Im Kino und im Stream: The Lost Daughter

Mit der Romanverfilmung „The Lost Daughter“ liefert Maggie Gyllenhaal ein beachtliches Regiedebut. Statt jedoch mehr Ambivalenz zuzulassen, setzt sie zu sehr auf simplistische Erklärungsversuche.

Eigentlich müsste Leda arbeiten. Anderen Strandgäste zu beobachten, erscheint ihr jedoch weitaus interessanter. (Fotos: © Netflix
)

Glasklares Meerwasser, tiefblauer Himmel, zirpende Grillen – mit Griechenland könnte sich Leda (Olivia Colman) kaum einen schöneren Urlaubsort ausgesucht haben. Eigentlich handelt es sich um einen „Arbeitsurlaub“, wie die 48-jährige Literaturprofessorin an einer Stelle betont. Zeit, um auszuschlafen, gut zu essen und sich auf dem Rücken von den Wellen tragen zu lassen, bleibt Leda während ihres mehrwöchigen Aufenthalts zum Glück aber zur Genüge.

Wirklich entspannen kann sie dennoch nicht. Wie ein schlechtes Omen ist das Obst, das in ihrer gemieteten Ferienwohnung für sie bereitgestellt wurde, bereits kurz nach ihrer Ankunft schimmelig. In der zweiten Nacht muss Leda eine Zikade mit sanfter Gewalt aus ihrem Bett entfernen, am darauffolgenden Tag hinterlässt ein herunterfallender Pinienzapfen eine schmerzende Wunde auf einer ihrer Schultern.

Ihre zwischenmenschlichen Interaktionen verlaufen kaum besser: Die Gespräche mit dem Hauswart Lyle (Ed Harris) sowie dem Strandjungen Will (Paul Mescal) sind angespannt. Immer wieder wollen sie wissen, ob sie Leda irgendwie behilflich sein können. Sie scheinen nicht so recht zu wissen, wie sie diese allein reisende Frau einordnen sollen. Dass sie einfach nur in Ruhe gelassen werden will, scheint ihnen nicht in den Sinn zu kommen. Dabei ist Ledas Körpersprache recht eindeutig.

Eines Tages muss die Professorin völlig entgeistert feststellen, dass ausgerechnet dieser Ort das alljährliche Urlaubsziel einer lauten griechisch-amerikanischen Großfamilie aus Queens ist. Als ein Familienmitglied, Callie, Leda bittet, auf einen anderen Liegestuhl zu rücken, damit die Familie zusammensitzen kann, weigert diese sich: „No, I’m fine here.“

Je mehr Zeit wir mit Leda verbringen, desto mehr Rätsel gibt sie uns auf: Wieso reist sie alleine? Will sie sich von etwas ablenken? Oder von jemandem? Wieso reist sie an einen beliebten Badeort, wenn sie doch so gerne für sich bleibt? Und wieso weigert sie sich, ihren Liegestuhl aufzugeben? Wir ahnen, dass mehr dahintersteckt als nur Bequemlichkeit.

Bei aller Irritation übt die bereits erwähnte Großfamilie auch eine gewisse Faszination auf Leda aus. Vor allem einer jungen Mutter namens Nina (Dakota Johnson) gilt ihr Interesse. Durch Rückblenden erfahren wir, dass sich Leda durch sie an die Zeit erinnert fühlt, als ihre eigenen Töchter noch klein waren. Als Leda eines Tages die Puppe von Ninas Tochter in ihrer Handtasche verschwinden lässt und mit nach Hause nimmt, scheint sie selbst nicht ganz nachvollziehen zu können, aus welchem Impuls heraus sie handelt.

Undurchschaubar ist Leda auch in Elena Ferrantes Romanvorlage, auf deren Basis Maggie Gyllenhaal das Drehbuch verfasste. Der Erzählung bleibt die US-amerikanische Filmemacherin in den Hauptzügen treu, ergänzt hat sie sie aber durch Thrillerelemente. Auch der Schluss des Films weicht von der Buchvorlage ab. Im Roman wie auch im Film gibt längst nicht nur Leda Rätsel auf. Immer wieder durchbohren sich die Figuren mit bedeutungsschwangeren Blicken. Unentwegt hängt etwas Bedrohliches in der Luft. Von wem aber die größte Gefahr ausgeht, bleibt unklar.

So gelingt es Gyllenhaal einen sowohl atmosphärischen als auch spannenden Film zu erschaffen, dessen Protagonistinnen bis zur letzten Minute faszinieren. Ein wenig getrübt wird das Sehvergnügen durch die vielen Rückblenden. Um zu verstehen zu geben, dass die junge Leda bei aller Liebe nicht gewillt war ihren Kindern und ihrem Ehemann ihr Leben zu widmen, hätten einige wenige gereicht.

Doch auch formal passen diese Sequenzen nicht so recht in diesen Film: Die Gegenwart bildet Gyllenhaal im Psychothriller-Genre ab, in den Rückblenden schlägt sie jedoch einen sehr viel realistischeren Ton an. „Children are a crushing responsibility“, sagt Leda an einer Stelle zur hochschwangeren Callie. Solch vielschichtige Aussagen verlieren durch den Versuch, simplistische Erklärungsansätze zu liefern, unnötig an Wucht.

Mit ihrem Regiedebut weiß Gyllenhaal punktuell zu überzeugen: Dann, wenn sie Ambivalenz zulässt und auf eine sich langsam aufbauende Spannung setzt. Leider hat ihr der Mut gefehlt, um dies konsequent durchzuziehen. Anders verhält es sich bei Colman, die die Hauptfigur mit vollem Einsatz zum Leben erweckt: Ledas verletzliche, umsichtige Seite bringt sie ebenso überzeugend zum Ausdruck wie ihren Hang zur Rücksichtslosigkeit. Den nicht ganz runden Film macht die Schauspielerin allemal wett.

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Bewertung der woxx : XX


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