, Reihen roter Ziegelbauten, ein Haus aus den Sechzigerjahren, vierter Stock über eine kahle Treppe. Emilio Silva öffnet. Silva Barrera, 1965 in Navarra geboren, ist Journalist. Sein Großvater, Emilio Silva Faba, wurde am 16. Oktober 1936 bei Priaranza del Bierzo ermordet und am Straßenrand verscharrt.“

Im Oktober 2000 leitete Emilio Silva Barrera eine Exhumierung von Franco-Opfern. Sie wurde zum Auftakt der ARMH-Bewegung. Pichler nennt den letzten Teil des Buches, in dem es um die Entwicklung seit dem Jahr 2000 geht, das „Aufbrechen der Erinnerung“. Es handelt primär von der Gedächtnisbewegung. Mit der sozialdemokratischen Regierung unter José Luis Rodríguez Zapatero (seit 2004) hat die Vergangenheitsbewältigung in Spanien eine neue Dimension erhalten, auch wenn das so genannte Erinnerungsgesetz erst nach langen Verhandlungen und mehrfacher Überarbeitung im Dezember 2007 verabschiedet werden konnte. Das Gesetz spricht den Opfern von Bürgerkrieg und Diktatur ein Recht auf Anerkennung und Wiedergutmachung zu. Ehemalige politische Häftlinge und Zwangsarbeiter bekamen eine Entschädigung zugesprochen. Symbole der Diktatur, Straßennamen, Monumente und Gedenktafeln sollten entfernt werden.

Doch an der zähen Umsetzung des Vorhabens zeigt sich einmal mehr, besonders in Zeiten der Krise, wie hartnäckig der Ungeist der Franco-Ära fortwirkt.

Georg Pichler – Gegenwart der Vergangenheit. Die Kontroverse um Bürgerkrieg und Diktatur in Spanien. Rotpunktverlag, 333 Seiten.


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