Ghana
: Gehorsam vor dem Alter

Kinderarbeit ist in Ghana und anderen westafrikanischen Staaten nicht nur auf Kakaoplantagen weit verbreitet. Appelle an die Konsumenten helfen da nicht weiter.

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Alltag Kinderarbeit: Zwischen 300.000 und einer Million Kinder arbeiten Schätzungen der NGO „International Cocoa Initiative“ zufolge allein in Ghana und der Elfenbeinküste im Kakaoanbau. (Foto: stolenlives.co.uk)

An jeder Ampel riskieren Kinder zwischen Abgaswolken ihre Gesundheit, um Wasser oder Kochbananen zu verkaufen. Am Straßenrand klopfen sie Steine zu Schotter, bisweilen mit anderen Steinen, weil für sie ein Hammer zu schade ist. Und schon im ersten Tageslicht sieht man Vierjährige mit Wassereimern auf dem Kopf und vor Anstrengung zitternden Beinen von den Pumpen stapfen. Kinderarbeit ist in Ghana kein Skandal, sondern Normalität. Zwei Fünftel der Kinder zwischen fünf und 17 Jahren leisten Lohnarbeit, wie aus dem von der „International Labour Organisation“ veröffentlichten „Ghana Child Labour Survey“ aus dem Jahr 2003 hervorgeht.

Grundsätzlich darf auch jeder Erwachsene ein vorbeilaufendes Kind auf eine Besorgungstour schicken, das gebietet der Gehorsam vor dem Alter, den die Schulkinder mit der Phrase „The senior is always right“ eingetrichtert bekommen. Die Altershierarchie in der Familie verpflichtet das jüngste Familienmitglied zur widerspruchslosen Übernahme aller Hausarbeiten für die älteren Geschwister. Dafür hat es die besten Chancen, einen Schulabschluss zu erlangen, während Erstgeborene jedwede Handwerkstätigkeit annehmen müssen.

Doch der Tausch bleibt meist Betrug, es existiert eine Art Leibeigenschaft, die in Ermangelung anderer Argumente ausschließlich als Tradition gerechtfertigt wird. Das Gleiche gilt für Verwandtschaftsverpflichtungen. Wenn ein Familienvater bei seinem Bruder Geld leiht, muss eben das Kind später die Schulden beim Onkel abarbeiten. Für manche Kinder eine Gelegenheit, einmal in einer Großstadt zu wohnen, für andere elende Ausbeutung.

Kinder gelten prinzipiell als arbeitendes Eigentum der Eltern. Daher fallen die Kindersklaven auf Fischerbooten, in den illegalen und doch neben Hauptverkehrsstraßen platzierten Goldminen oder auf Kakaofarmen schlichtweg nicht auf. Wen interessiert, dass sie keinen Lohn bekommen? Viele ghanaische Lehrer haben drei Jahre lang kein Gehalt gesehen. Andere Erwachsene arbeiten sich für einen Euro und weniger am Tag kaputt und haben noch Kinder zu ernähren.

War Kinderarbeit in England noch eine Konkurrenz für die erwachsenen Fabrikarbeiter, weshalb sie deren Abschaffung aus eigenem Interesse durchsetzten, so ist sie in den Familienbetrieben der wenig industrialisierten Länder schlichtweg ökonomische Notwendigkeit. Auf europäischen Bauernhöfen fahren Kinder Gülle aus und pflügen, ohne dass sich jemand daran stören würde.

Kinder gelten prinzipiell als arbeitendes Eigentum der Eltern.

Die Saisonalität der Plantagenarbeit erzeugt in Westafrika wie in Europa einst die Heuernte einen temporären Hunger nach Arbeitskraft, so dass der Kinderarbeit gerade in Kleinbetrieben eine kaum verzichtbare Pufferfunktion zukommt. Hinzu kommt die Arbeitsmigration der Eltern, die Fürsorge entzieht und lokalen Arbeitskräftemangel erzeugt. Und wo es keine Absicherung von Waisen gibt, versuchen diese zwangsläufig, ihre Arbeitskraft zu verkaufen. Wer will diesen Kindern ihr letztes Einkommen nehmen, oder den Erwachsenen, die ihnen Obdach bieten, das sie mit Kinderarbeit prekär finanzieren müssen?

Dass die Lohnarbeit von Kindern in eigene dialektische Prozesse führen kann, belegte Friedrich Engels: Inmitten der erbärmlichsten Verhältnisse hatten plötzlich die alleinverdienenden Kinder im Haus das Sagen. Auch in Angola und der Demokratischen Republik Kongo konnten Kinder im Diamantenschmuggel zu Patronen aufsteigen. Solche Fakten müssen beim Kampf gegen Kinderarbeit berücksichtigt werden.

