Im Windschatten der hiesigen Chamberwahlen werden in Belgien am 14. Oktober neue Kommunalregierungen gewählt. Auch Luxemburger*innen sind am Kampf um die meisten Stimmen beteiligt.
Autofreier Sonntag in Brüssel. Die Terrasse des „Barboteur“, einer alternativ angehauchten Craft-Beer-Bar in der Brüsseler Gemeinde Schaerbeek, ist gut besucht. Viele, die zuvor per Rad oder zu Fuß die Stille und Entschleunigung in der ansonsten vom Verkehrslärm geplagten belgischen Kapitale genossen haben, sitzen nun in der Sonne und trinken Bier. Gerade gesellt sich, sein Fahrrad schiebend, auch Bernard Clerfayt hinzu.
Sofort kommt er mit einigen Anwesenden ins Gespräch, darunter auch jemand mit einer Signaljacke von Ecolo. Das ist die frankophone „grüne“ Partei, mit der Clerfayt auch künftig hier in Schaerbeek regieren will. Als Bürgermeister der nach Brüssel zweitgrößten Gemeinde der Region Brüssel-Hauptstadt tritt er mit seiner „Liste du Bourgmestre“ für ein liberales Bündnis aus seiner Partei „Défi“ (Démocrate fédéraliste indépendant), den „Libéraux Schaerbeekois“ sowie der flämischen „OpenVLD“ (Open Vlaamse Liberalen en Democraten) an.
Wie in Schaerbeek, wird am 14. Oktober in allen belgischen Kommunen ein neuer Gemeinderat gewählt, nach der Fusion einiger flämischer Gemeinden erstmals nur noch 581 an der Zahl.
Weniger denn je sind die lokalen Wahllisten dieses Mal durch die auf föderaler Ebene agierenden Parteien geprägt. Das lässt sich durchaus auch als mangelndes Vertrauen in die traditionellen Wahlvereine interpretieren. So werden in den 262 wallonischen Kommunen nur noch 278 Listen von klassischen Parteien gestellt, während es vor sechs Jahren noch 366 Listen waren.
Ob Föderalpartei oder lokaler Wahlverein, alle sind verpflichtet, ihre kommunalen Wahllisten paritätisch zu besetzen. Einen Durchbruch für den gleichberechtigten Zugang zur Macht bedeutet das für die Frauen allerdings noch lange nicht: Lediglich eine von fünf Listen in Wallonien wird von einer Frau angeführt, die damit auch als Kandidatin für das Bürgermeisteramt firmiert. Bei den gleichzeitig stattfindenden Wahlen zu den Provinzialparlamenten ergibt sich ein ähnlich trauriges Bild.
Auch auf den acht Listen in Schaerbeek finden sich lediglich zwei Frauen an der Spitze, die Liste des frankophon-flämischen Bündnisses Ecolo-Groen zählt nicht dazu. Dort tritt in diesem Jahr erstmals die Luxemburgerin Esther Bollendorff an. „Ich bin Newcomerin“, sagt die 42-Jährige, doch ein Politik-Neuling ist sie eigentlich nicht. Sie hat bereits für die Grünen im Europaparlament gearbeitet, unter anderem für den Europa-Abgeordneten Claude Turmes, der vor kurzem als Staatssekretär für Umwelt in die luxemburgische Regierung gewechselt ist. Eine Mitgliedskarte für die Grünen hat sich Bollendorff allerdings erst vor einigen Monaten hier in Belgien geholt, wo sie seit dreizehn Jahren lebt. Für sie ist die Kommunalwahl auch ein Test, um irgendwann vielleicht sogar fürs Europaparlament zu kandidieren.
Grüne Mehrheit, grüne Opposition
Fürs Erste muss sie sich allerdings mit Platz 26 auf der Liste begnügen: keine reale Chance, einen der aktuell 47 Sitze im Gemeinderat von Schaerbeek zu erringen, von denen Ecolo-Groen zurzeit immerhin sieben innehat. Seit 2000 ist die Partei an der Mehrheitsbildung beteiligt. „Als zweiter Schöffe neben dem Bürgermeister hat Vincent Vanhalewyn bereits einiges bewirkt“, sagt Bollendorff über ‚ihren‘ Spitzenkandidaten, „in der Mobilitätspolitik, beim Klimaplan und der action sociale“. Beispielsweise habe der für „transition énergétique, mobilité“ und „consommation durable“ zuständige grüne Schöffe 3.000 Solarpanels auf den Dächern der Kommunalgebäude installieren lassen.
