RUSSLAND: Schüsse, die getroffen haben

Nach dem Mord an dem russischen Oppositionspolitiker Boris Nemzow wird dieser von seinen Kontrahenten wahlweise diffamiert oder zum „Patrioten“ erhoben. Wieder einmal ertönt das Geraune von einer amerikanischen Verschwörung. Putins Machtgefüge bleibt unbehelligt.

Trauermarsch in Moskau: 50.000 Menschen versammelten sich an dem Ort, an dem Boris Nemzow ermordet wurde.

Am Morgen des 27. Februar sorgte der russische Präsident Wladimir Putin mit seiner Unterschrift dafür, dass dieser Tag von nun an als Feiertag der Sondereinsatzkräfte gilt. Eine halbe Stunde vor Mitternacht erhielt dieser Tag eine weitere, nicht rein symbolische Bedeutung. Auf einer Brücke über den Fluss Moskwa, gerade mal 50 Meter von der Kremlmauer entfernt, erschoss ein Unbekannter hinterrücks den Oppositionspolitiker Boris Nemzow. Von sechs Kugeln trafen vier ihr Ziel, eine davon direkt ins Herz. Noch gibt es keine konkreten Hinweise auf den Täter, aber sowohl der Zeitpunkt als auch der Ort des Geschehens legen es nahe, Nemzows Tod in die Liste der zahlreichen politischen Morde einzureihen, an denen es Russland ebenso wenig mangelt wie an Feiertagen für bestimmte Berufsgruppen.

Nemzows politischer Erfolg begann in der Jelzin-Ära. Als Vertrauter des ersten russischen Präsidenten schaffte er als erster Gouverneur von Nizhnij Nowgorod mit knapp 32 Jahren den Sprung ins politische Establishment. 1997 wechselte der studierte Physiker in die Regierung nach Moskau. Nach dem Staatsbankrott von 1998 setzte der eingefleischte Wirtschaftsliberale zusammen mit anderen Privatisierern der ersten Stunde wie Anatolij Tschubajs und Jegor Gajdar seine Karriere in der Opposition fort. Zunächst in der „Union der rechten Kräfte“, später, als die Spielräume für mit dem Kreml nicht mehr konform gehende politische Kräfte zusehends enger wurden, blieb nur noch die Betätigung in der außerparlamentarischen Opposition, in der er sich als erbitterter Putin-Kritiker hervortat.

Immerhin reichte es 2013 bei den Wahlen zum Gebietsparlament von Jaroslawl für ein Mandat, das Nemzow als einer der Vorsitzenden seiner Partei RPR-Parnas für diverse Enthüllungen über Korruption im lokalen Machtapparat nutzte. Die „orangene Revolution“ 2004 in der Ukraine fand seine volle Unterstützung, zeitweise fungierte er sogar als Berater des damaligen ukrainischen Präsidenten Wiktor Juschtschenko. Aber auch das Business kam bei Nemzow nie zu kurz.

Existierten in Russland auch nur halbwegs demokratische Verhältnisse, hätte Nemzow als Politiker wohl gute Chancen gehabt. Nicht nur den Part des allzeit streitlustigen, vorzeigbaren Sunny-Boys beherrschte er hervorragend, er verfügte durch seine langjährige Tätigkeit im Machtapparat bis zu seiner Ermordung auch über viele nützliche Kontakte. Als Vertreter seiner Politikergeneration stand er jedoch nicht nur für das, was in der liberalen Opposition gerne als demokratischer Aufbruch geschildert wird, sondern auch für den Ausverkauf eines riesigen Landes, den seine politischen Kontrahenten unter anderen Vorzeichen weiter betreiben.

Aleksej Nawalnyj, der gerade eine 15-tägige Haftstrafe absitzt, mag in manchen Augen Nemzow als beliebtesten Oppositionspolitiker eingeholt haben, Nemzows wertvolle praktische Erfahrung im Apparat kann er nicht aufweisen. In der Tatnacht fanden sich nur wenige von Nemzows Anhängern auf der Brücke am Kreml ein, geschockt von dem kaltblütig und direkt vor der Machtzentrale verübten Mord, verwundert darüber, warum es ausgerechnet ihn traf. Zugleich aber mit der Gewissheit, dass die Gründe dafür hinter den bekannten roten Mauern zu suchen sind.

