Interview: „Wir können das Entsetzliche nicht verdecken“

In „statt einer ankunft“ dichtet die Lyrikerin Ulrike Bail über das Busfahren. Im Interview mit der woxx spricht sie über Schockmomente, Leichtigkeit und Bergamo.

Ulrike Bail, geboren in Metzingen, gewann 2020 mit ihrem Manuskript „statt einer ankunft“ den „Concours littéraire national“. 2021 erschien der Gedichtband beim Conte Verlag. Bails Buch „wie viele faden tief“ wurde im gleichen Jahr mit dem „Prix Servais“ ausgezeichnet. Bail lebt seit 2005 in Luxemburg, wo sie als Schriftstellerin arbeitet. (Fotos: Privat)

woxx: In „wie viele faden tief“ schreiben Sie über das Nähen, in Ihrem neuen Gedichtband „statt einer ankunft“ über den öffentlichen Transport. Worin liegt für Sie die Poesie des Alltags, Frau Bail?


Ulrike Bail: Ich kann mir nichts vorstellen, worüber sich keine Gedichte schreiben ließe. Es gibt keine Formel, nach der ich mich richte. Es sind besonders die ästhetischen und die überraschenden Momente, die mich inspirieren. In „wie viele faden tief“ war ich fasziniert von der poetischen Sprache des Nähens, zu „statt einer ankunft“ gab die Haltestelle „Deportation“ einen ersten Denkanstoß.

Warum?


Wenn bei der Ansage der Stationen das Wort „rue“ wegfällt, entsteht entweder etwas Entsetzliches oder etwas Schönes. „Deportation“ zu hören, war ein Schockmoment für mich: Ich höre das Wort „Deportation“, aber ich sitze im Bus an einem sicheren Ort.

Finden Sie, dass eine derartige Benennung von Orten die Geschichte verkürzt, für die die Wörter stehen?


In dem Moment, in dem der Bus an der Station hält, ist der Ort nur eine Koordinate, aber in dem Augenblick, in dem wir uns der Geschichte hinter dem Namen bewusst werden, eröffnet sich ein weiter Raum. Diesen Gedanken hatte ich auch an Endhaltestellen wie der „Place de l’Europe“: Das ließ mich an die Flüchtlingslager in Europa denken. Wie geht Europa damit um, mit Orten wie Moria? Wie mit Menschen, die Zuflucht suchen, die fliehen müssen?

Das erinnert an rezente Diskussionen zur Umbenennung von Straßen und Plätzen, die nach Kolonialverbrechern benannt sind. In Luxemburg machte das Kollektiv Richtung22 in seiner Ausstellung „Mémoire coloniale“ auf entsprechende Schilder in Luxemburg-Stadt aufmerksam.


Die Ausstellung habe ich besucht und ich fand sie beeindruckend. Wir können das Entsetzliche nicht verdecken. Es ist wichtig, die Hintergründe zu kennen und ins Bewußtsein zu bringen. Ich bin dafür, dass bei der Benennung neuer Straßen und Orte unbedingt Namen des Widerstands hinzukommen.

Die Benennung und die Wahrnehmung von Orten hängt auch damit zusammen, wer sie betrachtet, oder?


Es geht immer um die Frage, wie wir Räume wahrnehmen. Wie verorten wir uns dort? Wie verbinden sich Alltag, Geschichte und Erlebnisse an diesen Orten? Wo finden wir uns selbst dort wieder? Was wollen wir erinnern? Wer ist wir?

Sind persönliche Erlebnisse, die an die einzelnen Haltestellen geknüpft sind, in den Gedichtband eingeflossen?


In einigen Gedichten klingen intime Momente durch. Das sind persönliche Gedichte, die aber nicht unbedingt als solche ersichtlich sind. In dem Moment, in dem ich Texte veröffentliche und den Leser*innen übergebe, können sich für sie andere Räume eröffnen.

Wie meinen Sie das?


