Ilko-Sasacha Kowalczuk liefert mit seinem neuen Buch „Freiheitsschock“ eine schonungslose Analyse von 35 Jahren deutscher Einheitsgeschichte und schreibt gegen zum Klischee gewordene Darstellungen vom Ausverkauf des Ostens an.
Bald zwei Jahre ist es her, dass der Leipziger Literaturwissenschaftler Dirk Oschmann im Frühjahr mit „Der Osten: eine westdeutsche Erfindung“ einen Bestseller landete. Vor allem in Ostdeutschland schlug das Buch voll ein. Der Autor kritisiert darin die nach wie vor bestehende Ungleichheit zwischen Ost und West und behauptet, die Ostdeutschen würden stigmatisiert. In Westdeutschland unterstelle man ihnen ein mangelndes Demokratieverständnis und Rassismus und erkläre die eigene Lebensrealität noch immer zur Norm.
Aus westdeutscher Sicht sei Deutschland in die „Bundesrepublik Deutschland“ (BRD) und die „Deutsche Demokratische Republik“ (DDR) unterteilt gewesen, „wobei die BRD ‚Deutschland‘ blieb, während die DDR als ‚Ostzone‘ oder einfach nur als ‚Zone‘ erschien“. Nach dem Mauerfall sei die DDR der BRD dann „beigetreten“ und „firmiert seitdem im öffentlichen Raum in erster Linie als ‚Osten‘, der ‚aufholen und sich normalisieren muss‘“. Oschmanns Kritik an der westdeutschen Sicht der Dinge bewegt sich teils im Fahrwasser postkolonialer Diskussionen; auch Ostdeutschland erscheint so bisweilen geradezu als Kolonie des Westens, der endlich Gerechtigkeit widerfahren muss.
Mit seinem Buch „Freiheitsschock“ hat Ilko-Sascha Kowalczuk nun zum Gegenschlag ausgeholt. Im Berliner Osten aufgewachsen, macht der 1967 geborene Historiker und Publizist keinen Hehl aus seiner Meinung über Oschmanns „Wutseller“, wie er das Buch nennt. Katja Hoyers „Diesseits der Mauer. Eine neue Geschichte der DDR“ nimmt er gleich mit ins Visier. Seine 18 Jahre jüngere und seit 2010 in Großbritannien lebende Kollegin befördere ein „harmonisches DDR-Mauer-Gesellschaftsbild, in dem es kaum störende Faktoren oder Menschen gab“. Warum das „kuschelige Land“ dann urplötzlich 1989 zusammenbrach und eine Revolution hinwegfegte, könne die in Jena geborene Historikerin nicht erklären. Oschmann und Hoyer hätten etwas gemeinsam, so Kowalczuk, was bei näherer Betrachtung kein Zufall sei: „Beide malen eine Gesellschaft, die von ‚denen da oben und ‚uns hier unten‘ geprägt ist. Ein einfacher Dualismus, der gut ankommt und auf den Straßen längst höchst populär für die Beschreibung der Gegenwart geworden ist.“
Kowalczuk hält die These, der Westen habe mit dem Osten gemacht, was ihm beliebte, für zu einfach gestrickt und für kaum mit der historischen Realität in Übereinstimmung zu bringen.
Oschmann und Hoyer sind nach den Worten des Autors im Osten mehrheitsfähig. Dagegen dürfte sich Kowalczuk mittlerweile den Preis als oberster Nestbeschmutzer holen. Der wissenschaftliche Mitarbeiter der Hamburger Stiftung zur Förderung von Wissenschaft und Kultur arbeitet sich schon lange an der Thematik der deutschen Einheit oder Wiedervereinigung ab, wie immer man die Ereignisse der Jahre 1989/90 auch fassen mag. Für fast alle Menschen habe die damalige Wende ein großes Versprechen bedeutet, „endlich in einer richtigen Demokratie sozial satt leben zu können“. Doch irgendetwas sei nicht gelaufen wie erwartet, so der Autor. Was ging schief?
