FOTOGRAFIE: Vernetzte Armut

Der palästinensische Fotograf Raed Bawayah beschäftigt sich in seinen preisgekrönten Fotoserien mit Schicksalen, die dem seinen ähneln – und zeigt ein Menschenbild, das Armut und Repression mit Würde vereint.

Alltag im Westjordanland.

Raed Bawayah ist ein Kämpfer. Im Westjordanland als eines von neun Kindern einer alleinstehenden Mutter geboren, stand sein Schicksal eigentlich schon fest: Er würde, wie seine Geschwister auch, sich wohl sein Leben lang als Gelegenheitsarbeiter im benachbarten Israel durchschlagen müssen. Obwohl schon als Kind von der Fotografie fasziniert, arbeitete er bis zu seinem 28. Lebensjahr hauptsächlich auf Baustellen, bis er eines Tages den Entschluss fasste, sich an der Naggar School, einer Kunstschule in Israel, vorzustellen. Obwohl er nicht einmal einen Fotoapparat besaß, geschweige denn ein Portfolio präsentieren konnte, nahm die Schule ihn an. Sie hielt auch zu ihrem Studenten, als die zweite Intifada losbrach und er sich an den Checkpoints vorbeidrücken musste, um zu seiner Schule zu gelangen. Einmal erwischte es ihn doch, und er verbrachte zwei Wochen hinter Gittern. Ein Erlebnis das ihn nicht mehr losließ und seine Arbeiten – zumal die Serie „ID925596611“, die Nummer seiner Identitätskarte – nachhaltig prägte. Ein Jahr später gewann er mit einer Residenz in der „Cité Internationale des Arts“ in Paris, sein Ticket für Reisen rund um den Globus.

Die Ausstellung „Empreintes de Passages“, die zur Zeit in der Abtei Neumünster im Rahmen des Projekts „Regard de l’autre/Regarde l’autre“ des „Comité pour une paix juste au Proche Orient“ zu sehen ist, zeigt eine Übersicht seiner Fotoserien und Einzelausstellungen. Im Mittelpunkt seiner Arbeiten steht immer wieder der Mensch. Es handelt sich aber nie um „einfache“ Porträtaufnahmen, denn Bawayah versucht immer, sein Umfeld, seine Arbeit und seine Lebensumstände mit einzubringen. Und so gelingt es ihm, Schicksale, die wir zwar vielleicht aus der tagtäglichen Medienflut kennen, aber kaum mehr richtig wahrnehmen, wieder ins rechte Licht zu rücken und den Menschen Würde zu verleihen.

Was einige Besucher sicher erstaunen wird, ist, dass Bawayah nicht unbedingt den Akzent auf das Schicksal seines Volkes unter der israelischen Besatzung legt, sondern dieses als Ausgangspunkt nimmt, um das Volk der Palästinenser mit anderen Orten und Menschen zu vernetzen. So führt uns die Fotoserie im Kreuzgang der alten Abtei aus dem Westjordanland nach Transsylvanien, wo dem Fotografen eindringliche Aufnahmen vom einfachen rumänischen Landleben gelungen sind. Auch Deutschland ist vertreten, mit einem Porträt einer obdachlosen Jugendlichen in Stuttgart, die sich an einer öffentlichen Wasserfontäne erfrischt. Und Russland und sogar Österreich, wo Bawayah die Einsamkeit und Zurückgezogenheit suchte, die Klöster verheißen. Aber das besondere Augenmerk galt sicher seinem Adoptivland Frankreich, wo er sich auf das Schicksal der am radikalsten ausgestoßenen Minderheit des Landes konzentrierte, den Sinti und Roma, die vielerorts in improvisierten Lagern vor sich hin vegetieren.

Das Frappierende an Bawayahs Werk ist wohl, dass man die Plaketten unter den Bildern allesamt austauschen könnte und doch kaum einen Unterschied merken würde – in diesem Sinne ist Palästina überall, und überall ist Palästina. Soviel Empathie zu erzeugen, ohne ein einziges Wort, nur indem man Bilder sprechen lässt – das ist wohl die hohe Kunst der Fotografie.

In der Abtei Neumünster bis zum 28. April.


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