SPANIEN: Freiheit muss warten

Das geplante Unabhängigkeitsreferendum in Katalonien wird nicht stattfinden. Die Illusion, mit der Unabhängigkeit würde auch die Freiheit kommen, wird aber fortbestehen.

Forderungen katalonischer Nationalisten stoßen auch bei ihm auf taube Ohren: „Man wird nicht einfach EU-Mitglied, indem man einen Brief schickt“, so Kommissionspräsident Jean-Claude Juncker über Zukunftsperspektiven eines unabhängigen Katalonien.

„Wir werden frei sein“. Dieser, in riesigen Buchstaben während der letzten Massendemonstration für die Unabhängigkeit Kataloniens hochgehaltene Spruch, drückte noch Hoffnung aus. Zwei Millionen Menschen waren am 11. September, dem katalanischen Nationalfeiertag, für die Abspaltung der Region vom spanischen Zentralstaat auf die Straße gegangen. Es war eine Woche vor dem schottischen Unabhängigkeitsreferendum und auch die Katalanen hatten bereits ein Datum für die historische Abstimmung angesetzt: den 9. November. Mittlerweile haben sich die Schotten gegen die Unabhängigkeit entschieden, und in Katalonien wird diese Woche kein Referendum, sondern nur eine unverbindliche Meinungsumfrage stattfinden. Wenn überhaupt.

Bis zuletzt weigerte sich die von der rechtskonservativen Volkspartei PP gebildete spanische Regierung beharrlich, auch nur mit den Katalanen zu reden. Stattdessen ließ sie in regelmäßigen Abständen mit trockener Arroganz verkünden, dass es schlichtweg kein Referendum geben wird, da es illegal sei. Unterstützung holte sie sich dabei vom spanischen Verfassungsgericht, das zuletzt im September ein Dekret des katalanischen Regierungschefs Artur Mas zur Vorbereitung der Abstimmung für nichtig erklärte.

Auf Antrag der Zentralregierung wurde nun diese Woche auch die geplante Meinungsumfrage vom obersten Gericht suspendiert. Die katalanischen Separatisten, die in den letzten Jahren eine enorme Mobilisierung auf die Beine gestellt haben, wollen sich das jedoch nicht gefallen lassen und halten an der Umfrage fest. Bereits nach dem ersten Verbot hatte der Vorsitzende der linksnationalistischen Esquerra Republicana de Catalunya (ERC), Oriol Junqueras, betont, dass die Katalanen unter keinen Umständen „ihren Durst nach Gerechtigkeit und ihren Hunger nach Freiheit“ der Zentralregierung oder spanischen Richtern unterwerfen werden. Die Fronten sind so verhärtet wie schon lange nicht mehr und die Situation wird dem katalanischen Nationalismus weiteren Auftrieb geben.

Seit sich die schwere wirtschaftliche Krise Spaniens auch zu einer politischen entwickelt hat, ist die Zustimmung der katalanischen Bevölkerung zur Forderung nach Unabhängigkeit stark angestiegen. Lag die Anzahl der Unterstützer eines unabhängigen Kataloniens im Jahr 2010 noch im Schnitt bei zwanzig Prozent, stehen in aktuellen Umfragen knapp fünfzig Prozent hinter der Forderung.

Insbesondere das konservative katalanische Spektrum, das seinen moderaten Nationalismus die meiste Zeit in einem staatstragenden Rahmen ausgelebt hatte, wandte sich in den letzten Jahren dem Separatismus zu. Bei den Regionalwahlen 2012 hatte sich die konservative Convergència i Unió (CiU) erstmals offensiv für einen unabhängigen Staat eingesetzt und die Wählerschaft aufgefordert, nicht nach Inhalten, sondern nach ihrem „nationalistischen Gefühl“ abzustimmen. Die ERC wurde damals zweitstärkste Kraft im Regionalparlament, so dass dort nun die Separatisten die Mehrheit stellten. Bereits kurz nach den Wahlen verabschiedeten diese dann eine gemeinsame Resolution, in der für 2014 ein Referendum über die Unabhängigkeit angekündigt wurde.

