DEN HUNGER VERSTEHEN UND BEKÄMPFEN: Anders landwirtschaften!

Dass Hunger und Armut nicht die Folge von Naturkatastrophen sind, hat sich wohl herumgesprochen. Warum aber Liberalismus und industrielle Landwirtschaft Gift für die Ernährungssituation im Süden sind, erklärt dieses Buch.

Diplomat beißt Geier.
Jean Feyders Referenzwerk zur Ernährungskrise,
neu aufgelegt.
„Mordshunger“,
Westend Verlag 2014

Buchcover sind manchmal irreführend. Man benötigt schon ein bisschen Zeit für die Lektüre der 300 Seiten von „Mordshunger“, dem Buch von Jean Feyder, das Ende vergangenen Jahres im Taschenbuchformat neu aufgelegt wurde. Doch am Ende ist man immer noch nicht ganz sicher, wen oder was der auf dem Cover abgebildete Geier verkörpert – oder wer, wie der Untertitel fragt, vom Elend der armen Länder profitiert. Sind es die transnationalen Unternehmen? Die Rohstoffspekulanten? Oder etwa wir alle, die wir zu viel Fleisch und Benzin konsumieren?

Dass es einem schwerfällt, eine einfache Antwort zu geben, zeugt eigentlich von der Qualität des Buches. Das Thema Hunger und Ernährung ist komplex, die Verantwortung dafür vielfältig, und eindimensionale Lösungen gibt es nicht. Jean Feyder gelingt es, dieser Komplexität gerecht zu werden, ohne sich in dem Labyrinth der Detailanalysen und Erklärungen zu verlieren. Klar wird auch, dass die Geier-Frage nicht das Hauptanliegen des Autors ist. Und dass er überzeugende Vorstellungen davon hat, wo man die Lösungsversuche ansetzen sollte – dazu später mehr.

Hunger hat Ursachen

Ein Buch wird vier Jahre nach der Erstausgabe neu aufgelegt – nachdem es auch ins Französische übersetzt worden war und der Autor regelmäßig in Luxemburg und im Ausland als Referent auftritt – zuletzt am vergangenen Mittwoch an der Uni Luxemburg. Das zeigt besser als alle auf dem Rückumschlag angeführten Lobpreisungen, dass es sich um ein erfolgreiches und nützliches Werk handelt. Was wohl nicht zuletzt daran liegt, dass Jean Feyder sein Thema genau kennt: Der Diplomat vertrat bis 2013 Luxemburg bei der Welthandelsorganisation (WTO) in Genf – also an der Stelle, wo über den Rahmen für die Ökonomie der Nahrungsmittel verhandelt wird. Das verschaffte ihm einen guten Überblick über die verschiedenen Standpunkte und ein solides Insiderwissen.

Ebenso wichtig waren seine Kontakte zu den Entwicklungs-NGOs in Nord und Süd. Wo seine Sympathien liegen, wird spätestens deutlich, wenn er die „Lehre von den Wettbewerbsvorteilen“, an der sich die WTO-Politik orientiert, als „völlig sinnlos“ für den Bereich der Landwirtschaft bezeichnet. Dass die Organisation an Hunger und Mangel eine Mitschuld trägt, ist für den ehemaligen WTO-Vertreter evident.

Zu Beginn des Buches erinnert Feyder an die Nahrungskrise von 2008, als die Weltmarktpreise für Getreide anstiegen und in vielen Entwicklungsländern Hungeraufstände ausbrachen. Konjunkturelle Gründe waren die Börsenspekulation auf Nahrungsmittel, der Boom der Agrotreibstoffe und das Fehlen einer Preis- und Reserven-Regulierung – Themen, auf die in gesonderten Kapiteln eingegangen wird. Aber, unterstreicht Feyder, das Problem ist keineswegs neu: „Bereits vor der Ernährungskrise litten 850 Millionen Menschen, vor allem Kinder, unter Hunger und Mangelernährung.“ Doch bei diesen handelt es sich größtenteils um die kaum organisierte Landbevölkerung, die nicht das gleiche politische Gewicht hat wie die im Jahre 2008 betroffenen urbanen Konsumenten. Deshalb, so der Autor, „fühlten sich weder die Regierungen der betroffenen Länder noch die internationale Gemeinschaft verpflichtet, auf ihr Los zu reagieren“.

