TUNESIEN: Licht am Ende des Tunnels

Islamistische Anschläge, ein festgefahrener politischer Übergangsprozess und miese wirtschaftliche Aussichten: Die Zukunft Tunesiens scheint alles andere als rosig.

„In Tunesien haben sie Sokrates erschossen“: Das Konterfei des von Jihadisten ermordeten Nationalgardisten Socrate wurde am Dienstag vergangener Woche auf einer Demonstration der Polizeigewerkschaft präsentiert.

Mittwoch voriger Woche, 12 Uhr, in einem Buchladen in der Avenue Bourguiba in Tunis. „Ein Kamikaze hat sich vor einem Hotel in Sousse in die Luft gesprengt!“ ruft eine schick gekleidete Frau um die Fünfzig aufgeregt. „Und ein anderer hat das Mausoleum von Bourguiba in Monastir attackiert. Das sind keine Tunesier. Das sind Araber aus den Golfstaaten, aus Saudi-Arabien und Katar. Die wollen Tunesien zerstören.“ Ein Buchhändler, die schütteren grauen Haare zu einem Zopf zusammengebunden, mit großen Ringen an den Fingern und haufenweise Tattoos, sieht das anders: „Die kommen von hier. Aber jetzt ist auch klar, dass die Warnungen vor den Jihadisten, die man seit zehn Jahren versucht kleinzureden, nicht übertrieben waren.“

Es ist das erste Selbstmordattentat in Tunesien seit dem 11. April 2002, als sich ein tunesischer Kamikaze von al-Qaida vor der Synagoge auf Djerba in einem mit Flüssiggas beladenen Kleinlaster in die Luft sprengte und etwa 20 Menschen in den Tod riss. Nach und nach sickern die ersten Informationen durch. Um halb zehn, mitten in der touristischen Zone der Stadt Sousse, 140 Kilometer von der Hauptstadt Tunis gelegen, versuchte ein junger Mann Anfang Zwanzig, vom öffentlichen Strand auf den privaten des Hotels Riadh Palms zu gelangen. Die Wächter des Hotels wurden auf ihn aufmerksam und verjagten ihn, darauf sprengte er sich in die Luft. Keine weiteren Menschen wurden verletzt. Bald kursierten Bilder seiner verstümmelten Leiche im Internet, tags darauf wurden sie auf der ersten Seite vieler tunesischer Tageszeitungen gedruckt.

Kurz nach der Explosion in Sousse gab das tunesische Innenministerium bekannt, in Monastir – 25 Kilometer von Sousse entfernt – sei ein 18-Jähriger verhaftet worden, als er mit Sprengstoff bepackt in das Mausoleum von Habib Bourguiba, dem ersten tunesischen Präsidenten nach der Erlangung der Unabhängigkeit, habe eindringen wollen. Keine Organisation bekannte sich zu den vereitelten Anschlägen. Am Abend meldete das Innenministerium dann die Verhaftung von sechs mutmaßlichen Komplizen des Suicidebombers von Sousse. Es veröffentlichte die Bilder von zwei weiteren Verdächtigen, beide ohne Bart und sehr jung, 20 und 22 Jahre alt.

Alte Erinnerungen wurden wach: Ebenfalls in Sousse und Monastir waren am 2. August 1987, am Tag vor Bourguibas Geburtstag, vier Bomben in Hotels explodiert, die 13 Verletzte gefordert hatten. Beinahe 25 Jahre später, im September 2011, präsentierte die Website „Tunisia-live.net“ zwei neue, damals den Islamisten nahestehende Zeugen, die behaupteten, dass die Bewegung islamischer Tendenz (MTI), die Vorläuferorganisation von al-Nahda, für die fraglichen Anschläge verantwortlich gewesen sei. Der Bericht zog eine Repressionswelle gegen dieselben islamistischen Anführer nach sich, die heute teils Regierungsämter innehaben.

Noch am selben Tag der fehlgeschlagenen Attentate von Ende Oktober stufte die Ratingagentur Fitch Tunesien von BB+ auf BB- herab, Prognose negativ. Die vorrangigen Gründe für diese Bewertung sind Fitch zufolge politischer Natur: Der Übergangsprozess verzögert sich weiter, die Unsicherheit über den letztlichen Erfolg des Prozesses hat sich verstärkt. Die Ermordung zweier oppositioneller Leader im Februar und Juli – Chokri Belaid und Mohhamed Brahmi, beide scharfe Kritiker der die Regierung dominierenden islamistischen al-Nahda und Mitglieder des linken Front populaire – hat zu einer politischen Krise geführt, die die politische Entscheidungsfindung lähmt. Angriffe und Tötungen durch terroristische Gruppen haben sich in den vergangenen Monaten gehäuft und verschlechtern die Sicherheitslage und Stabilität.

