GROSSBRITANNIEN: Ein Tag ist nicht genug

Angestellte des öffentlichen Dienstes in Großbritannien haben für Lohnerhöhungen und gegen gestiegene Rentenbeiträge gestreikt.

Bunt und brav: Streikende des öffentlichen Dienstes am 10. Juli in London.

Der für den 10. Juli geplante Streik der öffentlich Bediensteten in Großbritannien wurde vorweg als eine der größten Streikaktionen der vergangenen Jahre, wenn nicht gar Jahrzehnte bezeichnet. Es wurde erwartet, dass mehr als eine Million Angestellte gegen das „pay freeze“, die von der Regierung beschlossene Aussetzung von Lohnerhöhungen im öffentlichen Dienst, sowie gegen den sinkenden Lebensstandard protestieren würden. Teilnehmende Gewerkschaften waren unter anderem die Gewerkschaft der Feuerwehr, die allgemeine Gewerkschaft GMB, die Lehrergewerkschaft NUT, die Gewerkschaft des öffentlichen Dienstes PCS, die Transportarbeitergewerkschaft RMT sowie die großen Gewerkschaften „Unison“ (Dienstleistungsbereich) und „Unite“ (Industriearbeiter). Zu den Streikenden gehörten unter anderem Pflegepersonal, Lehrerinnen und Lehrer, Feuerwehrangehörige, Angestellte im öffentlichen Verkehr und Schulkantinenpersonal.

Nicht ganz eine Million, aber immerhin mehrere hunderttausend Menschen nahmen letztlich am Streik teil. Die Regierung spielte die Zahlen herunter und betonte, dass weniger als 90.000 Angestellte des öffentlichen Dienstes die Arbeit niedergelegt hätten und es nur zu minimalen Störungen der Abläufe gekommen sei. Einem Kabinettssprecher zufolge öffneten alle Arbeitsämter sowie die meisten Schulen und lokalen Behörden. Trotzdem kam es zu einigen Schließungen und Unterbrechungen im öffentlichen Dienst. Wegen Streik geschlossen waren etwa mehrere Feuerwehrstationen, unter anderem in der Londoner Innenstadt, zahlreiche Schulen in Wales und mehrere Museen, darunter Teile der Ausstellung der Nationalgalerie in London. Am Flughafen Heathrow wurden Reisende darauf hingewiesen, dass es zu Unterbrechungen wegen eines Protests der Grenzbeamten kommen könne.

Wie auch beim vorherigen Streiktag im März protestierten die Gewerkschaften gegen sogenannte leistungsbezogene Bezahlung, erhöhte Rentenbeiträge bei gleichzeitiger Erhöhung des Rentenalters und die sinkende Qualität der öffentlichen Dienstleistungen. Angestellte des öffentlichen Dienstes betonen, dass sie vom vielbeschworenen Wirtschaftsaufschwung nichts bemerken, sondern durch das „pay freeze“ effektiv zwischen 2.000 und 4.000 britische Pfund (2.500 bis 5.000 Euro) weniger verdienen als noch 2010. So bekommt etwa eine Pflegekraft, die 2010 noch 13.189 Pfund im Jahr verdient hat, jetzt zwar 481 Pfund mehr, hat aber wegen der steigenden Lebenshaltungskosten effektiv einen Verlust von 2.000 Pfund. Die Regierung plant dennoch, die Löhne bis 2018 nicht zu erhöhen.

Die Lohnpolitik im öffentlichen Sektor ist nicht von den generellen Einsparungen bei den öffentlichen Dienstleistungen zu trennen, die von der Koalitionsregierung aus Tories und Liberalen vorgenommen wurden. Die konservative Politik wirkt sich besonders negativ auf diejenigen aus, die ohnehin schon sozial schlechter gestellt sind.

Frauen werden von der Sparpolitik im öffentlichen Sektor überdurchschnittlich belastet.

Überdurchschnittlich betroffen von diesen finanziellen Kürzungen sind in vielen Bereichen Frauen. Nicht nur wurden speziell auf Frauen zugeschnittene Leistungen wie die für Frauenhäuser und Rechtsbeihilfe gekürzt. Da das durchschnittliche Einkommen von Frauen zu einem Fünftel aus Sozialleistungen besteht – bei Männern ist es ein Zehntel – sind sie auch vom Abbau der Sozialleistungen überproportional betroffen. Die Stagnation der Löhne der öffentlichen Angestellten wirkt sich ebenfalls in vielen Bereichen stärker auf Frauen aus, vor allem im Niedriglohnsektor. Im staatlichen Gesundheitssystem NHS und lokalen Behörden stellen Frauen 75 Prozent der Angestellten und sind deshalb überproportional von Kürzungen betroffen. 66 Prozent der zwischen 2010 und 2011 abgebauten 130.000 Arbeitsplätze waren von Frauen besetzt.

