In seinem neuen Film „May December“ spielt Todd Haynes mit Perspektiven und Andeutungen. Das Ergebnis ist hochspannend, verstörend und zutiefst traurig.
Nahaufnahmen von Insekten, dramatische Klaviermusik – schon die ersten Minuten von „May December“ machen deutlich, dass es sich nicht um einen Wohlfühlfilm handelt. Dabei wirkt die Handlung anfangs noch harmonisch. Es ist der 4. Juli in der idyllischen nordamerikanischen Küstenstadt Savannah. Der Himmel ist blau, die Menschen leicht bekleidet, im Hintergrund hört man ein Schlagzeugensemble. Vor einem großen Einfamilienhaus hievt eine Frau (Natalie Portman) Reisekoffer aus einem Auto. Wie wir erfahren, ist Elizabeth Schauspielerin und beruflich in Savannah. Um sich auf die Verkörperung einer Filmrolle vorzubereiten, will sie die Familie Atherton-Yoo kennenlernen.
Während Elizabeth sich in ihrem Airbnb einrichtet, laufen bei besagter Familie die Vorbereitungen fürs Barbecue auf Hochtouren. Auf der Terrasse steht Familienvater Joe (Charles Melton) am Grill, in der Küche schmiert seine Ehefrau Gracie (Julianne Moore) Buttercreme auf eine Torte, Gäst*innen gehen ein und aus, man hört Kindergeschrei.
Es ist vor allem der Soundtrack, der in diesen Anfangsszenen darauf hindeutet, dass irgendetwas nicht stimmt. Gracie und Joe sind nämlich alles andere als ein durchschnittliches Paar: Als sie sich kennenlernten, war sie Mitte dreißig, er dagegen gerade mal dreizehn Jahre alt. Der Film nimmt klare Referenz auf die Lehrerin Mary Kay Letourneau, die 1996 ihren Ehemann für den dreizehnjährigen Vili Fualaau verließ und mit diesem eine Familie gründete.
Perspektiven und Projektionen
Die Art und Weise wie Regisseur Todd Haynes uns die Geschehnisse zu Beginn seines neuen Films präsentiert, spiegeln vor allem Gracies Perspektive wider. In der Realität, wie sie sie wahrnimmt, ist sie die perfekte Hausfrau, die mit ihrem hingebungsvollen Ehemann die drei gemeinsamen Kinder großzieht. Nachdem ihre Affäre mit Siebtklässler Joe 1992 aufflog, ließ sie sich weder von der verhängten Haftstrafe noch von der unermüdlich über sie berichtenden Klatschpresse abschrecken. Noch während sie hinter Gittern saß, wurde sie von Joe schwanger, umgehend nach ihrer Haftentlassung zogen die beiden zusammen. Nun, 23 Jahre später, erinnern nur noch die gelegentlichen vor ihrer Haustür hinterlassenen Päckchen mit menschlichen Exkrementen an die kollektive Empörung um die kriminellen Anfänge dieser Beziehung. Dass nun eine Hollywoodschauspielerin sie in einem Film verkörpern und sie zu diesem Zweck kennenlernen möchte, scheint für sie eine willkommene Gelegenheit, das vorherrschende Narrativ in ihrem Sinne mitzugestalten.
Was „May December“ so besonders macht, ist die Kontrastierung unterschiedlicher Perspektiven einerseits und die Interpretationsoffenheit andererseits. Wirkt es anfangs noch so, als sei Elizabeth eine Stellvertreterin für den Blick des Publikums auf Joe und Gracie, so wird diese Erwartung schon bald unterwandert. Tatsächlich scheint Elizabeth, so eine Interpretationsmöglichkeit, all jene Menschen zu repräsentieren, die Joes und Gracies Beziehung zwar schockiert, sich aber weigern, diesen als das Opfer zu sehen, das er ist. Gleichzeitig scheint die Figur Elizabeth ein Seitenhieb auf das in Hollywood gerne praktizierte Method Acting zu sein. Sie versucht nicht nur detailgenau, Gracies Mimik und Gestik zu imitieren: Zum Einüben ihrer Rolle flirtet sie hemmungslos mit Joe und dreht sich nach minderjährigen Jungen um. Die moralische Dimension von Gracies Handeln scheint der Schauspielerin nur insofern wichtig, als sie ihr als Vorlage einer provokanten Filmrolle dient. Bereits als Gästin bei den Athertons spielt sie eine Rolle: Ihre Schaulust verkauft sie als Anteilnahme, ihre Rücksichtslosigkeit als professionelle Rigorosität.
Joe seinerseits ist von den drei Protagonist*innen am schwersten zu durchschauen. Zumindest am Anfang: Durch sein Pokerface und seine Verschwiegenheit wird er für die Zuschauer*innen zur Projektionsfläche. Immerzu sucht man sein Gesicht nach Anzeichen für die Unzufriedenheit ab, die er zweifelsohne empfinden muss. Gracie ihrerseits verdrängt ihre Verantwortung als verurteilte Kinderschänderin derart erfolgreich, dass man an ihrer psychischen Gesundheit zweifeln muss. Ihre fragile mentale Verfassung tritt indirekt durch den kontrollierenden Umgang mit ihrer Familie – mit Joe redet sie oft, als sei dieser immer noch dreizehn – und den unverhältnismäßigen Reaktionen auf scheinbar banale Dinge.
Zwischenmenschliche Spannung
So faszinierend die Figuren an und für sich bereits sind, so wird das Spannungspotenzial noch um ein Vielfaches gesteigert, wenn sie miteinander interagieren. Wenn etwa Gracie und Elizabeth, die jede auf ihre Weise manipulativ und unaufrichtig sind, mit dem nie über die emotionale Reife eines Teenagers hinausgewachsenen Joe kommunizieren. Als Partner von Gracie und als Vater musste er einen schier unmöglichen Spagat leisten: Sehr schnell erwachsen werden, ohne aber die von Natur aus unausgeglichene Hierarchie zwischen ihm und Gracie in Frage zu stellen. Heißt: Er durfte nie kritisch sein, keine unangenehmen Fragen stellen, nie aus der Reihe tanzen.
Jede der Figuren sieht in den jeweils anderen genau das, was sie sehen will – zumindest bis zum letzten Drittel des Films, wenn der ohnehin sehr fragile Status quo zu zerbrechen beginnt. Diese zwischenmenschliche Spannung ist es, die „May December“ zu einem so beeindruckenden Seherlebnis macht.
„May December“ ist ein Film, der auf sehr vielen Ebenen interessant ist und bei welchem sich mit jedem Schauen noch weitere Nuancen entdecken lassen. Mit seinem Werk wirft Haynes Fragen auf, ohne sie abschließend zu beantworten. Wie die Zuschauer*innen die Figuren und die Handlung interpretieren, wer ihre Sympathien weckt und wer nicht, sagt mehr über sie selbst als über den Film aus. Das spannungsgeladene Drehbuch, die handwerklich einwandfreie Umsetzung und nicht zuletzt die Schauspielleistungen sind einen Kinobesuch allemal wert.