Durch ein fremdes Gedicht kann sich das eigene Verständnis für einen Raum, einen äußeren oder einen inneren öffnen. Das muss nicht Identifikation sein, sondern kann auch Reibung bedeuten: Die Leser*innen können überrascht sein, die eigene Position hinterfragen und neue Perspektiven entdecken. Ein Ort hat feste Koordinaten, aber ein Gedicht kann diese aufbrechen und verändern. Gedichte sind immer Möglichkeitsräume.

Im Interview mit Valerija Berdi vom Radiosender 100,7 verraten Sie, dass Sie gerne Bus fahren, weil Sie dort Zeit zum Nachdenken haben. Gibt es andere öffentliche Orte, an denen Sie ähnliches empfinden?


Diese Stimmung und Konzentrationsverfassung kann überall auftreten. Ich kann mich auch in einem Museum stark auf das konzentrieren, was mich umgibt, aber es gleichzeitig auch gehen lassen. Es geht um das Zugeständnis, neue Dinge zu sehen und zu fühlen. Beim Busfahren kann ich den Blick schweifen lassen, denn ich werde chauffiert und habe nichts zu tun. Das kann auch beim Spazierengehen passieren, wenn ich nicht aktiv in die Welt eingreifen muss. Dieses Schweifenlassen des Blicks und des Gehörs ist wichtig.

Der Bus als Muse bricht mit dem gängigen Klischee von Autor*innen, die nur im stillen Kämmerlein Zugang zu ihrer Kreativität haben.


Die Zeit im stillen Kämmerlein braucht man schon, aber da kommt es für mich nicht drauf an, wo man sitzt. Für mich kann das Kämmerlein ein Bahnhof, ein Kaffee oder ein anderer Ort sein.

Sie haben im Gespräch mit Berdi auch erwähnt, dass Sie bei der Arbeit an dem Gedichtband Busfahrpläne analysiert haben. Lässt sich an ihnen die Stadtgeschichte ablesen?


Orte wie „Stäreplaz“, „Sichenhaff“, „Vauban“ oder „Pescatore“ sind Orte der Stadt, die stark mit ihrer Geschichte verknüpft sind. Man kann über die Namen der Haltestellen viel über die Stadtgeschichte herausfinden. Gedichte sind aber keine geschichtswissenschaftliche Reflexion, sondern eine poetische, die zum Nachdenken einlädt. Die Linien, nach denen die realen Haltestellen des Gedichtbandes angeordnet sind, sind fiktiv, die Gedichte sind mehrschichtig und mehrsprachig, sie thematisieren Geschichte und Geschichten.

Stichwort Mehrsprachigkeit: Sie sind nicht mit der luxemburgischen Sprache aufgewachsen. 


Ich bin sozusagen zweisprachig aufgewachsen: mit dem Schwäbischen und mit der deutschen Standardsprache. Luxemburgisch hat eine ähnliche Grammatik wie das Schwäbische, deswegen habe ich die Sprache schnell gelernt und spreche sie auch oft im Alltag, wenn auch mit deutschem Akzent. Ich finde Luxemburgisch ist eine schöne, eine weiche Sprache. Einer der ersten Sätze, die ich gelernt habe, war „Komm elo hei“. Ein Satz, der sehr melodisch klingt.

Gab es Haltestellen, die Sie allein sprachlich fasziniert haben?


Eine der ersten Haltestellen, die mich inspiriert hat, war „Verlorenkost“. Ich habe keine eindeutige Antwort darauf gefunden, was das Wort bedeutet. Es gibt den Begriff wohl im militärischen Kontext, wenn eine Armee sich hinter einer Hauptlinie zurückziehen muss. Es könnte aber auch tatsächlich ein Hinweis auf einen Ort sein, an dem Lebensmittel verloren gingen.

Sind Ihnen weitere Namen in Erinnerung geblieben?


