Gesellschaft & Coronapandemie (2): Negative Befreiung vom Realitätsprinzip

Wie hängen Kapitalismus, die Entstehung moderner Epidemien und irrationaler Widerstand gegen staatliche Impfkampagnen zusammen? In seinem neuen Buch „Krankheit als Kränkung“ liefert der Autor Uli Krug einen überzeugenden Erklärungsversuch.

Freiheit, jedenfalls: Protest gegen die staatlichen Maßnahmen zur Coronabekämpfung im September 2021 in den Niederlanden. (Foto: EPA-EFE/Jeroen Jumelet)

Als der österreichische Sozialdemokrat Victor Adler sich im Sommer 1892 die schrecklichen Folgen der Choleraepidemie in Hamburg vor Augen führte, stand für ihn völlig außer Frage, dass die Gesundheitskrise nur mit staatlicher Hilfe zu bewältigen sei. Allein dem Staat stehe die Macht zur Verfügung, „die Widerstände, welche städtischer Krämergeiz und kurzsichtige Kirchthurmpolitik bereiten, zu beseitigen“. Zumindest die gröbsten Mängel würden nun behoben, allen voran die bislang fehlende staatliche Organisation der Gesundheitspflege inklusive eines Seuchengesetzes.

Über den wahren Charakter der plötzlichen staatlichen Betriebsamkeit machte sich Adler, der ein Freund von Friedrich Engels war, für einen Sozialdemokraten erstaunlich wenig Illusionen. Wie die Tuberkulose sei auch die Cholera eine „Proletarierkrankheit“. Die staatliche Gesundheitsfürsorge werde den Armen und Proletariern daher allein deshalb zuteil, weil von ihnen und ihren Wohnquartieren auch eine Gefahr für die Gesundheit der Bourgeoisie ausgehe. An einer tiefgreifenden Verbesserung der Lebensverhältnisse der armen Bevölkerungsschichten sei den entscheidenden Stellen aber nicht gelegen, da die Gefahr, die dies „für die Intensität der kapitalistischen Ausbeutung“ mit sich brächte, für die „Besitzenden noch immer eine grössere und dringendere“ sei, als jede Bedrohung durch eine Epidemie. Dennoch sei die derzeitige Situation auszunützen, so Adler, denn mit dem momentanen Schrecken habe sich bei Staat und Besitzenden „die psychologische Disposition zur Sozialreform“ vorübergehend erhöht.

Victor Adler hatte den Klassencharakter der Epidemie damals also klar erkannt und in seinem Artikel über „Cholera und Sozialpolitik“ illusionslos ins Zentrum gestellt. Angesichts der heutigen Coronapandemie versuchen nur wenige, deren Ursachen und Folgen im Sinne einer Kritik der politischen Ökonomie zu analysieren. Der in Berlin lebende Gesellschaftskritiker Uli Krug ist einer von ihnen. In seinem Anfang des Jahres erschienenen Buch mit dem Titel „Krankheit als Kränkung“ liefert er einen kurzen Abriss der ökonomischen und gesellschaftlichen Hintergründe moderner Epidemien und zeigt, dass jede von ihnen eine Sozialgeschichte hat. Er geht aber auch der Frage nach, inwiefern solche sozialgeschichtlichen Faktoren die Herausbildung jener Sozialtypen begünstigt, die heute die Pandemie verharmlosen und gegen die staatlichen Impfkampagnen agitieren.

Folgen der neuen Arbeitsteilung

Um die sozialgeschichtlichen Aspekte der Entstehung von Epidemien und Pandemien zu verdeutlichen, greift der Autor bis in die Geschichte der Privatkolonie des belgischen Königs Leopold II. und die nachfolgende Kolonie Congo belge zurück. Die Entwicklung im Kongo hat für Krug nämlich Modellcharakter: So habe die expansive Plantagenwirtschaft zur Produktion von Kautschuk, Palmöl und Kaffee neben der grausamen Ausbeutung der Arbeitskraft auch lokale Ernährungsweisen verunmöglicht und die ansässige Bevölkerung von den Ressourcen ihrer Produktion getrennt. Eine Praxis, in der Krug die Vorläufer der Strukturanpassungsprogramme erkennt, wie sie in den 1970er- und -80er-Jahren dem damals Zaire genannten Land vom Internationalem Währungsfonds (IWF) und der Weltbank auferlegt worden sind. Dies habe dazu geführt, dass das Bildungs- und Gesundheitssystem, aber auch elementare Dienste wie die Müllabfuhr zusammenbrachen. Auch die verarbeitende Industrie des Landes sei kollabiert, während das einstige Agrarexportland heute nahezu vollständig von Lebensmittelimporten abhängig sei.