„Man sagt, dass Ecolo in Brüssel ein Basiselektorat von sieben bis acht Prozent hat“, so Bollendorf, die sich selbst auf Klima- und Energiepolitik konzentriert und beruflich für „Energiris“ tätig ist. Diese von ihr mitgegründete Genossenschaft kümmert sich um die Finanzierung der Energiewende in Brüssel.
Doch nicht überall kann man sich so auf klassische Umweltthemen konzentrieren. Das an Schaerbeek angrenzende Saint-Josse-ten-Noode gilt als ärmste Gemeinde ganz Belgiens, unter anderem, weil dort das Einkommen pro Einwohner*in mehr als fünfzig Prozent unter dem nationalen Durchschnitt liegt, während die Einwohnerdichte rund drei Mal so hoch ist wie in der Region Brüssel-Hauptstadt insgesamt. 43 Prozent jener, die hier leben, haben keinen belgischen Pass.
„C’est une commune d’accueil. C’est la commune où les gens arrivent et à l’heure actuelle, comme elle présente toute une série de difficultés, elle est mal gérée, elle est sale, elle concentre la pauvreté“, hatte Zoé Genot, die auch dieses Jahr wieder an der Spitze von Ecolo-Groen in Saint-Josse kandidiert, die Situation in der Gemeinde bereits vor sechs Jahren zusammengefasst.
„Hier machst du keinen Ökowahlkampf“, bringt Tom Köller, der ebenfalls aus Luxemburg stammt, daher die Situation in seinem Wohnort Saint-Josse auf den Punkt. Er ist hier vor sechs Jahren für Ecolo angetreten und keineswegs allein mit seiner Meinung, dass das Problem in vielerlei Hinsicht auf Emir Kir, den vom PS (Parti Socialiste) gestellten Bürgermeister, zurückzuführen ist. Seit 2012 im Amt, gilt sein Name vielen in Brüssel als Symbol für klientelistisch geprägte Misswirtschaft.
Reiche Gemeinde, arme Bevölkerung
„Rood tegen de rest“, zieht die Stadtzeitung „Bruzz“ in ihrer Sonderausgabe zu den Wahlen für Saint-Josse die Fronten: Rot gegen den Rest. Denn wer den PS nicht wählt, macht ihn als dort seit Jahrzehnten unangefochten regierende Partei für die Misere verantwortlich. „Es wird ja immer gesagt, dass Saint-Josse eine arme Gemeinde ist, doch das ist nicht wahr“, sagt Pauline Warnotte, die auf Listenplatz 3 von Ecolo-Groen kandidiert. Die Gemeinde selbst habe sehr viel Geld, „und zwar insbesondere dank der Steuergelder, die sie von den Hotels und Bürogebäuden auf ihrem Terrain bezieht; sie hat zwei Mal mehr Geld pro Einwohner als etwa Schaerbeek, aber das Geld wird schlecht verwaltet, aus Mangel an Professionalität und Ideen“, so die 33-jährige Juristin gegenüber der woxx.
Nur fünf Jobs bei der Gemeinde seien in Kirs Amtszeit öffentlich ausgeschrieben worden, berichtet Warnotte, alle anderen wurden unter der Hand vergeben. Und wo sozialer Wohnraum sowie Schul- und Krippenplätze knapp sind, ergeben sich zahlreiche weitere Möglichkeiten für eine klientelistische Politik. Der in Charleroi geborene Emir Kir orientiere sich nicht zuletzt an der Bevölkerung, deren Familiengeschichte in die Türkei zurückreicht; in diesem Milieu gelte Kir vielen als „unser Minister“, schreibt das alternative Investigativ-Journal „Médor“, für dessen Vertrieb Ladenbesitzer in Saint-Josse laut dem Magazin nach einem Kir-kritischen Artikel von Unbekannten bedroht worden sind.
Bereits 2012 hat Kir teils erfolgreich Kandidat*innen türkischer Herkunft in die Mangel genommen, die auf Listen anderer Parteien kandidierten – weil letzteres, wie Tom Köller sagt, „die kommunitaristische Logik durchbricht“. Die Ecolo-Kandidatin Hayat Mazibas hat dieses Jahr ähnliches erlebt, als ihr bei der Kommune beschäftigter Bruder unter Druck gesetzt worden ist.
