Niederlande: Stunk um Stickstoff

Die niederländische Regierung will den Stickstoffausstoß reduzieren. Die Proteste seitens des Agrar- und Bausektors führen vor Augen, wie die Klimadebatte zu ernsthaften Dilemmata führt. Die extreme Rechte versucht derweil einmal mehr, mit Stimmungsmache die Ernte einzufahren.

No milk today: Landwirte auf dem Weg zu einer Demonstration Anfang Oktober in Den Haag. (Foto: EPA-EFE/Vincent Jannink)

Manches ließe sich sagen über Mark Rutte, den niederländischen Premierminister. Etwa, dass es seiner Politik an gesellschaftlicher Vision fehlt. Oder dass er als Chef der marktliberalen „Volkspartij voor Vrijheid en Demoratie“ (VVD) bisweilen versucht, auf der populistischen Welle mitzureiten. Schließlich auch, dass er Anschuldigungen und Vorwürfe gerne weglacht und darin einige Routine erworben hat. Was ihm allerdings niemand nachsagen kann, ist, dass er als Regierungschefs nicht krisenerprobt sei. In seine Amtszeit fiel 2014 der Abschuss des in Amsterdam gestarteten Linienflugs MH17 über der Ostukraine, der wohl auf das Konto prorussischer Rebellen ging. Er war mit der Eurokrise seit 2010 konfrontiert und mit gewalttätigen Protesten gegen die Unterbringung von Flüchtlingen Ende 2015.

Wenn Rutte daher, wie im November geschehen, von der „schwersten Krise“ seiner neun Jahre als Premier spricht, muss einiges passiert sein. International nahm man vor allem die Bauernproteste am Regierungssitz Den Haag wahr, die für niederländische Verhältnisse außergewöhnlich heftig waren. Doch Kundgebungen unzufriedener Landwirte gab es diesen Herbst auch in den Nachbarländern Belgien, Deutschland und Frankreich. Weshalb also die dramatische Rhetorik?

Die Krisenstimmung in Den Haag hat sich bereits seit Monaten langsam aber stetig aufgebaut. Am Anfang stand ein Urteil, welches das höchste Verwaltungsgericht der Niederlande Ende Mai gefällt hat. Demnach verstößt die bisherige Praxis, Genehmigungen für Stickstoff freisetzende Aktivitäten mit Naturschutzmaßnahmen zu kompensieren, gegen europäisches Recht. Gemeint ist die sogenannte Flora-Fauna-Habitatrichtlinie von 1992. Die Genehmigungen von rund 18.000 Bau- und Infrastrukturprojekten lagen damit auf Eis, ebenso bereits begonnene Projekte, darunter ein Autobahn-Ausbau, Neubausiedlungen und der neue Flughafen Lelystad.

Besonders brisant wird diese Entwicklung angesichts der Erwartung von Ökonomen, wonach das niederländische Wirtschaftswachstum der vergangenen Jahre allmählich zu Ende geht. Hinzu kommt, dass im gesamten Land zwischen 260.000 und 290.000 Wohnungen fehlen. Zwei wichtige Gründe für die Regierung also, die stillgestellten Projekte wieder in Gang zu bekommen. Doch das Dilemma bleibt: Beschäftigung, Wohnbau und Umweltschutz scheinen zunehmend unvereinbar zu werden, wenn ökologische Standards nicht mehr als freiwilliger Luxus, sondern als bindende Verpflichtung interpretiert werden.

Um den Kontext der „Stickstoffkrise“, wie sie in den Niederlanden inzwischen genannt wird, besser nachvollziehen zu können, ist noch ein weiterer Urteilsspruch von Bedeutung: 2015 gab ein Gericht in Den Haag der Umweltorganisation „Urgenda“ sowie knapp 900 Mitklägern Recht und erklärte den niederländischen Staat für den Schutz seiner Bürger vor den Folgen des Klimawandels verantwortlich. Bis Ende 2020 muss die Regierung daher den Ausstoß von Treibhausgasen um 25 Prozent senken. 2018 wurde das Urteil in Berufung bestätigt. Kurz vor Weihnachten soll das oberste Gericht in Den Haag den Fall nun endgültig klären. Die niederländische Justiz ist also nicht zum ersten Mal ein wesentlicher Akteur im Klima-Diskurs des Landes.

In punkto Stickstoffausstoß weisen die Niederlande mit 50 Kilo pro Hektar den mit Abstand höchsten Wert Europas auf. Der EU-Durchschnittswert liegt bei knapp 15 Kilo, der Luxemburger etwas darunter. Die Terminologie ist hier freilich nicht ganz exakt: Stickstoff an sich ist ungefährlich, solange er nicht mit Sauer- oder Wasserstoff zu Stickoxiden beziehungsweise Ammoniak reagiert und Luft oder Boden verschmutzt. Einer aktuellen Studie des naturwissenschaftlichen Forschungsinstituts TNO zu Folge ist der Agrarsektor mit 61 Prozent Hauptverursacher, gefolgt vom Straßenverkehr mit 15 und der Industrie mit neun Prozent.

Beschäftigung, Wohnbau und Umweltschutz scheinen zunehmend unvereinbar zu werden, wenn ökologische Standards nicht mehr als Luxus, sondern als Verpflichtung gelten.

Angesichts dieser Zahlen überrascht es nicht, dass die Landwirtschaft im Zentrum der Debatte steht. Um die Stickstoffemission drastisch zu senken, soll der Nutztierbestand um die Hälfte reduziert werden, findet die liberale Partei „Democraten66“ (D66), die eher ein progressives urbanes Bürgertum vertritt. „Eine schmerzhafte Wahl, aber die Probleme mit der Haltung von Ferkeln und Hühnern sind sonst nicht zu lösen“, so der Abgeordnete Tjeerd de Groot im niederländischen Fernsehen. Derzeit gibt es im Land rund 1,6 Millionen Milchkühe, 12,5 Millionen Ferkel und 100 Millionen Hühner.