Das 2010 gegründete „Büro für Budgetverantwortung“, das die staatlichen Haushaltsausgaben analysiert, sagt voraus, dass weitere 500.000 Frauen, die im öffentlichen Dienst angestellt sind, von Personalabbau betroffen sein werden. Während Politiker aller Parteien sich für einen Lohn einsetzen, der zumindest das Existenzminimum sichert, wird übersehen, dass bereits jetzt die Gehälter von rund 450.000 Verwaltungsangestellten in Lokalbehörden, meist Frauen, unterhalb dieser Grenze liegen.

Vor dem 10. Juli hatte der Vorsitzende der Gewerkschaft „Unison“, Dave Prentis, betont, dass der geplante Streik dem Generalstreik von 1926 ähneln werde. Damals hatten rund 1,7 Millionen Arbeiter im Transport- und Industriesektor für zehn Tage die Arbeit niedergelegt. Dementsprechend hohe Erwartungen gab es. Die britische Regierung versuchte den Streik zu delegitimieren. Ein Sprecher des Kabinetts betonte, dass es sich beim Streikaufruf um das unverantwortliche Verhalten einiger weniger Gewerkschaftsführer handele und besonders Schulkinder und hart arbeitende Familien vor solchem Verhalten und den Folgen geschützt werden müssten. Zudem hätten die Gewerkschaften kein ausreichendes Mandat für einen Streik, da die Entscheidung dafür auf Wahlen basiere, die zwei Jahre zurücklägen und nur eine geringe Beteiligung unter den Gewerkschaftsmitgliedern aufwiesen.

Die konservativen Tories unter Premierminister David Cameron kündigten deshalb an, in ihrem nächsten „Konservativen Manifest“ für eine Gesetzesänderung und damit eine Mindestwahlbeteiligung bei einer Urabstimmung zu plädieren. Derzeit können Streiks auf Basis einer einfachen Mehrheit der wählenden Gewerkschaftsmitglieder stattfinden, unabhängig davon, wie hoch die Wahlbeteiligung ist. Der Ruf nach einer gesetzlich erforderlichen Mindestwahlbeteiligung für Streikbeschlüsse wurde zum ersten Mal vor drei Monaten laut, als die Transportarbeitergewerkschaft RMT für einen Tag streikte und es zu Unterbrechungen im öffentlichen Nahverkehr in London kam. Der konservative Bürgermeister der Hauptstadt, Boris Johnson, forderte daraufhin, dass mindestens die Hälfte aller Gewerkschaftsmitglieder sich an einer Wahl beteiligen müssten, damit ein Streik stattfinden darf.

Interessant ist, dass die Labour Party sich nicht eindeutig zum Streik äußerte. Der Parteivorsitzende Ed Miliband betonte, dass niemand diesen Streik wolle und es sich hier einzig um ein Versäumnis der Regierung handele. Dave Prentis kritisierte diese Stellungnahme und forderte die Labour Party dazu auf, sich auf ihre Wurzeln zu besinnen und den Gewerkschaften uneingeschränkte Unterstützung zu gewähren.

Der Streik entpuppte sich auch nicht als die Bedrohung für Schulkinder, als die Tories ihn dargestellt hatten. Nach wochenlangen Ankündigungen einer großen Aktion war der Streik schneller vorbei als die vorangegangenen Diskussionen darüber. Seine Effektivität ist fraglich. Vorherige Proteste konnten weder das „pay freeze“ noch die Verabschiedung des „Public Service Pensions Act“ im vergangenen Jahr, mit dem die Rentenbeiträge für Angestellte und das Renteneintrittsalter erhöht wurden, verhindern.

Einmal mehr zeigt sich daher, dass Ankündigungen großer Streiks von historischer Bedeutung wenig hilfreich sind, wenn damit gerechnet werden muss, dass die Arbeitskämpfe sich im historischen Vergleich als kärglich erweisen. In Zeiten hoher Gewerkschaftsmitgliedschaft gingen beispielsweise im Jahr 1979 insgesamt 29 Millionen Arbeitstage wegen Protesten gegen geringe Löhne und Personalabbau verloren. Im Jahr 2012 betrug die Zahl der durch Streiks und Proteste verlorengegangenen Arbeitstage lediglich 250.000. Zudem dauern heutige Streiks maximal einen Tag, im Unterschied zu den oft langwierigen Arbeitskämpfen der Vergangenheit.

Doerte Letzmann arbeitet als Wissenschaftlerin und Publizistin in England.


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