Unter Kirs Verantwortung werden auch regionale Fördergelder für Schulen, Crèches und Jugendhäuser gar nicht abgefragt, offenkundig, um Qualitätskontrolle von außen und damit auch Einfluss auf die klientelistische Personalpolitik zu verhindern.
Für Pauline Warnotte lässt sich das drastische Missmanagement allerdings nicht auf die Person des aktuellen Bürgermeisters reduzieren. „Es ist eher ein strukturelles Problem, auch weil seit beinahe siebzig Jahren dieselbe Partei regiert“. Ecolo-Groen haben sich daher die „Bonne gouvernance“ als eines ihrer Hauptthemen auf die Fahnen geschrieben, neben der Jugend und der allgemeinen Lebensqualität. Für Warnotte stehen sozialpolitische Themen nicht im Widerspruch zum grünen Kernthema Ökologie: „Wenn man politische Ökologie betreibt, geht es letztlich darum, die Gesellschaft als Gesamtsystem zu verstehen.“
Dass sich Kommunalpolitik nicht von gesamtgesellschaftlichen Problemen abgrenzen lässt, erfährt derzeit auch Philippe Close. Als Bürgermeister der Kommune Brüssel – der dritte in dieser Legislaturperiode – ist der PS-Mann Close mitverantwortlich für das Wohl von Hunderten Flüchtlingen, die derzeit im dortigen Park Maximilien campieren, weil die bestehenden Unterkünfte nicht ausreichend sind.
Föderal, lokal, Doppelmoral
Der Park selbst ist zugleich Spielfeld für innenpolitisches Gezänk. Unter Verantwortung des auf föderaler Ebene für Asyl und Migration zuständigen Staatssekretärs Theo Francken wurden jüngst sogenannte Transitmigrant*innen von der Küstenregion in den Brüsseler Park transportiert. Vordergründig, damit sie in der Hauptstadt Asylantrag stellen und nicht länger nach Großbritannien zu gelangen versuchen. Zugleich jedoch will Francken, der zur rechtsliberal-separatistischen flämischen Partei N-VA (Nieuw-Vlaamse Alliantie) gehört, damit innenpolitisch Druck auf die in Brüssel regierende frankophone Koalition aus PS und „Mouvement réformateur“ (MR) ausüben, mit dem die N-VA ihrerseits auf föderaler Ebene koaliert.
In den vergangenen Wochen hat sich die Situation rund um den Park zugespitzt. Anwohner*innen des teils ohnehin sehr vernachlässigten Bezirks beklagen nun, dass der Park für sie praktisch nicht mehr nutzbar und eine Quelle von Unsicherheit geworden sei. Der aussichtsreichste Gegenkandidat zu Close in Brüssel, Alain Courtois (MR), der mit Saubermann-Parolen und mehr Polizei auf den Straßen punkten will, versuchte daraufhin, Kapital aus der Situation zu schlagen, obwohl seine Partei als Regierungsmitglied für die teils desaströsen Lebensbedingungen der Migrant*innen maßgeblich mitverantwortlich ist. „Osons un parc Maximilien paisible et accueillant!“, forderte der Politiker dreist über die sozialen Medien.
Doch nicht nur in Brüssel und Saint-Josse sitzen dem PS die Probleme im Nacken. In ganz Belgien muss die sozialistische Partei fürchten, die Quittung für Affären der vergangenen Monate serviert zu bekommen. Beim „Samusocial“-Skandal etwa hatte sich der zurückgetretene Close-Vorgänger Yvan Mayeur als Funktionsträger einer Brüsseler Asbl für Obdachlosenhilfe großzügig entlohnen lassen. Auch in die ähnlich gelagerte „Publifin“-Affäre waren PS-Funktionäre involviert.
Abzuwarten bleibt, ob dies dem „Parti du Travail de Belgique“ (PTB) Stimmen zutragen wird. Der war in den vergangenen Jahren bemüht, sich vom altbacken-traditionsmarxistischen Image zu lösen und sich eher undogmatisch zu geben. In immerhin siebzig Kommunen ist man mit eigenen Listen präsent, und mit dem versprochenen Kampf um die Wiederaneignung der Städte aus den Händen der Immobilienmakler sowie der Kampfansage an intransparente Abmachungen innerhalb der politischen Klasse spricht man Probleme an, die wohl in sehr vielen Kommunen mehr oder weniger drängend sind.