Wahlen sind kein Garant für Stabilität inmitten der Risiken sozialer und politischer Zersplitterung.

Auch dass die zunächst für 2013 erwarteten Präsidentschafts- und Parlamentswahlen verschoben worden sind, hat zur Bewertung von Fitch beigetragen. Der Ausgang der Verhandlungen zwischen Regierung und Oppositionsparteien zur Bildung einer Übergangsregierung, die Ende Oktober begannen, bleibt ungewiss. Es ist unwahrscheinlich, dass vor der zweiten Jahreshälfte 2014 Wahlen stattfinden werden. Überdies sind sie keinesfalls ein Garant für künftige Stabilität inmitten der Risiken weiterer sozialer und politischer Zersplitterung. Die Verzögerungen beim politischen Übergangsprozess schaden dem Wachstum, Fitch hat die Wachstumsprognosen für Tunesien auf 2,8 Prozent für 2013 und drei Prozent für 2014 gesenkt; die durchschnittliche Inflationsrate für 2013 wird auf sechs Prozent geschätzt. Soweit der nüchterne Blick von Fitch auf Tunesien.

Das etwas grob geschnitzte, düstere Szenario der Ratingagentur scheint auf den ersten Blick realistisch. Geht man in die Details, wird die Prognose nicht optimistischer. Die Ermittlungen in den Mordfällen Chokri Belaid und Mohammed Brahmi kommen nicht voran. Auf einer Pressekonferenz, abgehalten am 2. Oktober von der seit gut einem halben Jahr auf eigene Faust ermittelnden „Initiative zur Erforschung der Wahrheit über die Ermordung von Chokri Belaid“ (IRVA), wurden schwere Anschuldigungen formuliert. Einer der mutmaßlich in das Attentat Verwickelten sei am Tag nach dem Mord an Belaid von der Polizei in seinem Haus umzingelt worden, aber es sei ein „Gegenbefehl“ ergangen: Die Justizpolizei solle sich des Verdächtigen annehmen. Die Polizisten zogen demnach ab, der Verdächtige tauchte unter, der Justizpolizei blieb jede Mühe erspart.

Im Übrigen kritisierte die IRVA ein angeblich von al-Nahda kontrolliertes, unter Ali Laarayedh in seiner Zeit als Innenminister entstandenes paralleles Netzwerk im Innenministerium, das in die Mordanschläge auf Belaid und Brahmi verwickelt sei – eine Anschuldigung, die der neue „unabhängige“ Innenminister Lotfi Ben Jaddou, der nach dem Mord an Belaid im März die Position des Islamisten Ali Laraayedh eingenommen hatte, scharf zurückwies.

Bereits Mitte September hatte die IRVA eine schriftliche Notiz aus dem Innenministerium veröffentlicht, nach der die CIA elf Tage vor dem tödlichen Attentat auf Mohammed Brahmi das Innenministerium gewarnt hatte, „einige ihr zur Verfügung stehende Elemente“ deuteten auf einen Anschlag „salafistischer Elemente“ auf einen Abgeordneten hin, der namentlich genannt wurde: Mohammed Brahmi. Aber im Innenministerium ging die Warnung der CIA irgendwie unter. Brahmi wurde aus Sicherheitskreisen nicht darüber informiert, dass sein Leben in Gefahr war; ein Schutz für ihn wurde nicht organisiert. Am 25. Juli wurde er vor seiner Haustür erschossen.

Auch im Polizeiapparat und im Innenministerium wachsen die Spannungen. Nachdem bereits Ende Juli jihadistische Kämpfer acht Mitglieder von Nationalgarde und Armee in einem Hinterhalt auf dem Berg Chaambi nahe der algerischen Grenze in einem Hinterhalt getötet hatten, erklärte die tunesische Regierung einen Monat später die salafistisch-jihadistische Organisation Ansar al-Sharia, die sie auch für die Ermordung von Chokri Belaid und Mohhamed Brahmi verantwortlich macht, zur „terroristischen Vereinigung“. In den vergangenen Wochen eskalierte die Lage weiter. Am 17. Oktober kamen bei einem Feuergefecht in Goubellat zwei Nationalgardisten und sechs Jihadisten ums Leben, von der Trauerzeremonie in der Kaserne l`Aouina nahe Tunis verscheuchten protestierende Sicherheitskräfte den Übergangspräsidenten Moncef Marzouki und den Ministerpräsidenten Ali Laarayedh mit dem berühmten, ursprünglich auf den im Januar 2011 gestürzten autoritären Präsidenten Zine al-Abidine Ben Ali gemünzten Ruf „Dégage!“ (Hau ab!).

