Die abgeschiedene afghanische Provinz Helmand ist als besonders konservativ und für den Opiumanbau bekannt. Hier wohnen aber auch Menschen, die sich nicht völlig den Taliban unterordnen und beispielsweise heimlich Schulunterricht für Frauen organisieren.

„Mädchen sollten ein Recht auf Bildung haben und ebenfalls die Schule besuchen dürfen“: der ehemalige Schuldirektor Daud Shah. (Foto: Lena Reiner)
In einem Schlafzimmer in der Provinz Helmand im Süden Afghanistans: Mohammad* ist nervös. Seine Fußspitze wippt schneller und schneller, er schaut mal an die Decke und mal an die Wand neben sich. Die Worte bringt er kaum über die Lippen, formuliert Sätze, denen Satzteile fehlen. Dabei spricht er sonst sehr gutes Englisch, das zeigt er beim Wechsel zu unverfänglicheren Themen schnell.
Bereits vor sechs Jahren erhielt Mohammad einen Drohbrief der Taliban, damals hatte er islamkritische Artikel für eine Lokalzeitung verfasst. Diese gibt es längst nicht mehr, doch seine Überzeugung ist geblieben und die Angst seitdem noch größer geworden. Der Drohbrief habe ihn dazu gebracht, seinen Aktivismus stark einzuschränken. „Die Polizei konnte uns damals schon keinen wirklichen Schutz bieten“, sagt er. Seit nun die Taliban ab August 2021 das ganze Land als sogenanntes Islamisches Emirat – wie sie es selbst bezeichnen – regieren, sei es noch gefährlicher für ihn geworden.
„Ich lebe zwei Leben“, sagt er. „Es gibt zwei Versionen von mir. Eine ist hier zu Hause, ganz privat. Da bin ich Atheist und befasse mich mit der Aufklärung.“ Von dieser Version dürfe aber derzeit auf keinen Fall jemand erfahren. Seine Fußspitze wippt und wippt, er stockt beim Sprechen, sucht weiter nach Worten. Draußen jedenfalls, erklärt Mohammad dann, kenne man ihn als gläubigen Muslim. Er trage Bart, traditionelle Kleidung und bete selbstverständlich auch. Nur eine kleine Gruppe Menschen im Land weiß Bescheid, wie er eigentlich denkt. Mit ihnen zusammen war er vor der Machtübernahme der Taliban aktivistisch tätig, sie verfassten zusammen Artikel, organisierten Treffen; sie verschrieben sich ganz der Aufklärung im philosophischen Sinne – er verwendet den englischen Begriff „enlightenment“.
Er wünsche sich ein demokratisches, soziales System für das Land, sagt Mohammad und deutet auf die Bilder von Mahatma Gandhi und Karl Marx in seinem Regal. Dort stehen viele Bücher, namhafte europäische Denker sind unter den Autoren zu finden; allesamt in der persischen Übersetzung. Hier ist sein sicherer Rückzugsort. Gäste empfängt er normalerweise nur vorne im Haus, in einem separaten Zimmer für Besucher. Die bedrohliche Außenwelt ist nah. Schon auf dem begehbaren Dach wird er noch vorsichtiger, bittet darum, keine Fotos zu machen, damit die Nachbarn die Kamera nicht sehen. Dabei wäre der Blick über die umliegenden Häuser ein sehenswertes Motiv.
Besonders strenge Regeln
Helmand ist in den internationalen Medien vor allem durch konservative Gesetze schon vor dem Machtwechsel und durch den Krieg bekannt geworden, den die von den USA angeführte internationale Militärkoalition von 2001 gegen die Taliban in Afghanistan bis zu deren Sieg 2021 führte. In der Gegend waren vor allem US-amerikanische und britische Truppen stationiert. Der Nato-Einsatz hatte hier unter anderem im Jahr 2006 einen ersten militärischen Höhepunkt. Helmand gehörte zu den Provinzen, auf die die Taliban nach ihrer Reorganisierung ihre Offensiven konzentrierten; daraufhin wurde die hauptsächlich britische „Task Force Helmand“ gebildet. 2015 fanden erneut Kämpfe statt, es gelang den ausländischen Truppen nie, die Taliban gänzlich zu vertreiben.
