BELGIEN: Ein schaukelnder Traum aus Sand und Beton

Wer mit der längsten Straßenbahn der Welt entlang der belgischen Küste fährt, sollte sich auf eine Art Achterbahnfahrt durch verschiedenste Landschaften einstellen.

Spiegelbild Belgiens? Strandpromenade an der belgischen Küste.

Es gibt Küsten, die verzaubern. Küsten, die abstoßen oder besessen machen. Manche Küsten schockieren und andere berühren. Eine der kürzesten Küsten, noch keine 70 Kilometer misst sie, schüttelt ihre Besucher durch wie eine Achterbahn und schleudert sie unaufhörlich herum. Was nicht nur an den schmalen Gleisen liegt, sondern auch an dieser raschen Abfolge von Dünentälern und Asphaltgebirgen, von niedlichen Wäldchen und Boutiquenjungle, von Weißwasser und Fressmeilen. Am Ende ist einem ganz blümerant, und alles verschwimmt.

Die Achterbahn ist eigentlich eine Straßenbahn, und zwar eine des doppelten Superlativs: Die kürzeste Küste Europas hat nämlich die längste Straßenbahn der Welt. Von Knokke im Nordosten, kurz hinter der niederländischen Grenze, fährt sie in zweieinhalb Stunden bis nach De Panne im Südwesten, von wo es nur ein Katzensprung bis Frankreich ist. 130 wird sie nächstes Jahr, ein maritimer Dauerbrenner auf Ein-Meter-Schmalspur-Gleisen. Dames en Heren, Mesdames et Messieurs, die „Küstentram“. Zweimal geklingelt, dann geht es los.

Aber was ist das überhaupt für eine Kulisse? Im Zuckeltempo geht es durch Knokke-Heist, eine fleckenlose Sommerfrische. Am Ortsrand ein Stelldichein von Villen, die ausladend neu definieren. Im Zentrum dann herrschaftliche Residenzen, mondäne Läden, erlesene Restaurants, in denen mit Hingabe geschlemmt wird ? schließlich sind wir in Belgien und nicht mehr in den puritanischen Niederlanden. Und über all dem Glas und Marmor des Boulevards erheben sich Spitzdächer aus orangenen Ziegeln, Türmchen und Erker. Elemente wie aus einem Märchenbuch, schwebend über der Szenerie, ein eklektisches Königreich an der trüben Nordsee.

Wer sich nun auf sanftes Schaukeln entlang einer opulenten Küste einstellt, sollte sich gut festhalten, denn unvermittelt findet man sich in einem Industriegebiet wieder. Nächste Station Zeebrugge, Container, so weit das Auge reicht, und darüber schießen die blauen Arme der Kräne in den Himmel. Tief schneiden Hafenbecken ins Land ein, überquert von monströsen Zugbrücken. Dann Blankenberge, ein Knokke des kleinen Mannes, eine zehnstöckige Wand aus Appartementkomplexen, nur ohne Glamour. Sie endet erst in den Dünen von Wenduine, sanft gewellt, grün bewachsen, die Büsche tragen rosa Blüten. Man kann viel sagen über diese Küste, aber nicht, dass sie eintönig sei.

Elemente wie aus einem Märchenbuch, schwebend über der Szenerie, ein eklektisches Königreich an der trüben Nordsee.

Der Ort, der einzige hier, der Beton und Dünen entkoppelt hat, heißt Bredene. Was daran liegt, dass dazwischen Straße und Schienen verlaufen. Es gibt hier den einzigen Nacktstrand Belgiens und ein Labyrinth aus Campingplätzen mit Holzhütten, eine wie die andere, Urlaub hinterm Jägerzaun. Was nicht heißt, hier ließen sich keine Perlen finden. Hinter den hohen Dünen ist Ebbe, Mondlicht spiegelt sich in den Wasserlachen, drüben funkelt schon das Nachtleben von Oostende, und weit draußen im Nordosten blinkt es rot, wie eine versunkene Stadt. Dabei ist es nur der Windpark auf der Thornton-Sandbank. An Land, in den Zelten, gehen die Lichter aus. Wer jetzt noch Hunger hat, muss zur Frittenbude.

