Libanon: Explosive Stimmung

Proteste gegen die wirtschaftliche Notlage, ein landesweiter Streik steht bevor: Die Wut im Libanon richtet sich gegen die Unfähigkeit der politischen Führung und die Manipulationen des Generalstaatsanwalts, der die Ermittlungen wegen der katastrophalen Explosion am Beiruter Hafen 2020 hintertreibt.

Wut über die Perspektivlosigkeit: Proteste vor der libanesischen Zentralbank am vergangenen Samstag in Beirut. (Foto: EPA-EFE/Wael Hamzeh)

Hunderte Protestierende zogen vergangene Woche zur Zentralbank in Beirut. Sie blockierten die Zufahrtswege und setzten Mülltonnen in Brand. Ein Großaufgebot der Polizei sicherte das Gebiet um die Zentralbank, die viele Libanesen und Libanesinnen für den wirtschaftlichen Absturz verantwortlich machen.

Tatsächlich ist Libanons Wirtschaft auf einer rasanten Talfahrt. Seit 2019 hat die Landeswährung 97 Prozent ihres Werts verloren. Die Inflation ist so hoch wie nie zuvor. Ein US-Dollar kostete zeitweilig über 60.000 Libanesische Pfund (LBP), ein Kursverlust von über 30.000 LBP im Vergleich zu Februar 2022. 1997 war die Währung zum Kurs von eins zu 1.500 an den US-Dollar gekoppelt worden; diese Regelung steht nur noch auf dem Papier, der Schwarzmarktkurs ist der entscheidende.

Aufgrund dieser Entwertung sind unter anderem die Preise für Benzin, Heizöl und Gas immens gestiegen – zuletzt um über zehn Prozent in nur sieben Tagen. Die Tankstellen wurden daraufhin kurzzeitig geschlossen, da die Mineralölkonzerne auf eine neue Bepreisung durch die Regierung warteten. Das Energieministerium legt bislang einmal wöchentlich neue Preise fest, wegen des exponentiellen Währungsverfalls will es nun zwei Mal täglich aktualisierte Preislisten veröffentlichen – dem Schwarzmarktkurs des Dollars folgend.

Auch die Berufsvertretung der Bäckereien geht auf die Barrikaden. Sie droht, die Bäckereien zu schließen, falls die geschäftsführende Regierung die Brotpreise nicht anhebt. Der Staat bezuschusst die Einfuhr von Weizen und bestimmt dadurch die Preise. Aufgrund der steigenden Inflation wird der Import und damit das Mehl immer teurer, das Backgeschäft rentiert sich kaum noch.

Bereits seit Anfang des Jahres streiken die Lehrer und Lehrerinnen der öffentlichen Schulen. Nun haben sich die Lehrkräfte der Privatschulen angeschlossen. Die Lehrkräftegewerkschaft kündigte an, den Streik fortzusetzen, bis die Regierung die Gehälter erhöht. Das Durchschnittseinkommen von Lehrern und Lehrerinnen beträgt etwa drei Millionen LBP monatlich, umgerechnet etwa 50 US-Dollar. Für viele Kinder droht das Schuljahr bereits jetzt vorüber zu sein. Die Lehrkräfte erhalten Unterstützung aus anderen Sektoren: Béchara Asmar, der Präsident des Gewerkschaftsbunds „General Confederation of Lebanese Workers“, kündigte einen landesweiten Streik im Transportgewerbe, in der Privatwirtschaft und der öffentlichen Verwaltung für die kommende Woche an.

Der Unmut wächst. Immer mehr Menschen rutschen in die Armut ab. Den Vereinten Nationen zufolge leben mittlerweile mehr als 80 Prozent der Libanesen und Libanesinnen in „multidimensionaler Armut“. Neben ausreichendem Einkommen fehlen ihnen auch Zugang zum Bildungs- und Gesundheitswesen sowie zu öffentlichen Versorgungseinrichtungen. Seit 2019 hat sich die Armutsrate verdoppelt. Zu allem Überfluss sagte der geschäftsführende Wirtschaftsminister, er wolle Supermärkten gestatten, Importgüter künftig in US-Dollar zu bepreisen. Libanons Gastronomie wartete eine Regierungsentscheidung gar nicht erst ab; viele Restaurants bezifferten ihre Preise unmittelbar nach dieser Ankündigung in US-Dollar. Eine Dollarisierung hieße für weite Teile der Bevölkerung, dass sie sich viele Produkte nicht mehr leisten können.

Den Vereinten Nationen zufolge leben mittlerweile mehr als 80 Prozent der Libanesen und Libanesinnen in „multidimensionaler Armut“.

Bereits in der vergangenen Woche machten Tausende Libanesen und Libanesinnen ihrem Ärger über die rasant steigenden Lebenshaltungskosten Luft, und das nicht nur vor der Zen-
tralbank. Sie blockierten Straßen und setzen Barrikaden in Brand. Kurzzeitig hatten sie sogar eine wichtige Verkehrsschlagader besetzt: die Straße zum Flughafen. Sie fordern die Regierung zum Handeln auf. Die hat nur eingeschränkte Befugnisse, zeigt aber auch in diesem Rahmen wenig Initiative.

Der Libanon hat weiterhin keine neue Regierung: Neun Monate nach der Parlamentswahl gibt es noch immer kein Kabinett, das das geschäftsführende ablösen könnte. Das Parlament ist in Gegner und Unterstützer der Hizbollah gespalten. Hinzu kommen wechselseitige Korruptionsvorwürfe, die eine Einigung erschweren. Solange diese ausbleibt, steuert die alte Regierung das Land geschäftsführend durch die Krise. Wichtige politische Entscheidungen kann sie nicht treffen.