Mittlerweile wirkt die an Pakistan grenzende Provinz gespenstisch ruhig. Es gibt Gegenden, in die nach wie vor keine Straße führt. Die vielen Checkpoints sind nur noch bei Dunkelheit besetzt und werden in den Morgenstunden verlassen. Im Vorjahr war das noch anders.
Gleichzeitig kontrollieren Geheimdienst und Polizei die Menschen in anderen Lebensbereichen weiterhin. Und die Regeln in der Provinz sind auch jetzt wieder strenger als anderswo. So sind Frauenstimmen seit Juli 2023 in den Radiostationen und Fernsehsendern der Provinz komplett untersagt; auch in der Vergangenheit – selbst zu Zeiten der Republik und ihrer Modernisierungsprogramme in den 1970er-Jahren – unterlagen Frauen in Helmand mehr Restriktionen als in vielen anderen Provinzen.
Doch auch hier gibt es Menschen, die sich nicht an die strikten Regeln halten. Auf der Straße sieht man immer wieder – wenn auch vereinzelt – Frauen, die statt der blauen Burka oder der schwarzen Komplettverhüllung bis über die Nasenspitze traditionelle bunte Kleidung tragen und ihr Gesicht zeigen. Und es gibt auch Männer, die anders denken.
Mohammad führt in eine kleine Schule, die in einem Hinterhof liegt. Versteckt in einem Raum sitzen junge Frauen zusammengekauert an älteren Schulbänken aus Holz. Das darf natürlich niemand wissen. Bei dem kleinen Unterrichtsraum handle es sich – falls jemand auf ihn aufmerksam werden sollte und nachfragte – um eine Koranschule. Seine eigentliche Nutzung ist streng geheim. So schildert es der Leiter des Projekts. Sie sind ein kleines Team; vier Lehrerinnen und drei Lehrer, die hier abwechselnd unterrichten. Die jungen Frauen, die an diesem Tag anwesend sind, trauen sich nicht, mit der Presse zu sprechen, auch nicht anonym. Auch Mohammad selbst merkt man die Nervosität an. Er bittet darum, den Besuch möglichst kurz zu halten, um nicht das Misstrauen der Nachbar*innen zu wecken.
Bevor die Taliban die Macht an sich rissen, hatte Mohammad bereits seine Freizeit für die Bildung von jungen Frauen und Mädchen genutzt. Damals organisierte er Englisch- und Computerkurse, war stolz auf die Teilnehmerinnen und ihre Fortschritte und freute sich über die wachsende Nachfrage. Er ist weiterhin davon überzeugt, dass das Interesse der jungen Frauen ungebrochen, der Lernwille da sei. „Wir könnten Tausende unterrichten, wenn wir die Mittel dazu hätten“, sagt er.
Mädchenbildung unerwünscht
Ein anderer Tag an einem weiteren Ort in Helmand: Das Gespräch findet draußen im Grünen statt, durch dichtgewachsene Maisfelder abgeschieden von Blicken zufälliger Passanten. Daud Shah reagiert wenig irritiert auf die unangemeldeten Gäste, die auf seinem Grundstück picknicken. Auch die nicht nach Regeln der Taliban verschleierte ausländische Frau, die hier lediglich traditionelle regionale Kleidung trägt, bringt ihn nicht aus dem Takt. Der 72-Jährige spricht ein herzliches Willkommen aus und stimmt dann sogar einem spontanen Interview zu, nachdem er sich als ehemaliger Schuldirektor vorgestellt hat.
Mehr als 20 Jahre lang habe er Schulen geleitet, zuletzt eine High School. Seit drei Jahren sei er im Ruhestand, zu Taliban-Zeiten hat er also nicht mehr gearbeitet. Die Schule, die er leitete, habe auch zuvor die gesamte Zeit über nur Jungen offen gestanden. „Es gab hier immer Geschlechtertrennung“, sagt er. Für Mädchen sei es schwierig gewesen, oft habe es nicht genug professionelle Lehrer*innen und auch keine weiterführenden Schulen für sie gegeben. Auch Jungen erhielten in den abgelegeneren Distrikten kaum Bildung, die Ressourcen hätten dafür einfach nie ausgereicht. „Leider wurden wir nie dabei unterstützt. Sonst hätten wir gern auch Mädchen unterrichtet“, sagt er. Was vor allem gefehlt habe, sei die Unterstützung der Politiker für Mädchenbildung gewesen.
