Frankreich: Rückkehr nach Calais


Vergangenen Herbst erklärten die französischen Behörden das Flüchtlingsproblem am Kanal für beendet. Doch längst sind die Migranten zurück. In Sichtweite des Sehnsuchtsorts Großbritannien bahnt sich eine neue Eskalation an.

Kostbare Körperpflege: Nach der Räumung des „Jungle“ von Calais sind Migranten, die versuchen, nach England zu gelangen, auf die mobile Infrastruktur der Hilfsorganisationen angewiesen. (Foto: Daniel Seiffert)

Mick Jagger, Elizabeth II. und Alfred Hitchcock stehen am Strand von Calais. Es ist Freitagabend, eigentlich beinahe Nacht, doch so früh im Sommer liegt ganz im Westen des europäischen Festlands noch immer ein Stück Dämmerung über dem Meer. Die drei britischen Ikonen könnten sich fragen, was sie hier eigentlich zu suchen haben, am Rand dieser Hafenstadt, gegenüber den White Cliffs of Dover, die man tagsüber manchmal vom Strand aus sieht.

Doch Jagger, die Queen und Hitchcock schweigen. Denn sie sind bloß Kunstwerke, die hier die Promenade zieren. Wie weitere Symbole des Vereinigten Königreichs wurden sie von Fotografen und Designern dargestellt, „auf humorvolle Weise“, wie ein Hinweisschild erklärt. Betontafeln mit solchen Konterfeis ziehen sich den Strand entlang, eine Ausstellung, die britische Touristen unterhalten soll, um die sich Calais verstärkt bemüht. Nebenan, in einem roten Doppeldecker-Bus, ist eine Union Jack- Flagge hinter der Scheibe drapiert. Davor liegen Broschüren für Besucher, von denen eine „Calais Celebrates Summer“ verspricht. Die Saison hat begonnen.

Eine halbe Stunde später und gut einen Kilometer weiter bezieht die Feierlaune Menschen wie Reza, Abdul und Fitim nicht mit ein. Während Kneipengäste in der lauen Nacht auf der Terrasse sitzen, schlendern die drei über die verwaiste Place d‘Armes. Vielleicht taucht doch noch jemand auf, der ein wenig Geld hat für etwas zu essen? Die Verteilung am frühen Abend ist schon Stunden her. Oder sollen sie gleich hungrig hinüber zur Brücke am Kanal laufen und sich darunter Schlafen legen?

Reza, Abdul und Fitim, die eigentlich anders heißen, sollten hier in Calais eigentlich gar nicht sein. Die französischen Behörden dachten, sie hätten zumindest an diesem Ort die Sache mit den Transitmigranten endgültig gelöst. Das zumindest verkündeten sie, nachdem sie letzten Herbst den „Jungle“, das größte inoffizielle Flüchtlingslager Europas, geräumt und planiert hatten – die woxx hatte in ihrer Ausgabe vom 27. Oktober 2016 von vor Ort darüber berichtet. Gut die Hälfte der zuvor mehr als 10.000 Bewohner brachte man in sogenannte „Willkommenszentren“, verteilt über das ganze Land, von wo aus sie einen Asylantrag in Frankreich stellen sollten. Alle anderen hatten sich vorher aus dem Staub gemacht, um weiter nach einem Weg über den Ärmelkanal zu suchen.

Doch die behördliche Vollzugsmeldung ist zu früh erfolgt. Davon zeugen die drei Männer, die jetzt auf der dunklen Place d’Armes stehen. Reza, der älteste, ein Kurde aus dem Nordirak, ist Mitte 30, klein und drahtig, sein Kopf fast kahl, die Züge markant. Abdul, zehn Jahre jünger, ist ein afghanischer Paschtune, so wie seit jeher ein großer Teil derer, die von Calais aus nach England gelangen wollen. Ein stiller Typ in Jogginghose, mit verträumtem Blick unter der Schirmmütze. Der jüngste, Fitim, Jeans, T- Shirt und rote Turnschuhe, ist erst 16. Am Tag zuvor kam er aus Albanien hier an. Sie sind drei von etwa 600 Migranten, die inzwischen wieder in der Stadt versammelt sind.

„Die Polizei nimmt jede Nacht den Schlafenden ihre Decken weg.”

Abduls Fall ist beispielhaft. Im Herbst 2016 kam er hier an, kurz vor der Räumung des „Jungle“. Wie rund 6.000 weitere der von dort Vertriebenen entschloss auch er sich, den Winter in einem der „Willkommenszentren“ zu verbringen. Als dieses im Frühjahr schloss, kehrte er aus Toulouse zurück an den Kanal. In einem Vorort von Dunkerque fand er in einem Hütten-Lager von „Médecins Sans Frontières“ Unterschlupf. Nach Streitigkeiten zwischen kurdischen und afghanischen Bewohnern wurde das Lager im April durch einen Brand zerstört. Über tausend Personen hatten dadurch ihre Behausung verloren. Calais, 40 Kilometer entfernt, war nicht nur für Abdul eine naheliegende Option. Am Handgelenk trägt er noch ein blaues Plastik-Band mit der Aufschrift „Dunkerque“.