Was in der heutigen Demokratischen Republik Kongo geschehen ist, gilt pars pro toto für viele der sogenannten Entwicklungs- und Schwellenländer: Auch in weiten Teilen des restlichen Afrikas und in Lateinamerika schrumpft der Anteil des Industriesektors an der Wertschöpfung beständig. Investitionen aus Ländern wie China führen weder dazu, dass lokale Arbeitsplätze geschaffen werden, noch regen sie lokale Wachstumsprozesse an. Es gehe hauptsächlich um die Gewinnung und den Abtransport von Rohstoffen, auch die verbleibenden landwirtschaftlichen Nutzflächen seien durch „landgrabbing“ auf den Export orientiert.

So hat die kapitalistische Ausbeutung in vielerlei Hinsicht den Epidemien den Boden bereitet: Wildtierkolonien rücken infolge der für Monokolonien gerodeten Wälder immer näher an menschliche Siedlungen heran, wo der Verzehr von „bush meat“ das unerschwinglich gewordene Zuchttierfleisch zum Proteinbedarf ersetzt. Zusammen mit der hochkonzentrierten Viehzucht bilden diese und noch mehr von Krug genannte Aspekte ideale Bedingungen für Zoonosen, also die Übertragung von Krankheitserregern von Tieren auf Menschen. Zugleich sind die unter dem Austeritätsdiktat stehenden Staaten nicht mehr in der Lage, die dringend benötigten Seuchenkon-trollprogramme zu finanzieren. Die katastrophalen Resultate dieses Verarmungs- und Verwüstungsprozesses in den jeweiligen Ländern sind laut Krug „ideale“ Entstehungsbedingungen für die modernen Epidemien, die ihre Vorläufer in Ebola, dem Denguefieber und nicht zuletzt auch dem HI-Virus beziehungsweise der Aids-Erkrankung hatten.

All dies ist nicht neu; doch gelingt es Krug, pointiert darzulegen, dass unter den Bedingungen der sich unablässig verdichtenden kapitalistischen Produktionsweise die Coronapandemie einen nahezu unvermeidbaren Verlauf genommen hat. Diese sieht der Autor vor allem als Produkt der sogenannten „Neuen Internationalen Arbeitsteilung“: Wurden früher zwischen den Industrie- und Entwicklungsländern vorwiegend Rohstoffe gegen Industrieprodukte getauscht, ist es bei der „neuen“ Arbeitsteilung die Arbeitskraft vorwiegend asiatischer Schwellenländer, die attraktiv geworden ist, da deren Kosten nur einen Bruchteil der Arbeitskosten in den Industrieländern ausmachen.

Mit den für die Auslagerung der industriellen Fertigung erforderlichen modernen Transporttechnologien gehen jedoch auch die modernen Erreger auf die Reise, wie Krug konstatiert, und so sehen sich die postindustriellen Teile Europas auf diese Weise plötzlich selbst wieder mit einigen Folgen der aus den Hungerlöhnen resultierenden katastrophalen Armut konfrontiert.

In den betreffenden Ländern, wo Zustände herrschen, die man hierzulande nur mehr aus den Geschichtsbüchern kennt, wurde in den vergangenen Jahren verzweifelt darum gekämpft, trotz blanker Staatskassen an der globalen Verteilung des Impfstoffes gegen Covid-19 teilzuhaben und über all dem auch die Produktion von Impfstoff gegen andere Infektionskrankheiten nicht zu vergessen, die dank der aufgezwungenen Austeritätsprogramme in den ärmeren Ländern wieder epidemisch geworden sind. In geradezu absurdem Kontrast dazu wird hierzulande gegen staatliche Impfprogramme protestiert.

Die Rede von einer Spaltung der Gesellschaft, die durch die staatliche Politik riskiert werde, kann Krug überhaupt nicht nachvollziehen. Sie wäre ihm zufolge „rational nur zu verstehen, wenn ein Teil dieser Gesellschaft – Arme, Alte, Arbeitslose beispielsweise – von Impfung und Behandlung ausgeschlossen wäre“. Das Gegenteil sei jedoch der Fall: „Der Konflikt entzündet sich daran, dass alle möglichst gleichermaßen gegen Covid-19 geimpft werden sollen und dass Rücksicht auf besonders vulnerable Gruppen der Gesellschaft gefordert wird.“ Wie also lässt sich der auch in Luxemburg zu beobachtende Furor erklären?

Auch hierzu zieht Krug die globalen Auswirkungen der Neuen Internationalen Arbeitsteilung heran, allerdings anders als die Entstehung der Pandemien psychologisch und daher indirekt: „Grundlegend scheint hier die Abkoppelung in den Metropolen von der Realität der Produktion zu sein, deren Bewohner von der unsichtbaren Alimentierung durch die ebenso unsichtbare Überausbeutung in der ehemaligen Peripherie abhängen“, so der Autor: „Diese Abkoppelung stiftet eine handgreifliche Phantasmagorie, nämlich das Zuhandensein aller Waren, ohne sie herstellen zu müssen, oder wenigstens der Notwendigkeit bewusst zu werden, dass sie irgend jemand in irgendeiner Weise hergestellt hat. In dieser Wirklichkeit ist jeder mit sich selbst allein, erfährt weder Grenzen, die von Objekten ausgehen, noch lernt er, solche Grenzen in vernünftiger Kooperation zu überwinden; de facto ohnmächtig, de mente allmächtig.“

