FÜRSORGE: Ziemlich beste Freunde

Können Freundschaften die Familie und professionelle Dienstleister ersetzen, wenn dauerhaft Hilfe anderer benötigt wird? Das Fazit einer Studie des Soziologen Janosch Tobin fällt ernüchternd aus.

Gesellschaftliche Prägung macht hier nicht halt: Auch Freundschaften basieren häufig unbewusst auf dem Äquivalenzprinzip.

Auf den literarischen Bestsellerlisten finden sich immer häufiger Bücher, in denen Krankengeschichten und Pflegeerfahrungen erzählt werden. Zumeist schreiben die Autorinnen und Autoren über verwandtschaftliche Nahbeziehungen, den demenzkranken Vater oder die früh verstorbene Tochter. Allein in postum veröffentlichten autobiographischen Aufzeichnungen wird zunehmend auch die Bedeutung der Unterstützung durch Freundinnen und Freunde hervorgehoben. Die Darstellung freundschaftlicher Fürsorge bleibt vor allem den Film- und Fernsehproduktionen vorbehalten, als ließe sich diese Wunschvorstellung nur in der Traumwelt des Kinos verwirklichen.

Für Janosch Schobin, Soziologe am Hamburger Institut für Sozialforschung, bezeugen die Produktionen des Kulturbetriebs, wie Freundschaft allmählich zum „Fluchtpunkt sozialer Hoffnungen“ avanciert. In seiner Studie „Freundschaft und Fürsorge. Bericht über eine Sozialform im Wandel“ beschreibt er die Veränderungen im öffentlichen Freundschaftsdiskurs als Folge der demographischen Entwicklung. Angesichts sinkender Geburtenzahlen und steigender Scheidungsraten würden die Verwandtschaftssysteme zwangsläufig kleiner. Für alleinstehende Einzelkinder ohne direkte, familiale Bezugspersonen bildeten freundschaftliche Fürsorgebeziehungen die einzige Alternative zu privatwirtschaftlich oder sozialstaatlich organisierter Pflege.

Andererseits konstatiert Schobin, dass in der deutschen Sozialgesetzgebung bereits 2005 mit der Einführung der „Bedarfsgemeinschaft“ eine rechtliche Institution geschaffen wurde, die von einer Person Unterstützungsleistung verlangt, wenn sie „mit dem erwerbsfähigen Hilfebedürftigen in einem gemeinsamen Haushalt so zusammenlebt, dass nach verständiger Würdigung der wechselseitige Wille anzunehmen ist, Verantwortung füreinander zu tragen und füreinander einzustehen.“ Faktisch ist die Freundschaft als fürsorgliche Lebensform somit nicht mehr nur eine privat gehegte Wunschvorstellung, sondern ein öffentlich propagiertes Ideal mit rechtlicher Verpflichtung. Ob und inwiefern dieser diskursiven und rechtlichen Aufwertung der Freundschaft eine tatsächliche Veränderung in der freundschaftlichen Praxis entspricht, ist Gegenstand von Schobins Untersuchung.

Dabei muss sich der Autor zunächst mit der Schwierigkeit befassen, dass die von ihm in Relation gesetzten Phänomene der Freundschaft und der Fürsorge gleichermaßen schwer zu bestimmen sind. Die Sozialform der Freundschaft lässt sich nur unscharf von anderen Formen des Miteinanders abgrenzen, außerdem stellt sich das methodische Problem, dass der Sozialforscher als Außenstehender durch seine Präsenz jedes freundschaftliche Miteinander stört und damit die soziale Tatsache, der seine Beobachtung gilt, auflöst. Schobin behilft sich mit einem Untersuchungsprogramm, das sozialstatistisches Material, Ratgeberliteratur, qualifizierte Interviews und hermeneutische Interpretationen gegeneinander abzuwägen sucht.

Augenfällig, so der Autor, sei eine zunehmende Verweiblichung des Freundschaftsideals. Wurde bis Anfang der 1990er Jahre die Männerfreundschaft als Weg zu Erfolg und Einfluss gepriesen, so würden Freundschaftsregeln heute „kontextsensitiv und beziehungszentriert – also fürsorgeethisch – und nicht mehr instrumentell und universell – also zweck- oder wertrational – begründet.“ Der Zusammenhang von Feminisierung und Verfürsorglichung des Freundschaftsideals wird von Schobin nur benannt, aber nicht reflektiert.

Ein Blick in das Literaturverzeichnis verrät, dass der Autor die nunmehr drei Jahrzehnte umfassende feministische Diskussion zur Fürsorge nur sehr begrenzt und oberflächlich zur Kenntnis genommen hat. In Anlehnung an Martin Heidegger will Schobin Fürsorge vollzugslogisch verstanden wissen, als Tätigkeit, die unternommen wird, um die psychophysischen Bedürfnisse eines anderen zu befriedigen. Aus dieser Bestimmung leitet sich die für seine Analyse entscheidende Frage ab, wann fürsorgliche Vollzüge eine Freundschaft stabilisieren oder zu sehr belasten. Zum Prüfstein für die fürsorgliche Freundschaft erwählt er vier Praktiken: die finanzielle Zuwendung, die tätige Hilfe, die Sorge um den Leib und das Gespräch.

Hätte der Autor die Diskussionen der feministischen Theorie zum Thema Care berücksichtigt, wären auch gesellschaftsverändernde Potenziale deutlich geworden.