Das Präsidentenamt ist unbesetzt. Die Parteien können sich nicht auf einen Nachfolger Michel Aouns einigen, dessen Amtszeit im Oktober 2022 endete. Nunmehr elf Wahlgänge verliefen im Parlament ergebnislos. Die meisten Stimmen erhielt Michel Mouawad, ein Kritiker der Hizbollah. Dass er das Amt übernimmt, ist allerdings ausgeschlossen, denn ohne die Stimmen der „Partei Gottes“ sowie ihrer politischen Verbündeten kann er das erforderliche Quorum von 86 der 128 Abgeordneten nicht erreichen. Aussichtsreichere Bewerber sind der libanesische Generalstabschef Joseph Aoun und Suleiman Frangieh Jr., der maronitische Vorsitzende der prosyrischen Marada-Bewegung. Die anhaltende politische Blockade kommt vor allem der Hizbollah zugute: Ein schwacher Staat ist in ihrem Sinne.

Die Verantwortungslosigkeit der politischen Führung hatte auch die Explosionskatastrophe am Beiruter Hafen am 4. August 2020 gezeigt, bei der mehr als 200 Menschen starben und 6.500 verletzt wurden. Etwa 2.750 Tonnen hochexplosives Ammoniumnitrat lagerten dort ungesichert. Die Ermittlungen haben Ende Januar wieder an Brisanz gewonnen. Nach monatelangem Stillstand hat Libanons Chefermittler, der Richter Tarek Bitar, die Untersuchungen wiederaufgenommen. Er erhob Anklage wegen vorsätzlicher Tötung gegen zwei ehemalige Minister, Ali Hassan Khalil und Ghazi Zeitar (beide Mitglieder der schiitischen Amal-Bewegung), Generalstaatsanwalt Ghassan Oweidat, den ehemaligen Ministerpräsidenten Hassan Diab sowie hochrangige Kader des Sicherheitsapparats – darunter der der Hizbollah nahestehende Abbas Ibrahim, seines Zeichens Leiter des Inlandsgeheimdiensts.

Politische Unterstützung im Libanon habe Bitar nicht, meinen Experten. Die politische Führungsschicht lehnt die Untersuchung größtenteils ab, vor allem die Hizbollah ist entschieden gegen eine Aufklärung. Libanesischen Medien zufolge könnte die im Libanon einflussreiche ehemalige Mandatsmacht Frankreich Bitar überzeugt haben, die Ermittlungen wiederaufzunehmen. Der hatte sich vor kurzem mit französischen Richtern getroffen, die ebenfalls zur Explosion ermitteln, bei der auch zwei Franzosen ums Leben gekommen waren. Viele rechnen mit Bitars baldiger Absetzung.

Die Reaktion der Gegenseite folgte prompt. Der Michel Aoun nahestehende Generalstaatsanwalt Oweidat verfügte die Freilassung der 17 wegen der Explosion inhaftierten Verdächtigen, unter ihnen der seinerzeitige Zolldirektor Badri Daher und der Leiter der Hafensicherheit, Ziad Aouf. Beide sind Hauptbeschuldigte im Verfahren, ihnen werden enge Verbindungen zum ehemaligen Präsidenten Aoun und der Hizbollah nachgesagt. Aouf floh nach seiner Haftentlassung umgehend aus dem Land. Obendrein verklagte der Generalstaatsanwalt Bitar und verhängte eine Ausreisesperre gegen ihn.

Oweidat bewegt sich nach Meinung libanesischer Rechtsexperten außerhalb der Legalität. Er ist selbst Beschuldigter im Verfahren. Bitar wirft ihm vor, den Abtransport des Ammoniumnitrats aus dem Hafen untersagt zu haben. Zudem ist Oweidat nicht autorisiert, Verdächtige zu entlassen, geschweige denn den ermittelnden Richter anzuklagen. Die Minister Ali Hassan Khalil und Ghazi Zeitar (Oweidats Schwager), beide ebenfalls Gegenstand der Untersuchung Bitars, kamen dem Generalstaatsanwalt zu Hilfe. Sie bezichtigen Bitar des Betrugs und der widerrechtlichen Aneignung von Verwaltungsbefugnissen und reichten ebenfalls Klagen gegen ihn ein.

Die politische Führungsschicht lehnt die Untersuchung der Explosion größtenteils ab, vor allem die Hizbollah ist entschieden gegen eine Aufklärung.

Das Vorgehen Oweidats und seiner Unterstützer im politischen Establishment ist de facto eine Kriegserklärung an die Justiz des Libanon, die Zivilgesellschaft und nicht zuletzt die Opfer der Explosion. Deren Angehörige und zivilgesellschaftliche Gruppen protestierten vergangene Woche vor dem Justizpalast. Einige Demonstrierende drangen in das Gebäude ein, in dem sich Oweidat aufhielt. Ordnungskräfte brachten die Lage schließlich wieder unter Kontrolle und drängten sie hinaus.

Eine baldige Entspannung der Lage ist nicht in Sicht. Libanons Zivilgesellschaft ruft zu weiteren Kundgebungen auf, landesweite Streiks stehen bevor. Zum Protest gegen die wirtschaftliche Notlage tritt der Ärger über das dysfunktionale politische System. Viele Libanesen und Libanesinnen befürworten Bitars Bemühungen um Aufklärung, fürchten aber, dass der unbequeme Ermittler durch ein Attentat beseitigt werden könnte.

Emil Heinrich berichtet als freier Journalist 
aus Beirut.

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