Nach England zu kommen, mit Hilfe eines LKW, sei „sehr, sehr schwierig“ geworden, versichern sie. In letzter Zeit sei es niemandem mehr gelungen. „Trotzdem versuchen wir es jeden Tag“, so Reza. „Nachts gibt es zu viel Polizei!“ Der Ort, an dem sie ihr Glück versuchen, ist nicht mehr der Hafen mit seinen fünf Meter hohen engmaschigen Zäunen samt Natodraht-Krone. Auch nicht die ähnlich scharf gesicherte Autobahn beim früheren „Jungle“. Stattdessen wandern sie anderthalb Stunden nach Marck, wenige Kilometer östlich von Calais. „Wenn die Fahrer dort vor der Überfahrt etwas einkaufen, versuchen wir an Bord zu kommen.“ Reza, Abdul und Fitim empfehlen sich in Richtung Brücke. Am nächsten Morgen wollen sie früh aufbrechen.

Marck, rund 10.000 Einwohner, liegt nahe der Autobahn zu Hafen und Tunnel. Außerhalb des winzigen Städtchens befindet sich so etwas wie das logistische Zentrum des Frachtverkehrs am Ärmelkanal. Man wähnt sich in einem Archipel von Lagerhäusern, Kreisverkehren und Parkplätzen; neu aussehende Zäune durchschneiden die Felder – ein sicheres Zeichen, dass Marck für die Transitmigration von Bedeutung ist.

Am Rand der Felder sieht man immer wieder gebückte Silhouetten entlanghuschen, mal zwei, mal drei, auf der Suche nach einem Versteck auf einem LKW. Dass die Chancen schwinden, liegt auch an dem Parkverbot, das seit Juni hier in der Gegend gilt. Außerhalb deklarierter Parkplätze werden alle Fahrzeuge abgeschleppt, wie einem Aushang an der Schiebetür zur örtlichen Filiale der Ladenkette „All4Trucks“ zu entnehmen ist. Hier gibt es auch ein Restaurant, Duschen und Aufenthaltsräume, nebenan 14 Diesel-Zapfsäulen und einen mit elektrischem Zaun gesicherten Parkplatz, auf dem Hunderte von LKW stehen.

Irgendwo auf dem Gelände verbringt auch ein junger litauischer Fahrer, der sich als Eddy vorstellt, die Zeit bis zur Überfahrt. Er trägt einen dunklen Jogginganzug und hat adrett frisierte kurze Haare. Angst macht ihm der Job nicht, den er erst seit einigen Monaten hat, obwohl er Teile davon einen „Albtraum“ nennt. Selbst tagsüber, erzählt Eddy, versuchten Migranten, in oder unter seinen LKW zu kommen, oder gar in den Zwischenraum zwischen Dachspoiler und Kabine. „Sobald man hier vom Parkplatz fährt und sich das Tor öffnet, sind sie da.“ Eddy weist auf die schwarze Plane seines Fahrzeugs. An beiden Seiten finden sich lange Schnitte, die notdürftig ausgebessert worden sind.

Besonders angespannt ist die Stimmung seit einem tödlichen Vorfall Ende Juni. Wieder einmal hatten Migranten nachts die Autobahn mit Ästen blockiert, ein verzweifelter, lebensgefährlicher Versuch, einen LKW zum Anhalten zu zwingen. Beinahe vier Uhr war es, als der Fahrer eines polnischen Transporters einen Moment zu spät reagierte: Er prallte auf den stillstehenden Truck vor ihm, und sein Fahrzeug ging in Flammen auf.

Die drastischen Maßnahmen, zu denen Migranten greifen, spiegeln die Bedingungen in Calais wieder. So problematisch die Verhältnisse im „Jungle“ waren, bot dieser immerhin ein Minimum an Infrastruktur und Hilfe durch die zahlreichen Freiwilligen. Im Frühjahr 2017 verbot Natacha Bouchart, Calais‘ republikanische Bürgermeisterin, nun gar, Essen an Transitmigranten zu verteilen. Seither wirken die Hilfsorganisationen im Verborgenen. Natürlich weiß man im Rathaus längst davon. Manchmal toleriert man es, manchmal geht man gegen die Migranten vor, um sie zu vertreiben.

