UNGARN: Nation ohne Grenzen

Der ungarische Ministerpräsident Viktor Orbán hat Autonomie für die ethnischen Ungarn in der Ukraine gefordert. Dafür erntete er Kritik, doch er hat noch Größeres im Sinn.

Möchte den ungarischen Staat über sich hinauswachsen sehen: Ministerpräsident Viktor Orbán.

Im März hatte der russische Ultranationalist und stellvertretende Präsident der Duma, Wladimir Schirinowski, den Regierungen Polens, Rumäniens und Ungarns in einem offiziellen Schreiben angeboten, die Westukraine unter ihnen aufzuteilen; im Zuge dessen bekäme Ungarn Transkarpatien, die westlichste Verwaltungseinheit der Ukraine. Ebenfalls im März forderte die rechtsextreme ungarische Partei Jobbik in einer gemeinsamen Erklärung mit der polnischen „Ruch Narodowy“ (Nationale Bewegung) Autonomie für die ethnischen Ungarn und Polen in der Ukraine. Entsprechend beunruhigt reagierte die ukrainische Regierung auf Viktor Orbáns Antrittsrede vor dem neuen ungarischen Parlament am 10. Mai und bestellte den ungarischen Botschafter ein. Der ungarische Ministerpräsident hatte in seiner Rede Autonomie, Gemeinschaftsrechte und die doppelte Staatsbürgerschaft für die ethnischen Ungarn in Transkarpatien gefordert. Selbst der polnische Ministerpräsident, Orbáns EVP-Kollege Donald Tusk, hielt diese Äußerung für unglücklich: „Man darf die Separatisten und Russland nicht auf diese Weise dabei unterstützen, den ukrainischen Staat zu zerschlagen“, wird er in ungarischen Medien zitiert.

Die ungarische Regierung beeilte sich wie üblich, im Ausland die Wogen zu glätten. Außenminister János Martonyi erklärte, dass Orbán nicht von territorialer Autonomie gesprochen habe; ein Sprecher des Außenministeriums betonte, Orbán habe nichts Neues gesagt, der ungarische Standpunkt in dieser Frage sei seit 25 Jahren unverändert; der stellvertretende Präsident der Ungarisch-Demokratischen Föderation in der Ukraine (UMDSZ) sprach in den ukrainischen Medien von einem Übersetzungsfehler.

Das hatte Orbán gesagt: „Die ungarische Frage ist seit dem Zweiten Weltkrieg ungelöst. Wir betrachten die ungarische Sache als europäische Angelegenheit. (?) All dem gibt die Situation der 200.000 Ungarn in der Ukraine Aktualität, die die doppelte Staatsbürgerschaft, Gemeinschaftsrechte und die Möglichkeit der Selbstverwaltung bekommen müssen. Das ist unsere klare Erwartung gegenüber der sich jetzt bildenden neuen Ukraine.“ In Reaktion auf die internationale Irritation präzisierte er am 16. Mai im ungarischen Staatsfernsehen: „Wir sind an einer stabilen, demokratischen Ukraine interessiert (?). Aber die Ukraine kann weder stabil noch demokratisch sein, wenn sie den dort lebenden Minderheiten, nationalen Gemeinschaften, darunter den Ungarn, nicht gibt, was ihnen zusteht.“ Es liege zwar an den Ungarn in Transkarpatien, eine konkrete Autonomielösung anzustreben, aber „sie und der ukrainische Staat müssen wissen, dass der ungarische Staat voll hinter den Autonomieforderungen der Ungarn in Transkarpatien steht“, so Orbán. Trotz der angespannten Lage sei dafür jetzt der richtige Zeitpunkt. Gleichzeitig sicherte er der Ukraine, deren Territorium durch Russlands Verstoß gegen internationale Regeln verletzt worden sei, Ungarns Unterstützung zu.

Im Folgenden sagte er, Ungarns Energieversorgung sei langfristig gesichert, auch falls die Gaslieferungen aus der Ukraine durch den Konflikt eingestellt werden sollten. Darüber habe er mit dem Vorsitzenden des Aufsichtsrats der Gazprom gerade die nötigen Vereinbarungen getroffen. Aktuellen russischen Medienberichten zufolge soll der ungarische Abschnitt von „South Stream“, der im Bau befindlichen Pipeline, die von Russland bis nach Italien und Österreich führen wird, ab 2017 in Betrieb gehen.

Kritiker merkten an, dass der in der ungarischen Politik bisher nie gefallene Satz „Die ungarische Frage ist seit dem Zweiten Weltkrieg ungelöst“ den von Ungarn ratifizierten Pariser Friedensvertrag von 1947 infrage stelle, in dem der ungarische Staat anerkennt, dass Ungarn außerhalb der Landesgrenzen wieder Staatsbürger der angrenzenden Länder wurden. Der Friedensvertrag enthielt keine Autonomieregelungen.

