Deutschland
: Strohfeuer oder Morgenrot


Das Dilemma der SPD: sich erneuern, ohne die sozialdemokratische Identität zu verlieren. Eine Bestandsaufnahme zwischen Spitzenkandidat und Basis. Teil I unserer zweiteiligen Serie vor den Bundestagswahlen.

Ehrenretter der Unterschätzten? Martin Schulz mit sozialdemokratischer Entourage am vergangenen Samstag in Saarlouis. (Foto: Youtube)

Kurz vor Ende des Wahlkampfs ist Oliver Kacmarek mit seinem Latein am Ende. Nicht, dass er keine Motivation mehr verspürt – im Gegenteil. „Selbstbewusst weiterkämpfen“ will er. Noch bleiben zwei Wochen. „Eine Frage der Körperhaltung“ ist das für ihn, Spross einer Bergmannsfamilie aus dem östlichen Ruhrgebiet. Verzagen? Nicht mit ihm. Aber was er sich einfach nicht erklären kann, ist dies: Was ist passiert mit seinem Kanzlerkandidaten? Zu Jahresbeginn der hellste Stern seit langem am sozialdemokratischen Firmament, droht er nun im Rekordtempo zu verglühen: „Wie kann man innerhalb von wenigen Wochen so hochschießen und dann genauso schnell wieder so runtergehen?“

Was Gegensätze rund um seine Partei betrifft, ist Kaczmarek Experte. Seit 2009 vertritt er den Wahlkreis Unna im Bundestag. Dort gehörte er Fraktionen an, die zu den kleinsten der SPD-Geschichte zählen. Er selbst wurde zuletzt mit absoluter Mehrheit nach Berlin gewählt, wie überhaupt die SPD hier in den letzten Jahrzehnten fast immer mehr als die Hälfte der Stimmen geholt hat. Die Mitgliederzahlen sind zwar rückläufig, doch noch immer weit höher als anderswo. In allen Vereinen sind Sozialdemokraten vertreten, man steht nah bei Gewerkschaften und Bürgern, und soziale Themen prägen seit jeher die Agenda. Ein Stück heile, sozialdemokratische Welt, könnte man meinen.

Zwei Wochen und zwei Tage vor der Bundestagswahl fällt westfälischer Dauerregen auf das Städtchen Kamen, und darum wird der geplante Info-Stand gar nicht erst aufgebaut. Was Oliver Kaczmarek und ein paar der Genossen des Ortsvereins Zeit gibt, die Lage zu erörtern. Zu viert sitzen sie in der Bäckerei eines Supermarkts, der Vorsitzende Michael Krause, sein Stellvertreter Daniel Heidler und Joachim Eckardt, der fast ein halbes Jahrhundert SPD auf dem Buckel hat und im nahen Dortmund Hauptschul-Rektor war. „Auch ’n Pott Kaffee?“, fragt Kaczmarek in die Runde. Nicken. Kamens Mann in Berlin stellt stattliche Tassen auf den Tisch.

Unverzagt in Westfalen

Verzagt ist keiner von ihnen, im Gegenteil. Nur weiß man eben, dass die Bundestagswahl eine ganz andere Sache ist als so ein Heimspiel im Ruhrpott. In den letzten Umfragen liegt man bei 21 Prozent. Selbst das Herzland NRW verlor die SPD im Mai. „Das hat uns tief getroffen“, sagt Kaczmarek. „Die europäische Krise der Sozialdemokratie wirkt auch bei uns“, nennt er einen der Gründe. „Dazu kommt Pragmatismus statt ambitionierter Projekte wie „Mehr Demokratie wagen“, Friedenspolitik oder die Vision einer besseren Gesellschaft.“ Michael Krause, der Vorsitzende, fügt hinzu: „Früher gab es auch charismatische Figuren wie Brandt, Schmidt und Wehner. Das fehlt uns heute.“

Wie aber ist das, wenn einem dann noch die rechten Identitären die Wähler abspenstig machen, mit einer Agenda, die zunehmend sozial eingefärbt ist? Joachim Eckardt, der Routinier, erzählt von seiner eigenen Wahl-O-Mat-Erfahrung, die ihn schockierte. „Da hatte ich auch einiges an Übereinstimmung mit der AfD.“ Seine Lehre daraus ist klar: „Das ist gerade Motivation, die eigene Arbeit weiterzumachen. Man kann doch nicht nach 49 Jahren hinschmeißen und denen das Feld überlassen!“

Was die Versammelten eint: die Überzeugung, dass an sozialdemokratischen Kernwerten kein Weg vorbeiführt. Geprägt sind sie alle davon, auch Daniel Heidler, mit Mitte 30 der jüngste in der Runde, der 1998 in die SPD eingetreten ist, weil er die Lohnfortzahlung im Krankheitsfall erhalten wollte. „Mein Vater hat in einer Fabrik gearbeitet. Ich sagte mir: Wenn er krank wird, ist das doch nicht seine Schuld“. Heidler, der als Studienrat an einem Berufskolleg beschäftigt ist, gibt sich zudem überzeugt, dass er seinen eigenen sozialen Aufstieg dem sozialdemokratischen Projekt der Gesamtschule verdankt: „Meine Eltern hätten sich nicht getraut mich aufs Gymnasium zu schicken.“

Das alte Dilemma rückt ins Bild, das die SPD seit Jahrzehnten prägt und quält: mit einem Bein steht man auf altem Terrain, mit dem anderen versucht man, mittels Reformen auch in anderen Bereichen Tritt zu fassen. Oliver Kacmarek sagt, man solle die Große Koalition lieber nicht fortsetzen. Wobei man dann auch „weniger Hebel in Berlin in den Händen“ hätte. Einstweilen setzt die SPD verstärkt auf ihre alten Rezepte. Warum sonst ist der Kanzlerkandidat seit Wochen unterwegs durch die Republik, zwei Ortstermine am Tag, und verkündet, es sei „Zeit für mehr Gerechtigkeit“?