Diese Art der Elendsverwaltung ist typisch für Calais: man bekämpft die Symptome einer Krise, die mit Räumbaggern und Verboten nicht zu bewältigen ist. Statt des „Jungle“ gibt es nun wieder zahlreiche kleine Nischen, in denen sich das Geschehen abspielt. Eine davon ist der Parc Saint Pierre, der gegenüber dem Rathaus gelegen ist. An einem kühlen Vormittag Anfang Juli haben sich dort etwa 20 Migranten eingefunden, darunter auch einige Kinder sowie ein paar Freiwillige, die in einer Ecke Baguette, Bananen und Tee austeilen. Sie tragen die knallgelben Windjacken der „Association Salam“, die seit anderthalb Jahrzehnten am Kanal Migranten unterstützt.

„Nur, weil sie einen Ort zerstören, wo Menschen leben, heißt das nicht, dass sie das Problem gelöst haben.“

Seit acht Jahren ist auch Claire Millot dabei, eine pensionierte Französisch-Lehrerin mit kurzen, grauen Haaren. Was die aktuelle Situation ausmacht? „Für den „Jungle“ und das benachbarte Auffanglager für Frauen und Kinder hatte die Regierung eigentlich versprochen, dass die Migranten dort bleiben könnten“, so Millot, die aktuell Generalsekretärin von „Salam“ ist. „Nun haben sie beides planiert, Und zum ersten Mal, seit es hier Migranten gibt, dürfen sie keine Zelte haben. Wenn die Polizei doch welche findet, werden sie von ihr zerstört. Und sie nimmt jede Nacht den Schlafenden ihre Decken weg.”

Verzweiflung lässt kein Risiko zu groß erscheinen: Sogar der Dachspoiler eines LKW bot blinden Passagieren schon ein Versteck. (Foto: Daniel Seiffert)

Im Juni gab ein Gericht in Lille der Klage mehrerer Hilfsorganisationen recht, wonach die Stadt den Migranten nun Wasser und Duschen zur Verfügung stellen muss. Die Bürgermeisterin will in Berufung gehen. Claire Millot und ihre Mitstreiter warten nicht auf das Urteil, sondern verteilen aus Bussen täglich Essen und Getränke. „Manchmal werden wir verjagt, zur Zeit geht es aber“, beschreibt sie die Lage. Ob sie damit gerechnet hat, ihre Arbeit auch nach dem Ende des „Jungle“ fortzusetzen? „Natürlich. Uns war bewusst, dass weiter Menschen kommen, die nach England wollen. Und solange machen wir weiter.“

Die Unbeirrbarkeit dieser Initiativen ändert nichts daran, dass die Spannungen in Calais zunehmen. Ein sicheres Anzeichen dafür sind Gewaltausbrüche zwischen Migranten. Meist geht es um Konkurrenzkämpfe, um das wenige, das es zu verteilen gibt: Zugang zu Rastplätzen oder LKW. Anfang Juli lieferten sich Äthiopier und Eritreer zwei Schlägereien. An einer davon nahmen lokalen Medien zu Folge 100 bis 200 Personen teil, die zum Teil mit Stöcken aufeinander losgingen und sich mit Steinen bewarfen. Schauplatz: der Rand des Industriegebiets, hinter dem einst der „Jungle“ war. Ein Wäldchen dort dient nun zahlreichen Migranten wieder als Unterschlupf, ebenso provisorisch wie in der Stadt die Brücke am Kanal.

Durchschreitet man das Feld, das dem Wäldchen vorgelagert ist, kann man bei manchen derer, die hier campieren, die Spuren der Gewalt noch sehen. Überall auf dem Boden sitzen kleine Gruppen meist afrikanischer Männer, auch ein paar Frauen sind dabei. Manche haben sich auf Felsbrocken niedergelassen, andere liegen ausgestreckt unter niedrigen Bäumen, die Schatten spenden. Ein junger Mann ohne T-Shirt trägt einen Verband um die Taille, ein älterer einen am Fuß. Neben ihm auf dem Boden liegt eine Krücke. Manche hier haben Verletzungen im Gesicht und an den Armen. Ein weißes Armband macht jene erkennbar, die im Krankenhaus behandelt worden sind.

Auf einem Trampelpfad betritt man das Wäldchen, das, wie in Calais üblich, längst wieder „Jungle“ genannt wird. Der Pfad schlängelt sich zwischen Laubbäumen hindurch. Abfall liegt auf dem Boden, auch ein paar Kleidungsstücke, aber keinerlei Zeichen von Behausungen. Dabei schlafen hier jede Nacht mehrere hundert Menschen. Ihre Anwesenheit ist bekannt, nicht erst seit den Schlägereien. Auf einem nahen Parkplatz am Rand des Industriegebiets verteilen Freiwillige abends Essen. Die Bereitschaftspolizei CRS ist mit zwei Mannschaftswagen präsent, hält sich aber im Hintergrund.