Neben den mentalitätsgeschichtlichen Aspekten, die Krug in seinem Buch heranzieht, um die verschiedenen Milieus der Seuchenverharmloser und Impfverweigerer zu analysieren (etwa die pietistischen und anthroposophischen Kreise Baden-Württembergs) ist es vor allem dieser Ansatz, der seine Überlegungen lesenswert macht: Der Zusammenhang von Produktion und Reproduktion, wie er im Kapitalismus als gesellschaftlichem Verhältnis gegeben ist, wird von den Einzelnen gar nicht mehr als solcher erfahren. Das führe – komplementär zur absoluten Verarmung in den arbeitsintensiven Produktionsstandorten – in den postindustriellen Gesellschaften zu einer Derealisierung der Wirklichkeit. Hier stelle die Coronapandemie beziehungsweise deren Folgen einen Einbruch des Realen dar. Diese Realität werde von manchen jedoch nicht in ihrer gesellschaftlichen Dimension, sondern als böswillig gegen ihre Person gemünzt, als individuelle narzisstische Kränkung erlebt.

Verdrängung des Körperlichen

Folgt man Krug, so ist es die Aussicht auf psychische Kompensation für diese Kränkung, die manchen die ideologischen Angebote der Impfgegnerschaft attraktiv erscheinen lässt. Reizvoll ist diese heroisch inszenierte Selbstermächtigung umso mehr, als die Zumutungen des Kapitalismus ohnehin beständig ein Gefühl erdrückender Ohnmacht erzeugen, gefangen in einem scheinbar verselbständigten gesellschaftlichen Verhältnis, über das man nichts vermag, und dem man sich doch fügen muss, wenn man nicht zugrunde gehen will.

Angesichts solch trüber Aussichten betreibt die Protestkultur der Coronaverharmlosung die „negative Befreiung vom Realitätsprinzip“ unter postindustriell-kapitalistischen Lebensbedingungen, wie Krug es nennt – negativ, weil es sich eben um eine Regression handelt, anstatt um die gesellschaftliche Emanzipation von eigentlich überflüssigen Zwängen oder gar die Abschaffung der Klassen. Unter dem Banner dieser Regression treffen scheinbar gesellschaftskritische Intellektuelle mit esoterischen Ideologen aller Couleur und auch mit Nazis und Antisemiten zusammen: Während die einen finstere Mächte oder volksfremde Einflüsse am Werke sehen, schwadronieren andere von alternativen Heilmitteln; wieder andere spalten das Körperliche einfach völlig ab und machen sich mit ihrem Intellekt zu Herrschern einer rein geistigen Welt, der auch der Tod nichts anhaben kann, weil dem Narzissten ohnehin unvorstellbar ist, „dass es eine Welt ohne ihn geben könnte“.

Uli Krug gelingt es in seinem Buch, die Kritik der gesellschaftlichen Bedingungen der Coronapandemie mit deren Auswirkungen auf die seelische Ökonomie der Einzelnen zu verbinden. Die von Krug beschriebene soziale Atomisierung geht mit einem gesellschaftlichen Konformismus einher, denn was als Individualität angepriesen wird, ist blanker Abdruck der Verhältnisse, der vermeintlich rebellische Nonkonformismus bloße Spielmarke innerhalb der kapitalistischen Konkurrenz.

Wo so dahinvegetiert wird, stellen die anderen nur mehr einen Störfaktor dar: „Selbst die ostentative Sorge um die seelischen Schäden, die das Maskentragen und die verstärkte soziale Isolierung bei zuvor schon Isolierten hervorrufen könnten – auch hier zeigt das Virus lediglich die Wahrheit über die Zustände, die schon lange vorher herrschten –, kaschiert lediglich die Gleichgültigkeit darüber, ob die Bedauerten überhaupt überleben“. An dieser Stelle trifft sich die Analyse von Krug mit jener des in der vorigen Woche vorgestellten ­Buches von Jule Govrin über „Politische ­Körper“: In der Coronapandemie zeigt sich drastisch, wer der kapitalistischen Verwertungslogik zum Opfer fällt – und wer dieser Logik zur ungehinderten Durchsetzung verhilft.

Ein ähnliches Resümee hatte auch Victor Adler schon 1892 formuliert: Es bringe „das Hereinbrechen einer schweren Seuche der Gesellschaft ihre eigenen Zustände, die sie längst kennt, aber vor denen sie gewaltsam die Augen zu schliessen gewohnt ist, zu grellem Bewusstsein“, schrieb er in dem eingangs zitierten Text und hatte dabei nicht zuletzt die Klassenverhältnisse im Blick. Krugs Buch ist ein aktueller Beitrag, um diese Bewusstwerdung zu fördern.

Uli Krug: Krankheit als Kränkung. Narzissmus und Ignoranz in pandemischen Zeiten. Edition Tiamat, 112 Seiten.

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