Das vorletzte Wochenende vor der Wahl führt den Kanzlerkandidaten nach Saarlouis. Martin Schulz verbindet einiges mit diesem 35.000 Einwohner zählenden Industriestädtchen. Die Randlage im alten Westdeutschland, zum Beispiel: Schulz kommt von der belgischen Grenze, Saarlouis liegt an der französischen. Der unscheinbare Bahnhof des Orts dient als Kulisse für die Veranstaltung, und deren Hauptredner wirkt an diesem Samstagmittag noch ein wenig unausgeschlafen. Über Schulz’ vermeintlich durchschnittliches Äußeres wird in diesen Wochen viel geschrieben, und müde ist er sicher, nach dieser Ochsentour von einem Wahlkampf.

Schulz in Saarlouis

Als er die Bühne betritt, ist von Müdigkeit allerdings nichts mehr zu bemerken. Schulz, 61, muss zweifellos angreifen, wenn er bei der Wahl noch etwas bewirken will. Er tut es mit Leidenschaft. Das linke Bein angewinkelt, die rechte Hand als Taktstock in der Luft, verkündet er hinter seinem roten Pult: „Das Land kann mehr erreichen, wenn ein Sozialdemokrat Kanzler ist. Das strebe ich an.“ Dann präsentiert er sein Thema, soziale Gerechtigkeit. Er klagt die Ausbeutung von Leiharbeitern an, die schlechtere Bezahlung von Frauen, die er sogleich an diejenige der Männer anpassen werde, die sinkenden Rentenerträge bei höheren Bezügen. Und, was ihm als aus Brüssel kommender Quereinsteiger natürlich leichter fällt, die Schelte des bisherigen Koalitionspartners CDU, der mehr Gerechtigkeit verhindert habe.

Seine Inhalte präsentiert Martin Schulz in volksnahem Plauderton, und hält dabei die Balance zwischen Jovialität und Anbiedern. Im rheinischen Singsang, langsam Fahrt aufnehmend, skizziert er die sozialen Gegensätze, er sagt „wenn de“ statt „wenn du“, und streut häufig ein „Sie kennen dat doch auch“ ein. Das erinnert sehr an populäre TV-Satiriker, nur folgt statt einer humoristischen Pointe eine satte Anklage der „Zwei-Klassen-Medizin“. Dass der Kanzlerkandidat sich für die allgemeingültige gesetzliche Krankenversicherung ausspricht, ist klar.

Die Masche zieht, nicht nur im Saarland. Es ist genau das, was Martin Schulz seit Beginn des Wahlkampfs sagt, und was die Menschen von ihm hören wollen. Jetzt, am Ende der Kampagne, drängt sich der Eindruck auf, es sei auch sein letzter verbliebener Trumpf: die Wahrnehmung, der Kanzler-Kandidat sei „einer von uns“, die auch der Ursprung des sogenannten Schulz-Effekts war. Die Hoffnung bleibt, die SPD damit aus der Schusslinie jener zu rücken, die die Sozialdemokratie als Teil der politischen Elite, als entfremdet von der Basis charakterisieren.

Ehrenretter der Unterschätzten und Belächelten – diese Rolle muss Schulz nicht erst lernen. „Ich hab auch kein Abitur“, hebt er an, und verweist auf Journalisten, die sich darüber lustig gemacht haben. Kaum weiß man noch, wer ihm eigentlich diese Attribute auf den Leib geschrieben hat, das Aussehen eines Sparkassen-Mitarbeiters, den Charme eines Eisenbahners. Klar aber ist: es sind Steilvorlagen für Martin Schulz. Seine Stimme wird schärfer: „Was für eine Verachtung“, und er klingt wirklich empört. Luft holen muss er, bevor er einfordert: „Ich will, dass diese Menschen respektiert werden.“ Auch dass er Anzüge von der Stange und Kassengestelle auf der Nase trage, habe man ihm vorgeworfen. Schulz deutet das in Symbole seiner Bodenhaftung um. Und genau an diesem Punkt brandet ihm dann auch in der Tat tosender Applaus entgegen.

Nun nimmt Schulz Angela Merkel ins Visier. „Sie will die Vergangenheit verwalten, ich die Zukunft gestalten“, reimt er. Eloquenz kann man ihm nicht absprechen. Doch eigentlich kommen einem andere Fragen in den Sinn: Wäre er wirklich bereit, einen langfristigen Neuaufbau der SPD zu betreiben? Würde die Partei ihm, dem EU-Politiker, nicht doch aus der fehlenden Hausmacht einen Strick drehen und ihn bei den anderen gescheiterten Kandidaten einreihen? So oft er auch betont, was er nach dem 24. September alles tun möchte – die Wahrscheinlichkeit, dass er die Chance dazu bekommt, ist nicht hoch.

Am Ende wird der Kandidat aus dem katholischen Rheinland dann noch zum roten Rufer in der schwarzen Wüste – oder gar zum Missionar? „Erzählt, was ihr gehört habt“, schickt er seine Zuhörer hinaus in die Welt. Für ihn selbst geht der Marathon weiter: am späten Nachmittag steht noch Mainz auf dem Programm.

Tobias Müller berichtet für die woxx vorwiegend aus den Niederlanden und Belgien. Vor den Bundestagswahlen ist er für uns in Deutschland unterwegs.

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