Die ungarische Regierung tritt ? wie auch Jobbik ? im Europawahlkampf für ein „Europa der Nationen“ ein.

Die ungarische Regierung tritt ? wie auch Jobbik ? im Europawahlkampf für ein „Europa der Nationen“ ein. Staat und Nation sind hier wohlgemerkt nicht deckungsgleich. Als „Nation“ wird die grenzübergreifende ethnisch-kulturelle „Gemeinschaft“ der Ungarn verstanden, als deren politische Vertretung der ungarische Staat sich seit diesem Jahr betrachtet, auch innerhalb der EU. So hat die Regierungspartei Fidesz unter dem Motto „Vereinigung der Nation“ erstmals Kandidaten aus den Nachbarländern in ihre Liste für die Europawahlen aufgenommen: aus der Ukraine (Listenplatz 9), Serbien (Listenplatz 10) und der Slowakei (Listenplatz 21). Auch Jobbik hat mit einem Vertreter von Ruch Narodowy erstmals einen ausländischen Kandidaten auf der Liste, wenn auch keinen Auslandsungarn. Gleichzeitig rekrutiert die ungarische Regierung in den Nachbarländern weiterhin neue ungarische Staatsbürger, bis 2018 sollen es eine Million werden.

Seit 2010 hat Fidesz kein Wahlprogramm veröffentlicht, auf das Orbán sich vier Jahre festlegen und an dessen Umsetzung sich die Regierung messen lassen müsste. Dafür wurden die zentralen Punkte zu den Auslandsungarn im Wahlprogramm der Jobbik von 2010 von Fidesz inzwischen größtenteils umgesetzt. 2010 forderte Jobbik die Einführung der ungarischen Staatsbürgerschaft „ohne Übersiedlung und unverzüglich“ für jeden Auslandsungarn ? eines der ersten von Fidesz 2010 verabschiedeten Gesetze. 2010 bezeichnete Jobbik die „kulturelle und wirtschaftliche Wiedervereinigung der ungarischen Nation“ als „wirtschaftliche Notwendigkeit“ und wollte „die regionale Zusammenarbeit über die Grenzen hinaus ermutigen und ausbauen“. 2012 verabschiedete das Parlament eine „Wachstumsstrategie der ungarischen Wirtschaft im Karpatenbecken“, eine gezielte Wirtschaftsförderung klein- und mittelständischer Unternehmen ethnischer Ungarn in den Nachbarländern, ohne Konsultation mit den jeweiligen Regierungen. 2014 spricht Orbán von einer Politik der „Vereinigung der Nation“ und der weiteren „Stärkung unserer wirtschaftlichen Präsenz im Karpatenbecken“.

Jobbik sah Ungarn 2010 als „Mutterland, das in einer ungarischen Nation von 15 Millionen denkt und den Status einer Schutzmacht einnimmt“. 2013 forderte László T?okés, der Präsident des Ungarischen Nationalrates im rumänischen Siebenbürgen und rumänischer EU-Abgeordneter, von Orbán, Ungarn möge die Rolle einer Schutzmacht für die Ungarn in Siebenbürgen übernehmen. 2014 kandidiert T?okés bei den Europawahlen erstmals für Ungarn und Fidesz (Listenplatz 3).

Jobbik wollte 2010 „besondere Unterstützung für die Bestrebungen [der Auslandsungarn] auf Selbstbestimmung“ leisten. Die Orbán-Regierung unterstützt die Autonomiebestrebungen der Székler, der ethnischen Ungarn in Rumänien: Seit Februar 2013 hängt die Fahne der Székler aus Protest gegen ihr Verbot durch Rumänien an öffentlichen Gebäuden am ungarischen Parlament und fast jedem ungarischen Rathaus, während die EU-Fahne seit vergangener Woche vom Parlamentsgebäude und aus dem Sitzungssaal verschwunden ist.

Es geht nicht lediglich darum, Fidesz kurzfristig Wählerstimmen zu sichern, den demographischen Niedergang aufzuhalten oder innenpolitische Probleme zu kompensieren. Orbán plant langfristig. Mittelfristig bleibt Ungarn der Fördergelder wegen in der EU und lässt sie für sich arbeiten, indem die „Wiedervereinigung der Nation“ als EU-konforme Regionalisierung verkauft wird. Die Frage ist nur, wie sich Ungarns Beziehung zu Russland („Ostöffnung der ungarischen Wirtschaft“) und die Autonomiebestrebungen der von Orbán politisch, ideologisch und finanziell unterstützten Parteien und Organisationen der Auslandsungarn bis zum 100-jährigen Jubiläum des Trianon-Vertrags 2020 entwickeln werden, jenes Friedensvertrages also, der den ungarischen Staat einen Großteil der Gebiete gekostet hat, die heute so nachdrücklich als Teil der „Nation“ betrachtet werden.

Pusztaranger betreibt den gleichnamigen Blog, der über die politische und soziale Entwicklung in Ungarn berichtet:
http://pusztaranger.wordpress.com


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