In der Mitte-Rechts-Koalition in Den Haag trifft der Halbierungsvorschlag auf wenig Zustimmung. Während die VVD von Premier Rutte eher auf technologische Innovation zur Stickstoffreduzierung setzt, gelten die Christdemokraten (CDA) seit jeher als ausgesprochene Agrarpartei. Als alarmierte Bauern Anfang Oktober zum ersten Mal unweit des Parlaments demonstrierten, kündigte Landwirtschaftsministerin Carola Schouten vom calvinistischen Junior-Partner „Christen-Union“ (CU) an, in ihrer Amtszeit werde es „keine Halbierung des Viehbestands” geben. Das war gut für die einstweilige Beruhigung der Lage, birgt aber Gefahrenpotenzial für die Koalition, die im Parlament derzeit keine Mehrheit hat.

Was innerhalb der Regierung zu Zerwürfnissen führen könnte, weist jenseits dessen Elemente eines heftigen Konflikts auf, wie man ihn künftig wohl häufiger erleben wird. Wer kommt auf für die wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Anpassungen im Zeichen von Nachhaltigkeit und Klimaschutz? Die Begrenzung des agrarischen Stickstoffausstoßes war als Hebel gedacht, um die blockierten Bauprojekte wieder in Gang zu bringen. Bei den großen Bauerndemonstrationen in in der Hauptstadt wiederum sah man Schilder, die auf den Stickoxidausstoß des Flugverkehrs hinwiesen, dem bislang keine Klimanormen auferlegt würden.

Ungeachtet des Halbierungsvorschlags hatten die zwölf niederländischen Provinzen im vergangenen Oktober konkrete Maßnahmen bekanntgemacht, um den Ammoniakausstoß der Landwirtschaft zu senken. Auch dies hatte zum Unmut der Bauern geführt, die diesen vor den Provinzparlamenten teils gewalttätig zum Ausdruck brachten. Vier der Provinzen nahmen die Pläne daraufhin umgehend zurück. Das wiederum brachte den Bausektor auf die Beine: zwei Wochen nach den Traktoren der Bauern war dieselbe Wiese im Zentrum Den Haags von 1.000 Baufahrzeugen zugeparkt.

Dabei ging es nicht nur um den Erhalt von Tausenden Arbeitsplätzen, die durch die Projektblockade gefährdet sind, sondern auch um die im Oktober eingeführte umstrittene Norm für sogenannte „Pfas-Stoffe”. Das sind chemische Verbindungen, die bei Bautätigkeiten in den Boden gelangen können. Ende November erhöhte die Regierung den zulässigen Grenzwert wieder, und gab damit dem Druck des Bausektors und Teilen der öffentlichen Meinung nach.

Inzwischen ist die Stickstoffkrise zum Musterbeispiel einer Klimadebatte geworden, die im Zentrum der politischen Auseinandersetzung gelandet ist und immer mehr polarisiert. Wenn die Landwirte mit ihren Traktoren im liberal geprägten Ballungsraum im Westen des Landes aufkreuzen, treffen sie nicht nur auf Unverständnis, sondern auch auf Arroganz und Entfremdung. Auf solche Affekte reagieren sie ihrerseits recht offensiv, wenn sie „Bauern! Bauern!“ skandierend durch Den Haag ziehen, Bierdosen und Fleischbrötchen in der Hand, und Böller zünden, während im Hintergrund Kirmes-Beats stampfen.

Von der polarisierten Situation zeugt auch die international tätige „Farmers Defence Force“. Vor gerademal einem halben Jahr gegründet, ist die Organisation bereits zu einem der wichtigsten Akteure auf Seiten der Landwirte herangereift. Den Anlass zur Gründung hatte die Besetzung eines Ferkelzuchtbetriebs durch eine Tierrechtsgruppe gegeben. Und auch einige Gelbwesten verschlug es zu den Großdemonstrationen nach Den Haag.

Auf dem Podium bei den Bauernprotesten fanden sich wenig überraschend keine Regierungsvertreter wieder. Dafür jedoch die beiden Protagonisten des niederländischen Rechtspopulismus, die sich gerne als Anwälte der hart arbeitenden, einfachen Menschen sehen: Geert Wilders und Thierry Baudet. Letzterer hatte unlängst behauptet, es gebe „überhaupt keine Stickstoffkrise“, sondern nur ein „selbstgemachtes Problem verkehrter Regelvergabe“.

Mitte November präsentierte die Regierung nun ein Maßnahmenpaket zur Lösung der von Rutte so bezeichneten „schwersten Krise“. Demnach sollen Bauern künftig weniger eiweißhaltiges Viehfutter verwenden. Zudem stellt man 180 Millionen Euro bereit, um ausstiegswillige Schweinezüchter auszubezahlen. Ein Notgesetz soll indes gewährleisten, dass essenzielle Projekte zum Straßenunterhalt und Hochwasserschutz ungehindert umgesetzt werden können. Für die meisten Schlagzeilen sorgte freilich der Plan, auf Autobahnen tagsüber ein Tempolimit von hundert Stundenkilometern einzuführen. Es passt ins Bild, dass Geert Wilders angesichts dessen von einem „Hochverrat am Autofahrer“ sprach und dies mit einer polemischen Anspielung auf progressive Großstädter verband: „Bald dürfen wir nur noch Lastenfahrrad fahren.“

Tobias Müller berichtet für die woxx vorwiegend aus Belgien und den Niederlanden.

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