Am nächsten Morgen sieht man aus dem Tramfenster eine andere Kulisse: Eine urbane Skyline, die sich bei der Anfahrt auf Oostende entfaltet. Früher, zu Belle Epoque-Zeiten, galt die Stadt als „Königin der Seebäder“. Später verfiel sie. Heute spricht man neutraler von der Stad aan Zee, die aktuell eine Botoxkur bekommt. Skulpturen säumen die Promenade, das Ausgehviertel wird aufgewertet, vom schmuddeligen Charme kündet bald nur noch der Jazzclub Lafayette, in dem einst Marvin Gaye gerne gesehen wurde.

Für die Küstentram bedeutet Oostende Halbzeit. Ein paar Minuten Pause, bevor es auf dem südlichen Abschnitt weitergeht. Der Fahrer wird ausgetauscht, auf dem Bock in der engen Kabine sitzt jetzt Jan Gansemans, 47, geboren, aufgewachsen und für immer verwachsen mit Oostende. Er trägt ein kurzes weißes Diensthemd und graue Shorts, die legere Sommer-Uniform. „Dies ist meine 24. Saison in der Küstentram“, erklärt er, während eine Schulklasse auf Ausflug lachend ihre Plätze einnimmt. Träumt er da nicht schon von dieser Bahn? Das nicht. „Aber es ist ein Traumjob. Ich bin unterwegs, draußen, ich sehe, wie sich die Jahreszeiten verändern.“

Am Ende der Häuserschluchten des Zentrums stößt die Bahn ans Meer vor. Für Jan Gansemans ein besonderer Moment, auch nach einem Vierteljahrhundert in der Kabine. „Dies ist meine Lieblingsstrecke. Nirgendwo anders kann man mit der Bahn so nah am Strand vorbeifahren.“ Tatsächlich trennt nur ein Weg die Schienen vom Sand. Darüber bewegen sich wie in einer Endlosschleife Fahrradfahrer und Longboarder. Der Strand ist leer und schmal, es ist Flut. Fast meint man das Weißwasser der Uferwellen greifen zu können. Sand liegt hier auf den Schienen, und hinter der Tram spritzt er manchmal auf.

Linkerhand hat sich derweil eine Bande Nazis in den Dünen zusammengerottet. Sie suchen den Himmel und das Meer ab, beziehen Position hinter fahrbaren Kanonen, putzen Pistolen und setzen Gewehre zusammen. Natürlich sind es nur Puppen, lebensgroße Nachbildungen von Wehrmachtsoldaten, die im Museum Domein Raversijde hinter Glasscheiben und Stahltüren stehen. Zwischen den Räumen ziehen sich schmale Verbindungs- Stollen durch die dicht bewachsenen Dünen. Ein Grusel in der Juli-Sonne. Wo heute die Urlauber flanieren, verlief einst ein Teil des Atlantikwalls.

Wenn heute an dieser Küste vom Atlantikwall die Rede ist, meint man damit nicht selten ihre bemerkenswerten Beton-Corniches. In Middelkerke endet die Lieblingsstrecke des Fahrers mit einem epischen Appartement-Block, der allein an der Seeseite 360 Balkone zählt. Jan Gansemans hat es erlebt, wie die Dünen, inzwischen gesetzlich vor weiterer Bebauung geschützt, in den 1970er und 1980er Jahren konsequent zubetoniert wurden. „Normalsterbliche können sich das gar nicht leisten“, kommentiert er den Boom der Ferienwohnungen. „Natürlich sind es schöne Appartements, aber ich sehe lieber Dünen.“

Der nächste Kulturschock heißt Lombardsijde. Ein Ort, wie aus der Zeit gefallen. Hochbau? Nicht hier. „Diese Haltestelle heißt Bad“, grinst der Fahrer vielsagend, und deutet in die Felder vor dem Dorf. „Aber wo ist hier das Bad?? Stattdessen braungraue Klinkerfassaden, eine Frittenbude markiert das Zentrum und heißt auch genau so. Lombardsijde ist Belgien wie aus einem Roman von Dimitri Verhulst. Besonders ist nur das Denkmal für Freddy Maertens, den Rad-Weltmeister, der von hier stammt.