Der Westen habe viele im Osten „auf ganzer Linie“ enttäuscht und das Gefühl erzeugt, der Osten werde platt gemacht. Die „Ostler“, schreibt Kowalczuk, hätten sich über den Westen getäuscht. Der Osten übernahm, ohne wirklich gefragt zu werden, das westliche marktliberale Wirtschaftssystem. Aus dem „Wir sind das Volk“ von 1989 gegen das DDR-Regime sei dann 25 Jahre später das wutbürgerliche „Wir sind das Volk“ der Dresdner „Abendspaziergänger“ geworden. Diese hätten sich die einstige Freiheitsparole angeeignet, um gegen eine vermeintliche Islamisierung des Abendlandes zu demonstrieren. Schließlich schlug die Enttäuschung sogar gänzlich in eine Ablehnung des Westens um. Ausdruck dessen seien zum einen die Partei „Die Linke“, die aus der einstigen DDR-Staatspartei „Sozialistische Einheitspartei Deutschland“ (SED), deren Nachfolgerin „Partei des Demokratischen Sozialismus“ (PDS), sowie der SPD-Abspaltung „Arbeit & soziale Gerechtigkeit – Die Wahlalternative“ (WASG) hervorgegangen ist. Zum anderen die „Alternative für Deutschland“ (AfD). Beide werden vom Autor gleichermaßen als antiwestliche und Antifreiheits-Parteien verstanden. Auch das von der ehemaligen „Die Linke“-Politikerin Sahra Wagenknecht neu gegründete „Bündnis Sahra Wagenknecht – Vernunft und Gerechtigkeit“ (BSW) kann man wohl in diesem Kontext sehen.
Die Zäsur von 1989 habe keine generationelle Prägekraft entfaltet, versuchte sich der Historiker Martin Sabrow unlängst an einer Erklärung. So gebe es zwar eine 1945er- und eine 1968er-Generation, jedoch keine, die sich auf 1989 bezieht, so der Direktor des Potsdamer Leibniz-Zentrums für Zeithistorische Forschung. Die ideologischen Verheißungen des parteikommunistischen SED-Regimes seien lediglich gegen neue Heilsversprechen eingetauscht worden, etwa gegen Kohls „blühende Landschaften“, die der westdeutsche Kanzler zu Beginn der Währungs-, Wirtschafts- und Sozialunion von DDR und BRD am 1. Juli 1990 in Aussicht gestellt hatte. Das kam bei den DDR-Bürgern gut an – getreu dem damaligen Slogan: „Helmut, komm und nimm uns an Deine Hand und führe uns ins Wunderland.“ Die „Westler“ traten als Vorgesetzte auf, die „Ostler“ als Befehlsempfänger.
Das ungleiche Verhältnis spiegelte sich in der Frage wider, ob das Grundgesetz durch eine gesamtdeutsche Verfassung (Artikel 146) abgelöst werden sollte oder es schlichtweg zu einer Vereinigung der beiden deutschen Staaten nach Artikel 23 kommen sollte. Eine wirkliche Debatte darüber gab es nicht. Die Beitrittsvariante nach Artikel 23 setzte sich durch. Es kam zur Übernahme. Intellektuelle wie Günter Grass, die für den Artikel 146 waren, wurden nicht wirklich ernst genommen. Der spätere Literaturnobelpreisträger veröffentlichte 20 Jahre danach sein Tagebuch aus dem Jahr 1990, in dem er gestand, dass er manche Entwicklung falsch eingeschätzt habe: „Eine meiner Befürchtungen war, dass durch den Anschluss und Berlin als Hauptstadt ein zentral regierter Staat entstehen könnte. Doch das ist nicht eingetreten, Gott sei Dank. Aber alles andere ist über mein Schwarzsehen hinausgegangen. Alle Probleme sollten mit Geld gelöst werden, aber auch das war nur gepumpt.“ Was sich während der großen Finanzkrise als „Raubtierkapitalismus“ zeigte, habe sich bereits zur Wendezeit abzuzeichnen begonnen. Grass dazu: „Wir löffeln jetzt die Suppe aus, die wir uns damals eingerührt haben.“
Freiheit und Demokratie bedeutete schon zu DDR-Zeiten für die meisten in Ostdeutschland vor allem Wohlstand und Reisefreiheit.