Als Reaktion auf Dokumentarfilme, die Kinderarbeit und Kindersklaverei auf westafrikanischen Kakaoplantagen belegten, erstellte das International Labour Office 2002 eine Studie, in der die Zahl der in diesem Sektor arbeitenden Kinder auf über 284.000 geschätzt wurde. Spätere Studien sprechen gar von 1,5 Millionen arbeitenden Kindern.

Unternehmen und Regierungen versuchten schon länger, das Image des westafrikanischen Kakaos aufzupolieren. Im Harkin-Engel-Protokoll versprachen die acht größten involvierten Firmen bereits 2001, zusammen mit Staatsvertretungen und NGOs den schlimmsten Formen von Kinderarbeit auf Kakaoplantagen Einhalt zu gebieten. Das Abkommen musste erst bis 2010, dann bis 2020 verlängert werden.

Dennoch verkünden ghanaische Regierungsmitglieder seit über zehn Jahren mit schöner Regelmäßigkeit, dass es auf den Plantagen des Landes keine Kinderarbeit mehr gebe. Das sei ein Problem der Konkurrenz in der Côte d’Ivoire, die zwar mehr, aber minderwertigen Kakao produziere und diesen nach Ghana schmuggle, um dem guten Ruf des ghanaischen Kakaos zu schaden.

Tatsächlich verlief der Schmuggel in gegenläufiger Richtung: In der Côte d’Ivoire zahlen Händler mehr für Kakao als in Ghanas kompliziertem System aus Staatsprotektionismus und Kleinunternehmertum. In diesem liegt auch das Hauptproblem für einen wirksamen Kampf gegen Kinderarbeit. Kakaoplantagen werden schließlich nicht direkt von Firmen wie Nestlé oder Cadbury betrieben, sondern von Familien, die einer Studie der Wissenschaftler Morten Bøås und Anne Huser aus dem Jahr 2006 zufolge von fünf bis zehn Hektar Farmland leben.

Wer im Oktober zum populären Kakum-Nationalpark fährt, sieht von der Straße aus daher stets auch Kinder beim Wenden der trocknenden Kakaosamen. Händler kaufen die fermentierte Ware auf und liefern sie an Großhändler der internationalen Firmen weiter. Verarbeitet wird Kakao in den Fabriken des Westens, wo nie der Strom ausfällt und Spezialisten die vollautomatische Massenproduktion überwachen.

In Ghana schätzt man Kakao vor allem als Obst: Man lutscht das Fruchtfleisch der Samen ab. Die ghanaische Schokoladenmarke Kingsbite hingegen wäre im Westen kaum konkurrenzfähig. Und ausgerechnet im Land des Kakaos trinken Kinder morgens Milo, ein extrem dünnes Kakaomalzgetränk von Nestlé. Milo wirbt mit „dem Besten für die Kindesentwicklung“. Solche Werbung appelliert an die Liebe ghanaischer Eltern zu ihren Kindern. Doch an den ökonomischen Notwendigkeiten und den gesellschaftlichen Hierarchien ändert die Elternliebe nichts.

Die meisten Forscher und NGOs sind sich dessen bewusst. Kritikwürdig ist nicht der politische Einsatz – die Bemühungen um die Befreiung von Kindersklaven und die Reduktion von Kinderarbeit sind durchaus wirksam –, sondern der Appell an die westlichen Konsumenten. Sie werden in ihrem Wunsch bestätigt, Luxus ohne allzu lästige Schuldgefühle genießen zu dürfen. Sie möchten keine Kindersklaverei, weil sie ihnen den Appetit auf Schokolade verdirbt und sie dann Kuchen essen müssen. Sie scheuen aber meist die intellektuelle Herausforderung, sich mit komplexen Problemen zu befassen.

Während ghanaische Väter ihre Kinder alleine lassen müssen, um ihr Glück in Europa zu suchen, und dabei nicht selten ertrinken, sollen die Kinder zu Hause nicht einmal mehr der Mutter bei der Kakaoernte helfen dürfen. Wo die ökonomische Macht der Konsumenten beschworen wird, wird im besten kolonialen Stil ökonomisch erpresst. Was ausbleibt, ist intellektuelle Aufklärung über Kindheit, wie sie sich im Westen mit der Aufklärung und später mit der Psychoanalyse durchgesetzt hat. Dazu bedarf es weit mehr, als einfach nur „faire“ Schokolade zu kaufen.

Immerhin: Über Kinderarbeit in Westafrika existieren fundierte Studien, die Staaten fördern Transparenz, und es sind mehr politische Erfolge zu verzeichnen als etwa in der immer noch zynischer werdenden Behandlung von Flüchtlingen in Europa.

Felix Riedel arbeitet als Ethnologe und Publizist. Er berichtet aus der ghanaischen Hauptstadt Accra.

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