Kaltreis, Huesegrënnchen – wunderbare Wörter, mit denen ich in den Gedichten gespielt habe. Doch mich hat nicht nur das Luxemburgische fasziniert, sondern auch die Orte, die französische Namen tragen, wie beispielsweise die Haltestelle „Avenir“.

Sie sind in der Zukunft ausgestiegen, denn dazu gibt es in „statt einer ankunft“ auch ein Gedicht.


Ja, die Straße dort macht einen Bogen, dahinter geht es runter zum Wald. Das hat den Impuls gegeben, über Zukunft, Bogenschießen und die Gefahr eines Leerschusses zu schreiben. Ein Leerschuss ist, wenn man den Bogen ohne Pfeil spannt. Der Pfeil kann dabei durch die Spannung explodieren. Zur Zukunft gehört auch das Gespannt auf etwas sein, mit Möglichkeiten zu rechnen und mit dem Scheitern.

Von der Zukunft zurück in die Gegenwart – das vorletzte Gedicht spricht von Bergamo, einer Stadt in Norditalien, die besonders hart von der Corona-Pandemie getroffen wurde. Sind die Verse eine Anspielung auf die aktuelle Krise?


Ja, auf den Beginn der Ausgangssperre, als die Busse leer durch die Stadt fuhren. Das Gedicht steht in dem Kapitel „Arrêts supprimés“, dem der unterbrochenen Linien. Ich erinnere mich an die Berichte über die Leichenwagen, die vor den Kliniken in Bergamo Schlange standen, über Sterbende, die in ihren letzten Stunden nicht mehr besucht werden konnten – ein unerträglicher Gedanke. Das Kapitel über die aufgehobenen Stationen thematisiert Orte kollektiver und individueller Trauer. Bergamo war auch das letzte Gedicht, es kam kein neues dazu, nur das über den Bambësch, aber das spielt außerhalb des städtischen Busnetzes. Dieses Gedicht wurde übrigens zum Beginn eines neuen Projektes, gemeinsam mit der Künstlerin Marie-Pierre Trauden-Thill und dem Fotografen Vic Fischbach zum Thema „Wald“. Die Ausstellung zu diesem interdisziplinären Gespräch wird im April 2023 in der Galerie Konschthaus in Schifflange eröffnet werden. Es ist sehr spannend, grenzüberschreitend zu arbeiten.

Würden Sie heute, fast zwei Jahre nach Ausbruch der Pandemie, anders über den öffentlichen Transport dichten?


Die Pandemie hat die Leichtigkeit des Busfahrens verändert. Das Gedicht ‚Hamilius‘ thematisiert ja das Unwohlsein über die körperliche Nähe zu Menschen, mit denen man nichts zu tun hat, in überfüllten Bussen. Heute kommen Maskenpflicht und Abstandsregeln hinzu und die Befürchtung, bei zu großer Nähe sich zu infizieren. Corona ist präsent im öffentlichen Nahverkehr. Ich schreibe sehr langsam und bin heute dieselbe und eine andere als noch vor ein paar Jahren – auch der Busfahrplan hat sich verändert. Einzelne Gedichte würde ich vielleicht anders schreiben, aber das ist schwierig zu sagen. Gedichte sind so offen, dass sie die Zukunft aufgreifen können, sonst würden wir keine Gedichte aus anderen Jahrhunderten lesen. Sie sind Resonanzräume, in denen wir mitsprechen und mithören können.

Ist es am Ende vielleicht nur die eigene Lesart, die sich mit der Lebenserfahrung wandelt?


Die Perspektive der Leser*innen verändert sich eindeutig. Wenn wir heute romantische Gedichte über den Wald lesen, können wir die dort beschriebene Schönheit der Natur zwar bewundern, doch wir wissen gleichzeitig, dass der Wald nicht mehr derselbe ist. Die Welt hat sich verändert, der Wald ist krank. Trotzdem können uns auch diese Gedichte noch Impulse geben.


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