Im Kern geht es um die Verteidigung des eigenen regionalen Standortvorteils gegenüber den ökonomisch schwächeren Zentralstaaten.

Ein weiterer Grund für die zunehmende Unterstützung nationalistischer Forderungen ist der verletzte Nationalstolz vieler Katalanen, denen der spanische Staat im Jahr 2010 verboten hatte, sich in ihrer erneuerten Regionalverfassung als „Nation“ zu bezeichnen. Als das Oberste Gericht diese Formulierung aufgrund der Festschreibung der Unteilbarkeit der Nation in der spanischen Verfassung ablehnte, gingen Hunderttausende wütend auf die Straßen.

Dass es aufgrund der Sturheit der spanischen Regierung nun doch nicht zu einem Referendum kommt, dürfte manchen gar nicht ungelegen kommen. Zum einen ist die Arroganz, mit der Regierungschef Mariano Rajoy jeglichen Dialog verweigerte, äußerst dienlich für das katalanisch-nationalistische Selbstbild als widerspenstiges Volk. Im Laufe des Streits um das Referendum hat die linksnationalistische ERC nochmals deutlich an Unterstützung gewonnen und ist laut Umfragen mittlerweile die stärkste Kraft in der Region.

Zum anderen hat die Verweigerungshaltung Spaniens die katalanische Regierung vor einem enormen Dilemma bewahrt, in das sie nach einem erfolgreichen Referendum geraten wäre. Denn logistisch wie finanziell ist eine Unabhängigkeit Kataloniens de facto unmöglich, solange sich Spanien und insbesondere die EU quer stellen. Die Europäische Kommission hat keinen Zweifel daran gelassen, dass Katalonien bei einer Loslösung vom spanischen Staat auch aus der EU fliegen würde. „Man wird nicht einfach EU-Mitglied, indem man einen Brief schickt“, so die schnippische Antwort des Kommissionspräsidenten Jean-Claude Juncker im Juli auf die Frage, wie er zu dem geforderten Referendum stehe. Die Unabhängigkeit würde die Region also vor eine kaum zu bewältige Aufgabe stellen. Einer von der katalanischen Regionalregierung eigens in Auftrag gegebenen Studie zufolge würde die Eigenständigkeit anfangs fünf Milliarden Euro monatlich kosten.

Aber um solche konkreten Fragen geht es in der nationalistische Debatte wenig. Die Argumentation der Unabhängigkeitsbewegung basiert in erster Linie auf der altbekannten, durchaus erfolgreichen, nationalistischen Strategie, stets die Anderen für all das Übel verantwortlich zu machen. „Spanien plündert uns aus“, lautet einer der Slogans der ERC in der aktuellen Kampagne. Zwar stimmt es, dass Katalonien durch den Wegfall des viel kritisierten Finanzausgleichs mit dem Zentralstaat ein Vielfaches an öffentlichen Geldern zur Verfügung hätte. Aber dass die Region mit dem Austritt aus Spanien auch die Krise und die Korruption hinter sich lassen würde, ist eher unwahrscheinlich. Denn ein unabhängiger katalanischer Staat wäre ebenso den Zwängen des Kapitals unterworfen, die von einer ebenso korrupten, nur eben dann katalanischen Elite auf dem Rücken der Bevölkerung umgesetzt werden würden. Dies hat jüngst das Beispiel Jordi Pujol gezeigt. Pujol war 23 Jahre lang für die CiU Regierungschef Kataloniens und gilt als einer der bekanntesten Fürsprecher der katalanischen Unabhängigkeit. Im Sommer war herausgekommen, dass er mehrere Millionen Euro Schwarzgeld auf ausländischen Konten gebunkert hat.