In Antwerpen jedenfalls haben Groen und „sp.a“ (Socialistische Partij Anders) bereits angekündigt, dass man sich am Tag nach den Wahlen mit dem PTB zusammensetzen will, um über eine mögliche Koalition zu reden, sofern die Partei „un programme démocratique et progressiste dans une coalition progressiste“ mitzutragen bereit sei, so Wouter Van Besien, Spitzenkandidat von Groen.
Das ist nicht ohne Symbolwirkung, denn Antwerpen ist nicht nur die größte, sondern mit seinem Hafen auch die ökonomisch wichtigste belgische Stadt. Hier regiert Bart de Wever, Vorsitzender der N-VA und mit 33 Sitzen stärksten Partei im belgischen Föderalparlament.
Reaktionär, identitär
Seinen Wahlverein hat de Wever nicht nur in Antwerpen fest im Griff. Er führt ihn auf einem identitär-rechten, ordnungspolitisch rigiden Kurs, den er mit einer neoliberalen Wirtschaftspolitik zu verquicken versteht. Für die Kommunalwahlen werden der Partei 35 Prozent vorausgesagt, das ist nahe am 37-Prozent-Ergebnis von 2012. Allerdings könnte es unter Umständen schwer werden, einen Koalitionspartner zu finden, weshalb es doch ein wenig spannend bleibt.
Schaut man sich de Wevers politische Bilanz der vergangenen Jahre genauer an, zeigt sich, dass er nicht zuletzt auf populistische Maßnahmen setzt, womit er das „subjektive Sicherheitsempfinden“ in der Bevölkerung laut Umfragen verbessert hat. Gebracht habe sein „Krieg gegen die Drogen“, um ein Beispiel zu geben, laut dem Kriminologen Tom Decorte von der Universität Gent allerdings nichts. Statt das Problem von der strukturellen Seite anzugehen, werde lediglich ein Krieg gegen die Drogenkonsument*innen geführt, den de Wever dann mit markigen Worten begleite, um die mageren Resultate seiner Politik zu kaschieren. Auch was die Mobilität und den sozialen Wohnbau angeht, ist die Bilanz des „pro-Auto-Bürgermeisters“ alles andere als fortschrittlich.
De Wevers N-VA ist jedoch nicht die einzige Partei, die bei den Kommunalwahlen auf die identitär-reaktionäre Karte setzt. Auf je ihre Weise tun dies noch mehr der „Parti Islam“ und der „Vlaams Belang“. Mindestens fünfzehn Kandidaten der rechtsextremen Partei könnten als waschechte „Nazis“ bezeichnet werden, so die Tageszeitung „Het Laatste Nieuws“ aufgrund einer rezenten Recherche. Damit meint das Blatt, dass die Betreffenden nicht nur mit neurechten Gruppierungen wie „Schild & Vrienden“, sondern explizit auch mit Adolf Hitler und Nazi-Terroristen sympathisieren.
Der „Parti Islam“ wiederum möchte Belgien in eine „islamistische Demokratie“ verwandeln. Dazu gehört neben der Einführung der Scharia auch die exklusive Kandidatur von Männern als Spitzenkandidaten, ein Verbot von Tattoos und Piercings sowie die strikte Trennung von Männern und Frauen im öffentlichen Transport. Allerdings tritt die Partei statt wie geplant in 28 Gemeinden nun lediglich in den Kommunen Brüssel und Molenbeek an; in Anderlecht wurde ihr die Zulassung der Liste zudem verwehrt.
Doch nicht nur in diesen Parteien tummeln sich Reaktionäre. Immer wieder berichteten die belgischen Medien in den vergangenen Monaten von Kandidat*innen der etablierten Parteien, die sich rassistisch, homophob oder in anderer Weise diskriminierend geäußert hatten, meist jedoch nicht auf öffentlichen Versammlungen, sondern in den sozialen Medien. Letztere ermöglichen es, die Kandidat*innen gründlicher zu durchleuchten, als es mancher Partei wohl lieb gewesen ist; in vielen Fällen wurden die Betroffenen daraufhin von den Listen entfernt.
Spannend dürfte werden, wie sich die landesweit 700.000 Jungwähler*innen entscheiden, die zum ersten Mal an einem Urnengang beteiligt sind. Eine neue Umfrage aus Flandern stimmt allerdings nicht unbedingt optimistisch, denn demnach wünschen sich rund 25 Prozent der flämischen Neuwähler*innen ein autoritäres Regime. Man kann das Ergebnis natürlich auch anders drehen: Immerhin 75 Prozent teilen diese Ansicht nicht.