ENTWICKLUNGSPOLITIK UND NEOLIBERALISMUS: „Kritisch hinterfragen“

UN-Diskussion über die Entwicklungs-Agenda, Klimagipfel in Paris, Europäisches Jahr für Entwicklung – 2015 steht im Zeichen der Nord-Süd-Beziehungen. Wir haben uns mit Jean Feyder unterhalten, der sich als Diplomat im Ruhestand weiterhin zivilgesellschaftlich engagiert.

ZUR PERSON
Jean Feyder empört sich nach all den Jahren immer noch über Hunger, Armut und Arbeitslosigkeit. Als Diplomat konnte er hinter die Kulissen der internationalen Politik blicken. Von 2005 bis Ende 2012 war er Botschafter und Ständiger Vertreter Luxemburgs im Büro der Vereinten Nationen in Genf. In seinem erfolgreichen Buch Mordshunger (woxx 1311) analysierte er die Ursachen der Probleme, vor denen die Entwicklungsländer stehen. Nach seiner Pensionierung hat sich sein Engagement in NGOs wie der Action Solidarité Tiers Monde noch verstärkt. (Foto: RK)

woxx: Die EU hat 2015 als Jahr für Entwicklung ausgerufen. Man sagt heute nicht mehr Entwicklungshilfe, sondern eher Entwicklungszusammenarbeit, oder?

Jean Feyder: Die Bedeutung des Begriffs „Entwicklung“ ist immer noch umstritten. Am schwerwiegendsten war, dass Ende der 1980er Jahre die Idee der Entwicklung verdrängt wurde durch das Paradigma der Armutsbekämpfung. Diese Bezeichnung wurde von der Weltbank in Umlauf gebracht und findet sich auch im Vertrag von Lissabon wieder. Armutsbekämpfung steht denn auch für eine andere Herangehensweise an die Nord-Süd-Beziehungen, deren Ergebnisse man heute hinterfragen muss. Auf diese Weise gerieten nämlich die Symptome der Armut in den Fokus, statt die wirtschaftlichen und strukturellen Ursachen.

Als Sie in den 1970er Jahren anfingen, sich mit Entwicklungspolitik zu beschäftigen, war die Dekolonisierung größtenteils abgeschlossen.

Die Frage war, welche Politik sich die damalige Europäische Wirtschaftsgemeinschaft gegenüber ihren früheren Kolonien geben würde. Im Lomé-Abkommen von 1975 gab es eine Reihe von Garantien, die diesen Ländern wirtschaftlich halfen. Dabei wurde auf innovative Lösungen zurückgegriffen wie den Stabex-Fonds, der die Höhe der Exporterlöse absicherte. Dieser Fonds wurde leider Opfer der neoliberalen Wende der 1980er.

Was hat zu dieser Wende geführt?

Es handelt sich um eine globale Ideologie, den „Washington Consensus“, die damals von Ronald Reagan und Margaret Thatcher gefördert wurde und deren Grundidee lautete: In Wirtschaftsfragen soll man den Markt gewähren lassen. Der Staat sollte schrumpfen, der Handel liberalisiert werden. Die Schuldenkrise der Entwicklungsländer bot damals Weltbank und Währungsfonds Gelegenheit, ihre Notkredite an Bedingungen zu knüpfen: die neoliberalen Strukturanpassungsprogramme mit ihren verhängnisvollen Folgen. So mussten diese Staaten ihre Unterstützungszahlungen für Kleinbauern einstellen und sich aus den Vermarktungsstrukturen zurückziehen. Am gravierendsten war, dass ihnen nahegelegt wurde, sich auf Exportprodukte wie Kaffe, Kakao oder Baumwolle zu spezialisieren – im Einklang mit der Theorie der komparativen Kostenvorteile. Im Gegenzug sollten sie ihre Grenzen für Nahrungsmittelimporte aus den USA und Europa öffnen – was uns natürlich angesichts der Überproduktion sehr zupass kam. Allgemeine Verarmung der Bevölkerungen in den Entwicklungsländern war die Folge.

Heute befindet sich der Neoliberalismus in einer Legitimitätskrise – was kommt danach?

In der Praxis wird diese neoliberale Politik fortgeführt. Es gibt in Europa kein großes, unabhängiges Forschungsinstitut, das diese Ausrichtung hinterfragt. Niemandem scheint aufzufallen, dass zum Beispiel die Absenkung der Einfuhrzölle in den Ländern des Südens zu Einnahmeverlusten geführt hat. Dieses Geld fehlt den Staaten, um ihre früheren Politiken in Bereichen wie Gesundheit und Bildung fortzuführen.