Kowalczuk hält Dirk Oschmanns Grundthese, der Westen habe mit dem Osten gemacht, was ihm beliebte, für zu einfach gestrickt und für kaum mit der historischen Realität in Übereinstimmung zu bringen. Der Historiker mache aus dem Osten das, was er dem Westen vorwerfe: „ein seelenloses und willenloses, nicht handlungsfähiges Objekt“. Wenn solche „Oschmänner und Oschfrauen jammern, klagen, fluchen (…), dann immer nur über andere, am liebsten über übermächtige Feinde und Gegner, denen sie ausgeliefert seien.“ Zwar sei die Transformation in der früheren DDR so rasch und radikal wie in keinem anderen postkommunistischen Land vonstattengegangen, aber auch nirgendwo so „weich und süß“. Die „Diktatur des Proletariats“ sei eine „Erziehungsdiktatur“ gewesen, die Abweichler und Aussteiger, Opponenten und Individualisten durch Kollektiverziehung gemaßregelt habe.
Dass die autoritären, antidemokratischen und antifreiheitliche Tendenzen in Ostdeutschland bis heute fortwirkten, macht der Autor am Beispiel der überdurchschnittlichen AfD-Erfolge im Osten fest. Auch diese basiere auf einer Freund-Feind-Ideologie. Aus Umfragen zur Einstellung zur Demokratie, Geschichte, Politik und Freiheit geht hervor: etwa die Hälfte der Ostdeutschen sehnt sich nach autoritären, antifreiheitlichen Strukturen zurück. Die klassischen Parteien der Mitte hingegen sind selbst nach 34 Jahren Einheit in der Gesellschaft eher schwach verwurzelt, ähnliches gilt für zivilgesellschaftliche Organisationen.
Freiheit und Demokratie bedeutete schon zu DDR-Zeiten für die meisten in Ostdeutschland vor allem Wohlstand und Reisefreiheit. Das Ziel der Sehnsüchte lag in der Bundesrepublik: Nach dem Bau der Berliner Mauer 1961 flohen unzählige Menschen in den Westen, infolge des Schießbefehls wurden mehr als hundert von DDR-Grenztruppen getötet. Seit 1964 durften Rentner einmal im Jahr in den Westen reisen, später waren es 60 Tage jährlich, nach dem 1973 in Kraft getretenen Grundlagenvertrag zwischen der BRD und der DDR durften auch einige auserwählte jüngere Menschen mit besonderer Genehmigung in „dringenden Familienangelegenheiten“ zum Klassenfeind.
Pressefreiheit und repräsentative Demokratie oder die Bedeutung einer Zivilgesellschaft hätten hingegen kaum jemanden interessiert, konstatiert Kowalczuk und schreibt: „Selten war eine Gesellschaft so unpolitisch, so desinteressiert an ihren eigenen Rahmenbedingungen wie die ostdeutsche nach 1990.“ Trotzdem waren die Erwartungen groß, die mit der deutschen Einheit verbunden wurden – und noch größer war die Enttäuschung.
In Kowalczuks kompromissloser Analyse dreht sich alles um den zentralen Begriff der Freiheit: „Ohne Freiheit ist alles nichts. Ohne Freiheit keinen Frieden.“ Allerdings sei es den Ostdeutschen 1989/90 nicht so sehr um Meinungs- und Pressefreiheit gegangen, sondern vor allem um Reisefreiheit und Konsum. Schließlich erlitten sie einen „Freiheitsschock“. Mit seinem Buch will er die Ostdeutschen aufrütteln, sie aus ihrer Opferrolle und „Ostalgie“ reißen und zu mehr Eigenverantwortung bewegen.
Streckenweise geht er dabei selbst vereinfachend vor. Er beleuchtet zwar die sozialen Einschnitte und Verwerfungen, die es in der ehemaligen DDR, die er als „ideologiereiches, aber politikarmes Land“ beschreibt, durchaus gab. Zugleich jedoch nimmt er sie zu sehr billigend in Kauf. Er pocht auf bürgerlichen Liberalismus und auf einen an den Theorien des Philosophen Karl Popper orientierten individualistischen Freiheitsbegriff. Immerhin: Vergleicht man „Freiheitsschock“ etwa mit dem Buch „Ungleich vereint“ des Soziologen Steffen Mau, so ist Kowalczuks autobiographisch gefärbte Darstellung durchaus wohltuend und erfrischend – und die wohl beste und schonungsloseste Analyse von 35 Jahren deutscher Einheitsgeschichte.