In den letzten 20 Jahren habe internationale Hilfe vieles bewirkt, das Schulsystem habe ausgebaut werden können: „Auch jetzt noch wird an den Schulbänken unterrichtet, die mit internationalen Mitteln finanziert wurden.“ Die ganze Schulausstattung sei durch diese Unterstützung zusammengekommen. „Das war sehr hilfreich“, betont er, dafür sei er immer noch sehr dankbar.
Aber der Krieg zwischen Taliban und den Nato-Truppen habe den Alltag negativ beeinflusst. „Wir mussten immer wieder den Unterricht ausfallen lassen, mal eine, mal zwei, mal drei Wochen, weil es zu unsicher war“, sagt er. Der Krieg sei ihr größtes Problem gewesen. Grundsätzlich aber habe die Bildung sich gut entwickelt, auch inhaltlich. Er unterscheidet zwischen islamischen und modernen Lehrinhalten, an seiner Schule hätten sie sich den modernen verschrieben. Die Bildungspolitik der Taliban möchte er daher nicht gutheißen, auch betont er: „Mädchen sollten ein Recht auf Bildung haben und ebenfalls die Schule besuchen dürfen.“
Er selbst habe sechs Söhne und sechs Töchter. Bei all seinen Kindern habe er Wert auf Bildung gelegt, betont er. Der Älteste, verrät er stolz, ist Arzt in Kabul in einer Notfallklinik. Auch drei seiner Töchter hätten bereits einen Hochschulabschluss, die anderen drei litten derzeit unter den Bildungsbeschränkungen für Frauen. Für die älteren Töchter wiederum sei es schwierig, eine Arbeit zu finden. „Es ist traurig und wir hoffen, dass sich die Dinge wieder ändern“, betont er.
Doch auch unter denen, die nicht für Frauen- und Freiheitsrechte eintreten, regt sich Unmut. Denn die de-facto-Regierung des „islamischen Emirats“ der Taliban, deren inoffizielles Machtzentrum in der benachbarten Provinz Kandahar liegt, scheint sich kaum um die Belange der Bewohner*innen Helmands zu kümmern.
Kein Sex vor der Ehe
Mahmad Masum praktiziert in seinem Zuhause im Distrikt Nawzad zwischen Feldern und staubigen Hügeln strikte Geschlechtertrennung. Das kleine Badezimmer steht lediglich Besucherinnen offen, denn hier, im hinteren Teil des Hauses, sind seine Frau und seine Töchter zu finden. Sie leben abgeschirmt von der Öffentlichkeit. Auch sonst finden sich im Gespräch Übereinstimmungen mit den Wertvorstellungen der Taliban, auch wenn er, direkt danach gefragt, antwortet, er unterstütze diese nicht. Ob er es gerecht fände, wenn ein Paar dafür gesteinigt wird, unverheiratet Geschlechtsverkehr gehabt zu haben? „Ja, ich finde das gut. Wenn sie so bestraft werden, lernen andere daraus und werden so etwas nicht machen.“ Allerdings zieht er das konservative Gewohnheitsrecht der Paschtunen, der größten Bevölkerungsgruppe Afghanistans, vor: „Wenn wir nach paschtunischem Recht leben dürften, wäre es besser. Wir würden auch die Bildung von Frauen unterstützen und ihr Recht auf Arbeit.“
Auch sonst ist er unzufrieden mit der Situation. „Es gibt keine Hoffnung auf eine bessere Zukunft“, sagt er. Eigentlich wolle er nichts von der Regierung, keine Unterstützung: „Ich möchte einfach in Frieden von meiner Landwirtschaft leben.“ Doch derzeit sei diese nicht profitabel. In der Gegend fehle Wasser. Dann erzählt er, dass die Bevölkerung neue Gesetze befolgen solle: Im vergangenen April hat der Oberste Führer der Taliban, Hibatullah Akhundzada, den Anbau von Mohn für die Opiumgewinnung im Land verboten, bei Verstößen werde die Ernte vernichtet und den Verantwortlichen drohe eine Strafe in willkürlicher Schwere, je nach persönlicher Sharia-Auslegung des jeweiligen Taliban-Richters.