Am 23. Oktober töteten Jihadisten in Sidi Ali Ben Aoun in der Provinz Sidi Bouzid im Landesinnern abermals sechs Nationalgardisten, als diese ein Haus durchsuchen wollten, in dem später nach Angaben der Behörden hunderte Kilogramm Sprengstoff gefunden wurden. Auch ein junger Offizier mit dem Vornamen Socrate kam dabei ums Leben, worauf der Spruch kursierte: „In Tunesien haben sie Sokrates erschossen.“

Das Konterfei von Socrate war omnipräsent auf der Demonstration mit einigen hundert Beteiligten, die eine Polizeigewerkschaft am Dienstag vergangener Woche in Tunis vor dem Innenministerium abhielt. Zu den Forderungen der Demonstranten gehörten bessere Ausrüstung, aber auch die Wiedereinstellung von Sicherheitskräften, die nach dem Sturz von Ben Ali entlassen wurden und durch al-Nahda Verpflichtete ersetzt worden seien. Nach Angaben von „Le Monde“ wurde vor dem Innenministerium der kürzlich erschossenen Sicherheitskräfte gedacht, aber auch deren Kollegen, die bei dem Aufstand gegen Ben Alis Polizeistaat ums Leben gekommen waren.

Doch die Polizeikräfte machen nicht nur mit ihrer Kritik an der Regierung Schlagzeilen. Am Freitag voriger Woche wurde Walid Danguir, ein 32-jähriger aus einem armen Stadtteil von Tunis, von der Polizei offenbar wegen Drogengeschichten verhaftet. Tags darauf war er tot. Sein Körper trug Folterspuren. Und so verhält es sich mit dem von der Opposition erhofften Ende der sich immer weiter verlängernden islamistischen Regierungszeit wie in dem amerikanischen Bonmot: Sieht man das lang ersehnte Licht am Ende des Tunnels, kann es auch von einem Güterzug stammen, der einem entgegen rast.

Diese Metapher gilt auch für den sogenannten nationalen Dialog zwischen Regierungs- und Oppositionsparteien, der auf die Ablösung der von den Islamisten dominierten Regierung durch eine Neuwahlen organisierende Technokraten-Regierung zielte. Denn der Prozess, der zur seit einem Jahr überfälligen Verabschiedung einer neuen Verfassung und zu einem neuen Wahlgesetz führen soll, ist auf dem besten Weg zu scheitern. „Wir haben keinen Konsens über die Person erreicht, die die Regierung leiten soll“, befand am Dienstag der mächtige Gewerkschaftsverband UGTT, der als maßgeblicher Vermittler in der politischen Krise fungiert. „Wir haben beschlossen, den nationalen Dialog zu suspendieren, bis es ein für seinen Erfolg günstiges Terrain gibt.“

Nach endlosen Verhandlungen hatte Premierminister Laarayedh Ende Oktober zugestimmt, seinen Posten zu verlassen. Al-Nahda besteht darauf, Ahmed Mestiri, einen 88-Jährigen, der bereits unter Bourguiba als Minister fungiert hatte und den die Opposition als zu alt und zu schwach für den Posten erachtet, als neuen Regierungschef zu installieren. „Wir sehen keine Alternative zu Mestiri“, bekräftigte Rachid Ghannouchi, Vorsitzender von al-Nahda, nach dem Scheitern der Gespräche. „Die Troika, insbesondere al-Nahda, hat den Dialog scheitern lassen“, sagte Hamma Hammami, Sprecher des linken Front populaire. „Sie versuchen mit allen Mitteln, an der Macht zu bleiben.“

Bernd Beier ist Chef vom Dienst der in Berlin erscheinenden Wochenzeitung „Jungle World“, mit der die woxx seit vielen Jahren kooperiert. Seit Beginn der „Arabellion“ war Beier in Libyen, Ägypten und regelmäßig in Tunesien auf Recherchereise unterwegs.


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