Worum geht es aber nun konkret in den Diskussionen um Unabhängigkeit, die ja auch zuletzt in Schottland hohe Wellen geschlagen hat? Sowohl die schottischen als auch die katalanischen Nationalisten sehen sich als „Nation ohne Staat“, wobei sie sich in der Legitimation ihrer Unabhängigkeitsforderungen durchaus unterscheiden. Das schottische Weißbuch, ein von der Regionalregierung herausgegebener 670 Seiten starker Wälzer, der den Weg zur Unabhängigkeit aufzeigen sollte, ist von Pragmatismus geprägt und liest sich in weiten Teilen wie ein sozialdemokratisches Wahlprogramm. Man will die britischen Atom-U-Boote von der schottischen Küste entfernen, Privatisierungen stoppen und die Mehreinnahmen in das Bildungs- und Gesundheitssystem investieren. Im katalanischen Nationalismus, obwohl traditionell eher links geprägt, klingt das ganz anders. Ziel der Unabhängigkeit, so die strömungsübergreifende Katalanische Nationalversammlung (ANC), die für die alljährlichen Massendemonstrationen verantwortlich zeichnet, sei „die volle Anerkennung der katalanischen Sprache und Kultur zu erlangen“ und „die Würde als Volk wiederzugewinnen“. Zudem ist viel von „Freiheit“, „Selbstbestimmung“ und dem „Recht, zu entscheiden“ die Rede.

Wie auch immer der Nationalismus inhaltlich gefüllt wird, im Kern geht es um die Verteidigung des eigenen regionalen Standortvorteils gegenüber den ökonomisch schwächeren Zentralstaaten. Denn entgegen des von ihnen verbreiteten Mythos als unterdrückte Völker, die schon seit Jahrhunderten vom Zentralstaat ausgeplündert werden, sind die schottische und katalanische Region wirtschaftlich deutlich besser gestellt als das Zentrum. Die Schotten spekulierten auf den exklusiven Zugriff auf das vor ihrer Küste gelagerte Öl und in Katalonien ist die Unabhängigkeit mit der Hoffnung verbunden, durch eine Abtrennung vom spanischen Krisenstaat nicht noch weiter mit in den Sog von Rezession und Armut gezogen zu werden.

Katalonien ist die reichste Region Spaniens, sie trägt zwanzig Prozent zum Bruttoinlandsprodukt bei, ein Drittel aller spanischen Exportgüter werden dort produziert. Spanien, dessen Wirtschaft stark von den Exporten abhängig ist, wäre daher um einiges schlechter dran ohne die produktive Region im Nordosten. Hieraus resultiert auch die Heftigkeit des aktuellen Streits zwischen katalanischer Peripherie und spanischem Zentrum.

Die Legitimation für ihren Wettbewerbsregionalismus ziehen die nationalistischen Bewegungen jedoch aus einer behaupteten ethnischen Differenz, nationalen Mythen und einem vorgeblich kollektiven Schicksal, woraus sie das Recht auf einen eigenen Staat ableiten. Und sie sind keineswegs alleine. Im europäischen Parlament gibt es mit der European Free Alliance (EFA) eine eigene Koalition der „Nationen ohne Staaten“, die mit den europäischen Grünen eine Koalition bildet und sich für ein „Europa der Völker“ einsetzt. Unter Berufung auf das ethnisch (miss)verstandene „Recht auf Selbstbestimmung“ wird dies als demokratische Forderung dargestellt. Auch wenn sie für sich in Anspruch nehmen, für Demokratie und Freiheit zu kämpfen, sind sie in erster Linie ethnonationalistische Bewegungen. Letztendlich besteht deren Forderung nach Unabhängigkeit nur darin, sich ohne „fremde“ Einflüsse am globalen Wettbewerb zu beteiligen und ihre Nation, und damit auch sich selbst, zum global player in der Weltmarktkonkurrenz zu erheben.

Thorsten Mense arbeitet als Soziologe und freier Journalist. Für die woxx berichtet er vor allem aus Spanien.


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