Wenig später fährt auf dem Feld vor dem Wäldchen ein gelber Pick-Up vor. Darin sitzen zwei Mitglieder der englischen Organisation „Help Refugees“. Die Initiative hatte sich schon im alten „Jungle“ engagiert. Die beiden Helfer entwirren ein Knäuel von Verlängerungskabeln, jedes davon mit sechs Steckdosen versehen. Ein Generator wird angeworfen. Er legt ein gleichförmiges Brummen über die Szenerie, während die Bewohner des neuen „Jungle“ ihre Mobiltelefone aufladen können.

Dann zieht einer der Helfer einen Schlauch von der Ladefläche. Aus einem massiven Wassertank befüllen die Bewohner des Wäldchens ihre Flaschen, dann beginnen sie auf dem Feld mit der Körperpflege – Zähneputzen, Haare waschen und Rasieren. Für Calais im Sommer 2017 ist diese Szene symptomatisch: Obwohl die Stadt jede Infrastruktur unterbinden will, gibt es erste Anzeichen einer Grundversorgung. Gerade wegen der strengen Haltung der Behörden aber ist diese örtlich mobil und zeitlich beschränkt.

„Mehrere Männer beschimpften mich und griffen mich an. Die Polizei rettete mich – dann sprühten sie mir Tränengas ins Gesicht.“

Gewährleistet wird diese Infrastruktur von Menschen wie dem Medizinstudenten Luke Bontrager, der hinten auf der Ladefläche des Pick-Up sitzt und jetzt Zahnbürsten, Rasierschaum und Einwegrasierer austeilt. Neben ihm steht ein Karton mit Pappbechern. Bontrager ist 22 Jahre alt und für zwei Monate aus dem US-amerikanischen Kansas hierhergekommen. Von Calais hatte er noch nie zuvor gehört, doch als ein Bekannter von der Flüchtlingskrise in Griechenland erzählte, begann er sich zu informieren. So erfuhr er von der Situation am Ärmelkanal.

Täglich kommt Luke Bontrager hier heraus, um Wasser und Hygiene-
artikel auszugeben – oder er hilft in der Lagerhalle in einem anderen Industriegebiet, in der Hilfsgüter gesammelt werden. Als Freiwilliger hat er sich zuvor bereits in der Dominikanischen Republik engagiert. Den früheren „Jungle“ hat er nie gesehen, doch macht er sich so seine Gedanken: „Es scheint hier eine gewisse Art zu geben, die Dinge unter den Teppich kehren zu wollen. Da hörst du also, das Camp sei aufgelöst, und sie wollen die Sache aus der Stadt halten. Aber nur, weil sie einen Ort zerstören, wo Menschen leben, heißt das nicht, dass sie das Problem gelöst haben.“

Dass die Migranten nun wieder stärker im Stadtbild zu sehen sind, bringt sie auch ins Visier von rassistisch Gesinnten. Ein somalischer Mann, der sich als Mohamed vorstellt, kann das bezeugen. Ein Pflaster verdeckt eine Gesichtswunde, die ihm in der vergangenen Nacht zugefügt worden ist. „Mehrere Männer beschimpften mich als „Nigger“ und griffen mich an. Die Polizei rettete mich. Dann zogen sie mich vom Boden hoch und sprühten mir eine Ladung Tränengas ins Gesicht.“

Doch auch Tränengas wird die Transitmigranten nicht davon abhalten, nach Calais zu kommen – ebenso wenig wie Zäune oder Bagger. Räumung, Vertreibung und Rückkehr, das ist nun schon anderthalb Jahrzehnte der tragische, der groteske Kreislauf hier am Kanal. In diesen Tagen zeigt sich das nirgendwo so deutlich wie in einem Gewerbegebiet am Rande der Stadt. An einer Autobahnauffahrt, nur drei Kilometer vom früheren „Jungle“ entfernt, spielen sich die altbekannten Szenen ab.

In der Dämmerung huschen kleine Gruppen Migranten an den Zubringern entlang, manche bleiben im Hintergrund, andere setzen sich plötzlich in Richtung geparkter oder langsam passierender LKW in Bewegung. Von ihren Mannschaftswagen aus jagen ihnen CRS-Kräfte in ihren dunkelblauen Uniformen hinterher. Ständig verlagert sich das Geschehen von einem Kreisverkehr zum nächsten, es wogt hinein ins Industriegebiet und sogleich wieder hinaus. Zwei Stunden später, als die Dunkelheit sich über die Gegend gelegt hat, flackert Blaulicht über die Autobahn. Eine weitere Nacht in Calais hat gerade erst begonnen.

Tobias Müller arbeitet als freier Journalist vorwiegend in Belgien und den Niederlanden. Auch über die Situation in Calais berichtet er bereits seit Jahren regelmäßig für die woxx.

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