„Bei Geld hört die Freundschaft auf“, heißt die volkstümliche Warnung, die auch von den Ratgebern ausgegeben wird. Tatsächlich ist die finanzielle Unterstützung unter Freunden eher selten, weniger weil es an den Möglichkeiten fehlt oder die Unzuverlässigkeit des Ausleihers befürchtet wird. In den Interviews wird vielmehr deutlich, dass die Geldnehmer selbst nicht in Abhängigkeit geraten wollen, dass sie die Unterstützung als Entwürdigung und damit als unerträgliche Belastung für die Freundschaft erfahren.

Auch bezüglich der zweiten, von Schobin untersuchten Praktik bewahrheitet sich die Volksweisheit „Freunde in der Not gehen tausend auf ein Lot“. Tätige Hilfe wird nur solange problemlos gewährt, wie die Reziprozitätserwartungen erfüllt werden können. Wenn keine Gegenleistung erfolgt, die Hilfe langfristig oder dauerhaft einseitig nachgefragt wird, erweist sich die Belastung für viele Freundschaften als zu groß. Die Sorge um den Leib gilt allein dem gesunden Körper, der durch gemeinsame Aktivitäten fit und attraktiv gehalten wird. Der pflegebedürftige Leib kommt dagegen in den Freundschaftsratgebern nicht vor, er wird professionellen Dienstleistern oder den Familienangehörigen überantwortet. Die Interviewpartner versuchen diesem Thema auszuweichen, dennoch wird deutlich, dass ihre freundschaftlichen Beziehungen nicht auf ein auf Dauer gestelltes asymmetrisches Verhältnis ausgerichtet sind.

Schonungslos legt Schobins Analyse offen, dass Fürsorgebedürfnisse, die das Selbstverständnis des bürgerlichen Subjekts, seinen Anspruch auf Autonomie, Reziprozität und Symmetrie in Frage stellen, freundschaftliche Beziehungen bis zur Unerträglichkeit belasten. Zwar erscheint Freundschaft als eine Sozialform, in der die Ansprüche gelockert und Formen relationaler Subjektivität erprobt werden können. Schobins Studie zeigt aber auch, dass diese Erwartung am ehesten im Gespräch eingelöst wird: „Im Gespräch realisiert sich Freundschaft als eine der letzten sittlichen Institutionen, die es uns erlaubt, dem Anderen nicht nur als Mittel zu einem Zweck, sondern als einem Ziel in sich selbst zu begegnen.“ Entlastung von den bürgerlichen Ansprüchen an die Subjekte erfolgt demnach nur in einem zeitlich begrenzten, situativ beschränkten Kontext. Freundschaft erweist sich als besonderer „Spielraum“, in dem sich soziale Freiheit erfahren lässt, nicht als tragfähiges Modell, um soziale Freiheit allgemein zu verwirklichen.

Schobins jüngere Interviewpartner erleben ihre Freundschaftsbeziehungen tatsächlich nur noch als partielle und temporäre Enklaven gegenüber den beruflichen und familiären Verpflichtungen. Besondere Bedeutung misst der Autor deshalb seinen älteren Gesprächspartnern zu, die der Generation der „68er“ angehören. Das Label „68“ will Schobin nur als Kennzeichnung einer spezifischen Generationenerfahrung verstanden wissen, insofern er glaubt unterstellen zu dürfen, man könne nicht zwischen 1940 und 1950 geboren worden sein, „ohne der Zumutung ausgesetzt gewesen zu sein, dass es neben der Kleinfamilie und der Einehe andere Möglichkeiten gibt, Partnerschaft, Freundschaften, Sex und Liebe zu verbinden und zu leben“.

Die Interviews zeigen jedoch deutlich, dass sich aus der mutmaßlichen Erfahrung emanzipatorischer Sozialformen keine tragfähigen fürsorglichen Beziehungen jenseits der bürgerlichen Vorgaben entwickelt haben. Fürsorge, die die Grenzen eines auf Kompatibilität und Reziprozität basierenden Arrangements übersteigt, erfolgt auch in dieser Generation innerhalb der eigenen, wie auch immer erweiterten Familienbande und aufgrund der finanziellen Möglichkeiten, die Angehörige dieser Geburtsjahrgänge vielfach noch haben, im Rückgriff auf bezahlte Pflege. Insbesondere die männlichen Befragten halten am Prinzip bürgerlicher Selbstkonstitution fest: Sollten ihre Autonomie nicht mehr garantiert sein, phantasieren sie einen einsamen Suizid als ästhetische Vollendung ihres Lebens. Selbstbestimmung schlägt um in die Hybris des Selbst. Das Subjekt imaginiert sich als unabhängig von allen Relationen – auch und gerade von den Freundschaften.

Schobins Fazit fällt dementsprechend ernüchternd aus: Im Spannungsfeld von demographischem Wandel und wohlfahrtsstaatlichen Einsparungen erweist sich die freundschaftliche Fürsorge keinesfalls als tragfähige Sozialform. Wer sich durch die soziologische Analyse durcharbeitet, deren Lektüre durch lange methodische Zwischenbetrachtungen des Autors gelegentlich sehr sperrig wird, bekommt die Grenzen aufgezeigt, an die Freundschaft und Fürsorge innerhalb der gegenwärtigen gesellschaftlichen Verhältnisse stoßen. Hätte der Autor die aktuellen Diskussionen der feministischen und politischen Theorie zum Thema Care berücksichtigt, wären dagegen auch die gesellschaftsverändernden Potenziale deutlich geworden, die Freundschaft und Fürsorge zu entfalten vermögen. Freundschaftliche Fürsorgebeziehungen verstehen sich dann freilich nicht als gesellschaftskonforme Alternative, sondern als kritisch-widerständige Sozialform.

Janosch Schobin – Freundschaft und Fürsorge. Bericht über eine Sozialform im Wandel. Hamburger Edition, 264 Seiten.


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