Bereits zwei Stunden nach der Tat gab Wladimir Putin die Linie vor, wie der Mord an Nemzow zu bewerten sei: als Auftragstat mit einem außerordentlichen Provokationscharakter. Erläuterungen lieferten andere, aber sie wissen seither genau Bescheid, wie der Fall zu interpretieren ist. In der kremlnahen Tageszeitung „Iswestija“ ließ sich der Publizist Dmitrij Olschanskij darüber aus, dass Nemzows Mörder nur eines im Visier gehabt hätten: die russische Gesellschaft zu destabilisieren, und das ausgerechnet zu einem Zeitpunkt, als dank der Anstrengungen Russlands endlich mit der Umsetzung einer Friedenslösung in der Ukraine begonnen worden sei. Einziger Profiteur des Mordes sei die Opposition. Sergej Schelesnjak, stellvertretender Parlamentssprecher in der Duma von der Partei „Einiges Russland“, sprach von einem „sakralen Opfer“, das die Opposition nun aktiv zur Mobilisierung ihrer Klientel ausbeute.

Als Vertreter seiner Politikergeneration stand Nemzow nicht nur für demokratischen Aufbruch, sondern auch für den Ausverkauf Russlands.

Der Hauspolitologe des Kreml, Sergej Markow, beließ es indes nicht bei der beliebten und auch jetzt wieder angewandten Formel von der Allgegenwart des amerikanischen Geheimdiensts. Vielmehr stehe der ukrainische Geheimdienst SBU hinter der Tat. Zugleich hatten Nemzows Opponenten überraschend warme Worte für den „Patrioten Russlands“ übrig, wie er sie zu Lebzeiten kaum vernommen hatte. Selbst die russische Medienmaschinerie dämmte ihre gnadenlose Flut diffamierender Beiträge etwas ein. So entschied sich der Kanal NTW gegen die Ausstrahlung der für Samstag vorgesehenen Sendung „Anatomie des Protestes 3“, in der neue Enthüllungen über Nemzow und seine Verbündeten angekündigt waren.

Ermittelt wird offiziell in völlig unterschiedliche Richtungen. Der Leiter des Ermittlungskomitees Wladimir Markin schloss sich der These an, der Mord diene dazu, die politische Lage in Russland zu destabilisieren, es könne sich um ein „sakrales Opfer“ handeln. Womöglich führten die Spuren in die Ukraine, so Markin, wo auf beiden Seiten radikale Gruppen kämpfen, die als Täter in Frage kämen. Auch Islamisten könnten die Tat begangen haben – aus Rache für Nemzows Äußerungen über den Anschlag auf die französische Satire-Zeitschrift „Charlie Hebdo“.

Als Hintergrund der Tat ziehen die Ermittler außerdem Nemzows Geschäftsinteressen in Betracht sowie persönliche Rachemotive. Letzteres bezieht sich hauptsächlich auf Nemzows derzeitige Lebensgefährtin. Die 23 Jahre alte Ukrainerin Anna Durizkaja befand sich mit ihm zusammen auf dem Heimweg zu Fuß nach einem Abendessen am Roten Platz, blieb aber unversehrt. Den Mörder hat sie nicht zu Gesicht bekommen.

Es seien keine Profikiller am Werk gewesen, sagen die Ermittler. Bei der Tatwaffe könnte es sich um eine umgebaute Gaspistole gehandelt haben, die benutzten Patronen waren über 20 Jahre alt und stammen von unterschiedlichen Herstellern. Über die Auftraggeber sagt dies indes gar nichts aus. Einige der Videokameras, die den Mord hätten aufzeichnen können, waren zum Zeitpunkt der Tat wegen Reparaturarbeiten außer Betrieb, existierende Videos sind aus größerer Distanz entstanden und zu unscharf, um daraus für die Aufklärung relevante Details entnehmen zu können. Auf den Aufnahmen eines Fernsehsenders, dessen Kamera für Nachrichtensendungen mit einer Dauereinstellung auf den Kreml gerichtet ist, ist ein Mann zu sehen, der sich von hinten dem Paar nähert und nach den Schüssen in ein Auto steigt. Allerdings verdeckt ein Schneeräumfahrzeug die Schussszene. Zeugenaussagen widersprechen sich.

Nemzows letztes großes Vorhaben war der für den 1. März geplante Antikrisenmarsch unter dem Motto „Frühling“. Seine Mitorganisatoren bliesen den von den Behörden an den Stadtrand verbannten Marsch zugunsten einer Gedenkdemonstration zum Tatort ab. Etwa 50.000 Menschen fanden sich am Sonntag ein, doch statt Protest dominierte Trauer. Immer, wenn die durchweg gegen linke Kritik immune, liberale russische Opposition sich sozialer Themen annimmt, finden sich objektive oder vorgeschobene Gründe für einen Rückzieher. Das war bereits 2012 so, als bei den letzten Massenprotesten Nemzow von der Tribüne herab für die Kooperation mit den Gewerkschaften agitierte. Welche Absicht seine Mörder auch immer verfolgt haben mögen, geschadet haben sie in erster Linie der Opposition.

Ute Weinmann arbeitet als freie Publizistin und lebt in Moskau.


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