„Durch den Paradigmenwechsel hin zur Armutsbekämpfung gerieten die Symptome der Armut statt ihrer Ursachen in den Fokus.“

Ökonomen wie Erik Reinert, über dessen Konferenz in der woxx Nummer 1308 berichtet wurde, sind also Einzelkämpfer?

Das ist das Problem: Dieses Gedankengut des Washington Consensus ist allgegenwärtig. Es wird nicht hinterfragt, sondern blindlings angewendet. Ich finde, das Jahr für Entwicklung wäre eine gute Gelegenheit, die Folgen dieser Politik kritisch zu beleuchten.

In Ihrem Buch führen Sie die Erfolge der ostasiatischen Länder an, die ein anderes Entwicklungsmodell angewendet haben.

Ja, Länder wie China, und zuvor Südkorea und Taiwan, haben sich nie von dem Washington Consensus beirren lassen. Dort hat der Staat seit den 1950er Jahren eine zentrale Rolle bei der wirtschaftlichen Entwicklung gespielt. Und dabei nicht gezögert, die eigene Produktionskapazität vor den Importen zu schützen.

Protektionismus als Mittel zum Zweck?

Ja, das ermöglichte, dass sich diese Länder danach, ab den 1980ern, auf den Weltmärkten behaupteten. Ihre wirtschaftliche Entwicklung ist auch uns zugute gekommen in Form einer Intensivierung der Handelsbeziehungen. Vermutlich hätte Europa Interesse daran, seine auf Liberalisierung ausgerichtete Politik gegenüber den afrikanischen Ländern zu hinterfragen. Doch stattdessen schließen wir neue Freihandelsabkommen ab, wie das anstehende, stark umstrittene mit Westafrika, das demnächst vom Europaparlament ratifiziert wird.

Vor 1989 wurden die Länder der Dritten Welt oft von den beiden Supermächten instrumentalisiert. Heute scheinen sich vom Mittleren Osten bis Westafrika Islamismus und westlicher Interventionismus gegenüberzustehen. Dabei tragen diese Interventionen, wie in Libyen, nicht unbedingt zur Verbesserung der Entwicklungschancen bei.

Man kann die Ereignisse in Libyen nicht analysieren, ohne festzustellen, dass Frankreich, die USA und andere die UN-Resolutionen flagrant missbraucht haben. Sie haben das Mandat zum Schutz der Zivilbevölkerung benutzt um einen Regimewechsel herbeizuführen. Der Sturz Gaddafis, für den es gute Gründe gegeben haben mag, hat ein gewaltiges Chaos ausgelöst – in Libyen und in den Nachbarländern. So haben die von Gaddafi mit Waffen ausgerüsteten Tuareg nach dem Sturz ihres Gönners unter anderem versucht, im Norden Malis einen eigenständigen Staat zu errichten.

Ist der Islamismus nicht auch deshalb erstarkt, weil, zum Beispiel in Ägypten, die linke Opposition so schwach ist?

In Ägypten trauern viele der Ära Nasser nach. Sein Regime hatte zwar autoritäre Züge, hat aber viel geleistet für die Unabhängigkeit des Landes, zum Beispiel mit der Verstaatlichung des Suezkanals. Er hat auch eine Agrarreform durchgeführt, und seine Politik ist vielen Millionen Kleinbauern zugute gekommen. Seine Nachfolger haben dann auf eine liberale Wirtschaftspolitik umgeschwenkt.

„Die Menschenrechte sind eine universelle Errungenschaft, doch manchmal wird vergessen, dass es auch soziale und ökonomische Grundrechte gibt.“

Wie Nasser handelt es sich auch bei den erfolgreichen Regierungen in Ostasien häufig um autoritäre Regime. Ist das ein Entwicklungsmodell für die Zukunft?

Die Achtung der Menschenrechte war und bleibt unabdingbar. Das ist eine universelle Errungenschaft, für die man einstehen muss. Allerdings vergessen viele Verteidiger der Menschenrechte, dass es auch soziale und ökonomische Grundrechte gibt. Die Rechte auf Ernährung, Gesundheit, Bildung, Arbeit und soziale Sicherheit werden leider häufig übersehen. Sie sind ebenso wichtig wie freie Meinungsäußerung, Versammlungsfreiheit oder Schutz vor Folter, wenn man bedenkt, dass eine Milliarde Menschen in Hunger und Armut lebt.