Geier-Galerie

„Die Landwirtschaft, ein vernachlässigter Sektor“, ist denn auch das eigentliche Einstiegskapitel in den ersten Teil des Buches überschrieben, in dem die Gründe der Ernährungskrise untersucht werden. Drei weitere Kapitel sind dem „Washington Consensus“ und seinen Folgen gewidmet: Konfrontiert mit der Schuldenkrise der Entwicklungsländer in den 1980er Jahren einigten sich Internationaler Währungsfonds, Weltbank und US-Regierung damals darauf, die Markt- und Freihandelsideologie zur Anwendung zu bringen. Die den betroffenen Ländern verordneten Strukturanpassungsprogramme forderten eine Ausrichtung der Wirtschaft auf den Export und ein Zurückfahren der staatlichen Ausgaben – mit katastrophalen Folgen für die Gesundheitsversorgung, die Bildungssysteme und die Unterstützungsprogramme für die Kleinbauern. An den Beispielen Ghana und Haiti belegt Feyder, wie die Liberalisierung des Handels mit landwirtschaftlichen Produkten zu einer Schwächung statt einer Stärkung der einheimischen Versorgungskapazität führte.

„Nutznießer dieses globalisierten Systems sind transnationale Großkonzerne“, hält Feyder fest – die er damit als die Hauptanwärter auf das Geier-Label kennzeichnet. „Sie profitieren vom vereinfachten Zugang zu neuen Märkten, der ihnen durch die Handelsliberalisierung und das Regelwerk der WTO garantiert wird.“ Die Macht dieser Konzerne geht aber auch auf ihre vertikale Integration zurück, die es ihnen ermöglicht, „eine entscheidende Rolle bei der Lieferung von Saatgut, Pestiziden, Dünger und Maschinen sowie bei Kauf, Transport, Verarbeitung und Vermarktung der Agrarprodukte und der Lebensmittel“ zu spielen. Weitere negative Faktoren sind der Anbau von Agrotreibstoffen und das „land grabbing“, denen auch jeweils ein Kapitel gewidmet ist. In der Neuauflage hinzugekommen sind Darlegungen zur Spekulation mit Agrarrohstoffen und zum TTIP – das Freihandelsabkommen ist erst in den vergangenen zwei Jahren zum Thema geworden.

Ebenfalls angeprangert wird die Art und Weise, wie die Länder des Nordens ihre landwirtschaftlichen Produkte subventionieren und dann auf die Märkte des Südens werfen. Dabei wird die EU, die 2015 zum europäischen Jahr für Entwicklung ausgerufen hat, nicht verschont. Sie tendiere dazu, so Feyder, sich „für ein industrielles Ernährungssystem, das auf den Export ausgerichtet ist, sich am Weltmarkt orientiert und letztlich nur dem Handel und ein paar wenigen Industrien nützt“ zu entscheiden. Kein Wunder, dass das durchaus engagierte Vorwort des damaligen Premierministers Jean-Claude Juncker (woxx 1080) in der Neuauflage weggelassen wurde. Denn mittlerweile ist der Mahner gegen den Hunger in der Welt Präsident der EU-Kommission, die mit ihren neoliberalen Positionen in Feyders Augen Teil des Problems ist.

Über die Neuordnung der Kapitel hinaus hat der Autor für die jetzt vorliegende Ausgabe auch die Statistiken auf den jüngsten Stand gebracht und geht auf rezente Ereignisse ein. Die Eindrücke mehrerer Reisen in den Süden sind unter anderem in ein zusätzliches Kapitel über die Nicht-Nachhaltigkeit der industriellen Landwirtschaft eingeflossen. Feyder bricht eine Lanze für die Agroökologie, die für ein Wirtschaften mit der Natur im weiten Sinne steht, sich also nicht auf den kontrollierten biologischen Landbau beschränkt. Als Haupthindernis für deren Einführung in Nord und Süd sieht er die wirtschaftlichen Interessen der Agroindustrie – die habe bei einer solchen Agrarwende viel zu verlieren. Der Autor verschweigt allerdings nicht, dass sich auch die Ernährungsgewohnheiten im Norden, besonders was den Fleischkonsum angeht, drastisch ändern müssten.