Dessen Bruder wiederum ist ebenfalls Fahrer der Küstentram und ein Freund von Jan Gansemans. Für den Lombardsijde volle Konzentration bedeutet – weil die Zufahrten zu den Häusern hier unbeschrankt über die Gleise verlaufen. Weil seine Tram, als sie eine Bar namens „Die Wiedergeburt“ passierte, mit Biergläsern beworfen wurde. Und weil dort bisweilen die Kundschaft heraustritt und direkt auf den Gleisen umkippt. Die Verkehrsgesellschaft, die die Küstentram betreibt, erwägt, die zwei Haltestellen in Lombardsijde zu streichen.

Wer mit dieser Küste aufwächst, stört sich nicht daran, dass Ausländer sie manchmal „bizarr“ nennen. Joachim Vanoirbeek etwa, ein 19jähriger Student aus Louvain-la-Neuve, der schon mit den Pfadfindern immer hierher kam. Heute ist er unterwegs nach Koksijde, einem der südlichen Badeorte, wo Verwandte seiner Freundin eine Wohnung haben. „Mit den Hochhäusern habe ich kein Problem“, sagt er. Man kennt das hier: Wer von seinem Balkon aus auf die Nordsee schaut, vergisst die Außenansicht seines Wohnblocks. „Es ist kein Brasilien, klar“, meint Joachim Vanoirbeek. „Es ist Belgien, aber ich mag es.“ Holidays in Realpolitik.

De Panne. Der letzte Ort, fast in Frankreich. Eltern mit Kinderwagen bringen sich vor den Türen in Position. Es lockt der Vergnügungspark Plopsaland, der seine eigene Haltestelle hat. All die -ende und -kerke der Ortsnamen verschwimmen allmählich, der stetige Wechsel von Sand und Beton macht benommen. Ein letztes Mal erheben sich hinter einer Kurve Appartements aus den Dünen, im flimmernden Gegenlicht könnte man sie für eine Fata Morgana halten. Jan Gansemans schließt die Türen. Zweimal Klingeln, dann macht er sich auf den Rückweg.

Drüben am Strand, den man als den breitesten des Landes rühmt, kommt soeben eine Großfamilie aus Lille an, bepackt mit Taschen, nur für einen Tag. „Wegen des schönen Sandes“, sagt die Mutter, „der ist hier besser als in Bray-Dunes, dem ersten Dorf hinter der Grenze“. Ohnehin hört man in La Panne, wie das Städtchen auch heißt, oft französisch auf der Straße, sieht à louer-Schilder und findet Geschäfte mit Namen wie Au C?ur du Chocolat. Das frankophone Belgien verbringt hier gerne die Ferien. Viele Menschen pendeln auch zum Arbeiten aus Nordfrankreich hierher.

Jede einzelne Fläche dieser Choreografie erscheint in Reih und Glied, und doch läuft alles wild durcheinander, penibel und anarchisch zugleich.

Dem Mittagspublikum bietet sich vor den Restaurants und Snackbars an der Promenade eine groteske Szenerie dar. Ambitionierter als in De Panne kann ein Strand nicht in Parzellen zerteilt werden, und jedes dieser Areale hat eine anders gemusterte Optik. Auf eine Reihe grellweißer Holzhütten folgen rot-weiße Liegen, jeweils zwei in einem von weißem Tuch abgegrenzten Separée. Ein quadratisches Feld gelb-weiß-gestreifter Sonnenschirme wird von Strandkarren in Rot und Gelb begrenzt, dahinter wieder eine Zone mit orange-weiß bezogenen Sonnenstühlen.

Jede einzelne Fläche dieser Choreografie erscheint in Reih und Glied, und doch läuft alles wild durcheinander, penibel und anarchisch zugleich. Wie im Sand, so an der Promenade, wo die rechtwinklige Balkonfront hier und da durch ein schmales, altes Haus mit Türmchen-Aufbau unterbrochen wird, das sich aus einer anderen Zeit hierher verirrt hat. Und dann begreift man, dass dies ein Spiegelbild Belgiens ist, dem nördlichsten Land Südeuropas, das den Stilbruch kultiviert und zur Kunstform erklärt hat. Keine Frage: Wäre der Strand doppelt so breit, man fände auch dafür noch ein paar gemusterte Ausdrucksformen.


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