Doch der Drogenhandel sei wirtschaftlich wichtig für viele, die hier leben, sagt Masum. Es gebe nur wenige andere Einnahmequellen. Da er selbst Landwirt ist, kann er Zahlen angeben: „Mit Mohn mache ich 5.000 Pakistanische Rupien pro Kilo, der Preis für Mais liegt bei 300 Rupien pro Kilo.“ Das entspricht 16,50 Euro beziehungsweise einem Euro. So habe er nicht einmal genug Geld für die Gesundheitsversorgung. „Vorher waren wir auch nicht reich, aber wir hatten alles, was wir zum Leben brauchten.“ Wenn er die Möglichkeit hätte, wieder Mohn für Opium anzubauen, würde er es daher tun.
Andernfalls möchte er wegziehen, da er seiner Familie hier kein gutes Leben mehr bieten kann. Viele seiner Nachbar*innen seien bereits weggegangen. „Wir haben kein Krankenhaus hier. Wenn ein Familienmitglied krank wird, können wir es nicht zum Krankenhaus in die Stadt fahren, weil alle Straßen zerstört sind“, beschreibt er ein weiteres Problem. Auch ein Stromnetz sei nicht vorhanden, ebenso wenig wie eine Wasserversorgung. Vor dem Haus hat er einen Brunnen gegraben, daneben steht seine Fotovoltaikanlage.
Ob er eine Idee hat, wieso fast im gesamten Land derzeit Straßen gebaut werden, nicht aber in seiner Wohngegend? Er redet sich in Rage: „Hier kommen nie Zuständige der Provinzregierung her. Niemand fragt nach unseren Problemen. Wir wissen nicht, wie uns geholfen werden kann, die meisten Menschen hier sind ungebildet, und wir wissen auch nicht, wie wir uns an die Regierung wenden können.“ Dabei hätten viele Bewohner*innen während des Kriegs mit den Nato-Truppen Taliban in ihren Häusern versteckt, andere seien von den Taliban erpresst worden, sie finanziell zu unterstützen. „Sie haben uns vergessen, sobald sie an die Macht gekommen sind“, kritisiert er.
Anbau im Verborgenen
Bilal* spricht davon, Kontakte zu Bauern zu haben, die weiterhin Mohn für Opium anbauten. Der Drogenhandel finde weiterhin statt und bilde eine wichtige Einnahmequelle. Damit ist auch die Nutzung einer verbotenen Währung verbunden, denn die Drogenmafia kontrolliere hier die meisten Märkte und Geschäfte und nutze dafür Pakistanische Rupien. Die Taliban haben eigentlich vorgeschrieben, dass in Afghanistan ausschließlich in der Landeswährung Afghani bezahlt wird.
Doch hier, wo keine Straße hinführt und man sich auf dem Weg über Geröll und Sand an Bergen orientieren muss, gibt es dafür schlicht nicht ausreichend Geldscheine: „Wir nutzen Pakistanische Rupien, die wir durch den Handel haben. Afghani gibt es nicht genug, sie erreichen uns gar nicht“, berichtet Bilal; es ist ein weiteres eindrückliches Beispiel für die Abgeschiedenheit der Region. Er sagt: „Die Taliban haben nicht genug Geld.“ Obendrein denkt er, dass die Taliban hier keinen großen Einfluss haben. Der Drogenhandel finde eben im Verborgenen statt, seit er verboten worden sei. Doch die Händler seien dieselben wie zuvor, sie stammten vor allem aus dem benachbarten Pakistan und ebenfalls aus dem nahegelegenen Iran.
Wer einen Fuß vor die Tür setzt, steht mitten in einer staubigen Gegend. Nur zwischen den Mauern von Bilals Haus, im privaten Bereich, den fremde Männer nicht betreten dürfen, wachsen ein paar wenige Pflanzen beschattet von einer kleinen Fotovoltaikanlage. Sie liefert den Strom für sein Grundstück. Denn auch hier fehlt grundlegende Infrastruktur. Der Weg zu seinem Haus im Distrikt Grishk führt über eine staubige, endlos scheinende Kiesfläche, in der nur Reifenabdrucke etwas Orientierung bieten. Eine Verbindungs- oder Durchfahrtsstraße durch den benachbarten Distrikt Nawzad bis hierher nach Grishk gibt es nicht.