„Was tun?“ ist der zweite Teil des Buchs überschrieben. Wenig überraschend erteilt Feyder Lösungsvorschlägen wie „mehr Biotechnologie“ oder „mehr Lebensmittelhilfe“ eine klare Absage. Dagegen setzt er auf traditionelle tiersmondistische Instrumente wie die Regulierung der Agrarmärkte und eine Handelspolitik, die sich nicht nur an liberalen Dogmen orientiert, sondern den Ländern des Südens Raum lässt, ihre Ernährungssouveränität wiederherzustellen. Weil das Recht der Bauern auf Land eine Vorbedingung für eine kleinbäuerliche, nicht auf den Export ausgerichtete Landwirtschaft ist, spricht sich der Autor auch für konsequente Landreformen aus. Dabei unterstreicht er die Wichtigkeit einer Einbindung der Zivilgesellschaft und der Bauernverbände in die agrarpolitischen Entscheidungen.

Dass Feyder dabei China als „success story“ anführt, dürfte allerdings zu Diskussionen führen. Ein Grund dafür ist, dass die unbezweifelbaren Erfolge bei der landwirtschaftlichen Produktion mittels eines Dirigismus erzielt wurden, der bis heute keinen Platz lässt für eine Zivilgesellschaft im westlichen Sinne – ganz abgesehen von seiner unklaren Haltung gegenüber der Gentechnik. Man kann dem Autor allerdings nicht vorwerfen, dem Reich der Mitte unkritisch gegenüber zu stehen. So reflektiert er zum Beispiel durchaus die zweideutige Rolle, die China in Afrika spielt: Erfolgreiche Entwickungszusammenarbeit auf der einen Seite, Überschwemmung lokaler Märkte mit Billigexporten auf der anderen.

Nach der Armut

Eine weitere zwiespältige Frage ist die, ob der „beeindruckende Rückgang der Armut“ auf die chinesischen Reformen in der Landwirtschaft zurückzuführen sind oder auf den Durchbruch der Industrieexporte auf dem liberalisierten Weltmarkt. Zwar merkt Feyder an, dass China – anders als das viel wirtschaftsliberalere Indien – sowohl in der Industrie- wie in der Agrarpolitik erfolgreich auf staatliche Lenkungsinstrumente zurückgreift. Doch die Hauptthese des Buchs lautet: Wer den Hunger bekämpfen will, muss den Nahrungsmittelanbau vor Ort fördern.

Damit setzt Feyder nicht nur einen anderen Schwerpunkt als liberale Theoretiker, die die Ursache für die Rückständigkeit des Südens mal bei natürlichen, mal bei kulturhistorischen Nachteilen suchen. Auch manche linken Entwicklungsökonomen wie Erik Reinert, vor kurzem zu Gast in Luxemburg (woxx 1308), sehen eher Industrialisierung und Rationalisierung als Schlüssel zu einer erfolgreichen wirtschaftlichen Aufholjagd. Allerdings sind solche Theoretiker häufig auf dem ökologischen Auge blind – was man Feyder nicht vorwerfen kann.

Anders gesagt: Wirtschaftswachstum war in der Vergangenheit eine zwar nicht ausreichende, aber doch notwendige Bedingung für die Bekämpfung von Armut und Hunger. Wer Zweifel hegt, ob diese Art des Wachstums mit dem Erhalt der Biosphäre vereinbar ist, kann schlecht auf eine massive Industrialisierung der Länder des Südens setzen. Dagegen wäre in einer Zukunft, die durch Ressourcenknappheit und genügsames Leben geprägt ist, eine erfolgreich reformierte Landwirtschaft wie sie Feyder vorschwebt der Schlüssel zu Gerechtigkeit und Lebensqualität.

Wer „Mordshunger“ gelesen hat, wird solche Überlegungen nachvollziehen können. Mit dem Wissen, das in den 24 Kapiteln vermittelt wird, können sich der Leser und die Leserin weiter informieren und politisch engagieren. Auch der Blick auf die NGOs wird ein anderer werden – insbesondere auf solche, die sich „unpolitisch“ geben und „nur helfen“ wollen – und dafür in Wirtschaftskreisen, bei den Regierungen und in der Gesellschaft insgesamt respektiert und beliebt sind. So ist das Buch eine sinnvolle Ergänzung zu Jean Feyders Vorträgen – einzig das fehlende Sach- und Personenregister schränkt die Nutzung als Nachschlagewerk ein. Dafür enthält es aber ein Glossar und gut strukturierte Fußnoten, die auf eine solide Bibliografie verweisen. Und, als gute Nachricht im Land der Mehrsprachigkeit: In den nächsten Wochen wird die französische Fassung ebenfalls in einer Neuauflage erscheinen – ohne Geier-Cover.


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