In der Praxis spielen NGOs bei der Entwicklungszusammenarbeit eine wichtige Rolle. Wie funktioniert das in Luxemburg?

In den vergangenen Jahren hat sich das Land gut gehalten. Wir betreiben eine fortschrittliche Entwicklungspoiltik in dem Sinne, dass wir die 0,7-Prozent-Vorgabe der UNO überschreiten und ein Prozent unseres BIP für die öffentliche Entwicklungshilfe aufwenden. Dabei arbeiten die staatlichen Stellen intensiv mit den NGOs zusammen und kofinanzieren deren Projekte mit bis zu 80 Prozent.

Wie steht es mit der Unabhängigkeit der NGOs?

Dieses Prinzip ist fundamental. Auch der Staat hat Interesse an einem kritischen Blick von außen auf seine Entwicklungspolitik. In den vergangenen Jahren gab es in dieser Hinsicht allerdings Probleme. So hatten die NGOs im Jahr 2009 einen Bericht über die Kohärenz der Politik ausgearbeitet, der insbesondere die positiven finanziellen Auswirkungen der Entwicklungshilfe und die negativen der Kapitalflucht miteinander verglich. Der Premierminister reagierte, indem er daran erinnerte, dass die NGOs ihr Geld vom Staat erhalten – prompt verschwand der Bericht in der Schublade. Ich fand diesen Hinweis auf die finanzielle Abhängigkeit fehl am Platz. Schade, dass es damals nicht zu einer offenen Debatte über das Thema kam.

Wäre das Jahr für Entwicklung die Gelegenheit, solche kritischen Debatten zu führen?

Es bietet die Gelegenheit, die grundsätzliche Ausrichtung unserer Entwicklungspolitik zur Diskussion zu stellen. Ich freue mich über Initiativen wie die Vorträge von Erik Reinert im Februar oder von Yash Tandon am 24.April – er hat sich mit dem Buch „Trade Is War“ als Kritiker des Freihandels einen Namen gemacht. Auch der anstehende Kohärenzbericht der europäischen Plattform Concord, bei der ich mitarbeite, wirft einen kritischen Blick auf die wirtschaftlichen Partnerschaftsabkommen der EU mit Westafrika. Gegen die Ratifizierung dieses Abkommens mit Westafrika läuft derzeit eine Kampagne, die von der Zivilgesellschaft und den Bauernorganisationen hier und dort getragen wird.

„Wenn wir die liberalen Dogmen unserer Wirtschafts- und Handelspolitik nicht hinterfragen, wird es schwer, unsere Entwicklungspolitik zu revidieren.“

Haben Sie keine Sorge, dass sich die Institutionen in Brüssel über solche Initiativen ärgern?

Die EU-Kommission war immerhin bereit, die Konferenz mit Reinert mitzuorganisieren. Jean-Claude Juncker, der ein sehr engagiertes Vorwort für die erste Ausgabe meines Buches geschrieben hat, hat ein offenes Ohr für diese Fragen. Allerdings bleibt ihm noch einiges an Überzeugungsarbeit in Brüssel zu leisten. Gelingt ihm dies nicht, verliert er an Glaubwürdigkeit.

Sie beschäftigen sich seit über 40 Jahren mit internationaler Politik. Sind Sie eher optimistisch oder pessimistisch, was die Zukunft angeht?

Die Krise in Europa finde ich sehr beunruhigend – ich habe auch längere Zeit in Brüssel gearbeitet. Die europäische Einigung weckte große Hoffnungen in den Völkern, doch die Entwicklungen der vergangenen 15 Jahre stellen das in Frage: eine verfehlte Währungspolitik, eine verkehrte Krisenpolitik mit desaströsen Folgen vor allem in Südeuropa. Die hohe Jugendarbeitslosigkeit finde ich erschreckend. Viele Menschen verlieren den Glauben in das europäische Projekt, gehen nicht mehr wählen oder wählen rechtsextreme Parteien. Wir benötigen politische Alternativen – vielleicht liefern die Veränderungen in Griechenland ja den Auslöser dafür, die liberalen Dogmen zu hinterfragen.

Was bedeutet das für die Entwicklungspolitik?

Unsere wirtschaftlichen Beziehungen mit dem Süden sind ebenfalls fehlgeleitet. Wenn wir bei uns keine Wende in der Wirtschafts- und Handelspolitik vollziehen, wird es schwer, unsere Entwicklungspolitik zu revidieren.


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