Literatur: Lyrische Lektüretipps, Teil 2

In den vergangenen zwölf Monaten ist eine Vielzahl an interessanten Lyrikbänden erschienen – aus der Fülle haben wir eine kleine Auswahl an lesenswerten Publikationen herausgegriffen und für Sie rezensiert.

 

„Nachwasser“ von Frieda Paris

(Foto: Chris Lauer/woxx)

(© Verlag Voland & Quist)

Frieda Paris erschafft in ihrem Langgedicht „Nachwasser“ ein poröses, durchlässiges Textgewebe, das von dem Erdichteten der großen „Wortmutter“ Friederike Mayröcker sowie den Worten anderer großen Autor*innen wie Ingeborg Bachmann oder Paul Celan tröpfchenweise durchdrungen wird – auf diese Weise reichert sie die Matrix dieses spielerisch-komplexen, 130 Seiten langen Werkes ständig mit neuem Sprachmaterial an: „ich liege in großen Fragen: / aber werde ich denn noch lieben? (Elke Erb)“. Hierdurch entsteht – und das ist die Magie dieses Poems – mit der Zeit aus einer amorphen Grundsubstanz ein mit filigranen Mustern ausgestattetes Flächengebilde: ein Flickenteppich, der am als „Schneidetisch“ bezeichneten Schreibtisch der Autorin wie aus auseinandergerissenen Stofffetzen zusammengewebt wurde. In „Nachwasser“ erforscht das lyrische Ich nach Art des Märchens im Zwiegespräch mit einem besonnen wie wohlwollend impulsgebenden Vogel, einer sogenannten „Lomeise“, die Bedingungen des kreativen Schaffens und Schreibens. Hierbei entzieht sich jedoch der Text in frei tänzelnder Manier konkreten Gattungszuschreibungen: „[…] dass ich mich frage, was unter / Im Handgelenk ein Vogel (ist gleich Arbeitstitel) / stehen wird // am liebsten wäre mir: nichts / entgegen einer Eingattung (Eingitterung)“. Bewusstseinsinhalte werden assoziativ aneinandergefügt, Erinnerungsschnipsel aus der Kindheit und Jugend eingebettet. Die Autorin beleuchtet auch ihre Recherchen zu Friederike Mayröcker, thematisiert also die direkte Arbeit mit dem Nachlass der Dichterin. So schafft sie einen Text, wie man einen Schatz hebt: schrittweise, nach langer Suche und in der Hoffnung, dass das Unterfangen gelingt – und es gelang: Mit ihrem Erstlingswerk reüssierte die Autorin, die vor Kurzem den mit 10.000 Euro dotierten österreichischen Debütpreis erhielt, allemal.

Frieda Paris: „Nachwasser“, Langgedicht, Edition Azur im Verlag Voland & Quist, Berlin und Dresden 2024, 136 Seiten, 22 Euro

„Form wahren“ von Lukas Meschik

(© Limbus Verlag)

Wie mit einem hauchfeinen Netz fängt Lukas Meschik mit seinen Dreizeilern freischwebende gedankliche Kleinstpartikel ein, die durch die Luft der festlich geschmückten Manegen des Lebens tanzen. Auf dem Stephansplatz in Wien, in Zügen, Bars, Cafés oder der eigenen Wohnung – überall passieren Dinge, die Anlass geben zu einer poetischen Reflexion, einer kurzen, pointierten Betrachtung, die sich in ihrer formalen Triade (manchmal wird der Titel als viertes Element hinzugenommen) wie ein Schlussakkord mit dem finalen Vers harmonisch auflöst. Aufreibende Arbeit, der Verlust einer Liebe, der Anblick einer Begehren weckenden Fremden, der Ärger über zu laute Musik in der U-Bahn… Alles wird in wenigen Gedichtzeilen festgebannt. Mit cleveren Sprachspielereien huldigt Meschik der Kunstform des Kurzgedichts, der Freude an den Gestaltungsmöglichkeiten verdichteter Sprache: „Drumherum reden bringt gar nichts / Schüchternheit ist Nüchternheit / Drum lieber rumherdrum“. Oft entpuppt sich das lyrische Ich als ein Schelm, der aber trotz seinem Spaß an der Posse immer bereit ist, sich verblüffen und berühren zu lassen von dem, was er hört, sieht, schmeckt, erlebt. Wohlwollend ist der Blick dieses männlich konnotierten Sprecher-Ichs dennoch nicht immer, gerade Frauen werden manchmal, zum Beispiel im Gedicht „Das Geheimnis der Russinnen“, zum Opfer seines bissigen, herabwürdigen Spotts: „Anfang vierzig werden sie nachtsüber hässlich / Nehmen zu, quellen auf und kriegen Nasen / Die Trunksucht ihrer Männer darzustellen“. Auch wenn Texte wie dieser die Grenze zum Gehässigen überschreiten, bleibt „Form wahren“ ein schillerndes und raffiniertes Werk, das von über tausend geschriebenen Dreizeilern gerade einmal rund die Hälfte versammelt. Nach der Lektüre würde man nur allzu gerne einen Blick auf die nicht aufgenommenen Texte werfen, denn sicherlich befindet sich auch darunter die eine oder andere Perle.

Lukas Meschik: „Form wahren“, Dreizeiler, Limbus Verlag, Innsbruck und Wien 2024, 15 Euro

„salztage + zurück“ von Carla Lucarelli

(© Editions Phi)

Die Gedichte von Carla Lucarelli scheinen Seelenanteile einer*s Wandernden zu enthalten, deren*dessen Handlungskraft gleichermaßen von zwei Triebfedern bestimmt wird: dem urmenschlichen Wunsch nach Selbstverortung und -verankerung einerseits, dem Drang nach berauschend-entwurzelnder Fremderfahrung andererseits. Im Sommer, der Zeit der verheißungsvollen Aufbrüche, werden Koffer gepackt und ferne Länder aufgesucht – doch wo endet die Reise, wo beginnt das Exil? Südwärts, immer südwärts treibt es das lyrische Ich, bis dorthin, wo sich eine Öffnung der Welt hin zum größten aller Räume, dem Weltall, vollzieht: „in den weltraum ragen zypressen / aus archaischen Lebensentwürfen / in gesichtern die völkerwanderung / in der ferne der zug“. Existenzielle Migrationsbewegungen finden hier in einer Epoche statt, in der geografische und geistige Bezugspunkte in ihrer Festigkeit und Unveränderlichkeit durch Konflikte, gesellschaftliche Spaltung, Krisen und (klimatischen) Veränderungen zunehmend infrage gestellt werden. Entdecker*innen werden zu Verirrten, denen der Selbstverlust droht: „fremdsprachig / über den planeten irren / auf der suche nach leichtem sinn“. Die Sehnsucht nach einfachen Antworten, so nachvollziehbar sie auch sein mag, muss enttäuscht werden; sprachliche Botschaften liegen tief in den Menschen verborgen und dringen nicht an die Oberfläche – und wo finden sich bloß die Adressat*innen? So heißt es im Gedicht „windstärke“: „aus uns sprechen nicht / wir / sind wörterbücher / flaschenpost“. Den Texten, die der Gedichtband „salztage + zurück“ versammelt, haftet durch ihre evokative Kraft etwas Ätherisches an – Stimmungen und Bilder werden meist nur anzitiert, um einen umso distinkteren Nachklang zu erzeugen.

Carla Lucarelli: „Salztage + zurück“, Gedichte, Editions Phi, Luxembourg 2024, 15 Euro

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