Nightsongs: „Nachts passiert viel in unseren Köpfen“

Das Kunstprojekt „Nightsongs“ von Independent Little Lies spiegelt die Melodien des Minett. Samuel Reinard, Sounddesigner und Musiker, spricht mit der woxx über die Klangkulisse seiner Jugend und den Sound stillgelegter Industriegelände.

Samuel Reinard, bekannt unter dem Künstlernamen Ryvage, hat das Konzept zu „Nightsongs“ erarbeitet. (© Mike Zenari)

woxx: Samuel Reinard, im Mittelpunkt Ihres Projekts „Nightsongs“ stehen Geräusche der aktiven Stahlindustrie bei „Arcelor Mittal“ in Belval und des stillgelegten Werks „Metze-schmelz/Ferro Forum“ in Esch/Schifflingen. Ein Kontrast zwischen Lärm und Stille?


Samuel Reinard: Die Locations stehen für zwei Zustände und Zeitzonen. Auf der einen Seite die produktive und aktive Industrie, auf der anderen Seite die von Menschen geprägte Ruine, die stillgelegt wurde und gleichzeitig eine Vorschau darauf ermöglicht, was dem noch genutzten Industriegelände in Belval bevorsteht. „Nightsongs“ setzt sich mit dieser Vergänglichkeit und der Idee von Gedächtnis sowohl klanglich als auch musikalisch auseinander. Klang übermittelt dieses Konzept, da er an eine Präsenz gebunden ist, die ihn erzeugt oder im Falle der Metze-schmelz an eine Abwesenheit, die sich durch Stille definiert.

Wie gelingt die Aufnahme von Stille?


Wir haben die räumlichen Eigenschaften der riesigen, leeren Hallen der Metzeschmelz eingefangen, um sie dann als künstlichen Hall für die Kompositionen zu nutzen. So wurde aus dieser neu entstandenen Leere wieder Teil einer Präsenz.

Im Pressetext ist von verschiedenen Facetten und Aktivitäten der Nacht die Rede; auch der Name des Projekts ist im Plural formuliert. Was sind die Geräusche der Nacht, die Sie besonders faszinieren?


Die nächtliche Soundkulisse der Stahlindustrie hat mich meine ganze Kindheit und Jugend über begleitet und mich in meiner musikalischen Entwicklung beeinflusst sowie geprägt. Dies ist mir allerdings erst spät klar geworden, als mich Hörer*innen auf den industriellen und melancholischen Touch meiner Musik und meines Sounddesigns angesprochen haben. Ich glaube, es waren vor allem das Heulen der Sirenen, das metallische Jammern der Laufkräne und Walzstraßen, das tiefe Brummen in der Ferne, das man vor allem im Sommer durch das geöffnete Schlafzimmerfenster oder bei Regen in der stillen Stadt hört, die mich fasziniert haben. Dieser Soundtrack begleitet die Menschen nachts, beim Arbeiten, beim Schlafen oder Wachliegen, beim nächtlichen Spaziergang oder gar beim Feiern. All dies wird in „Nightsongs“ verarbeitet, da die Samples der Industrie der Ausgangspunkt jedes Tracks sind und die sich mit verschiedenen nächtlichen Themen und Aktivitäten befassen. Nachts passiert sehr viel in unseren Köpfen und der Soundtrack dieses inneren Geschehens kann diese akustische Kulisse sein, wenn man im Süden von Luxemburg lebt oder aufgewachsen ist.

Inwiefern ist die akustische Identität eines Raums immer auch ein Erinnerungsort?

Oft hört man Dinge, bevor man sie sieht. Die akustische Identität einer Stadt ist eine Bereicherung und Ergänzung der visuellen Identität. Einer der Ausgangspunkte des Projektes ist es, die industrielle Klangwelt von Esch zu archivieren und für die zukünftigen Generationen zu erhalten und gleichzeitig Musik daraus zu machen, um das poetische Potenzial dieser nächtlichen Soundkulisse hervorzuheben.

Wie unterscheiden sich Belval und Esch akustisch voneinander?


In Belval hört man die funktionierende Industrie in einem postindustriellen Setting, vor allem nachts und durch die unmittelbare Nähe der Anlagen, wobei man im Zentrum von Esch die Geräusche eher aus der Ferne wahrnimmt.

© Emile Hengen

„Nightsongs“ besteht aus drei Teilen: Es gibt einen akustischen Rundgang in Belval, den Personen mit Smartphone über eine App aufrufen und nachts ablaufen können; am Samstag ein Livekonzert mit weiteren Musiker*innen in der Kulturfabrik sowie im Oktober eine Soundinstallation im Escher Bridderhaus. Warum diese drei Darstellungsformen?


Generell geht es darum, dass die Besucher*innen bewusst zu- und hinhören. Das erscheint mir in unserer Welt, die von Musik und Klängen überflutet ist, interessant und wichtig. Der Soundwalk verknüpft die Musik mit verschiedenen Orten in Belval, die eine Verbindung mit der Thematik und den Sounds haben.

„Musik und Klang sind universelle Sprachen“

Weshalb ist der nur nachts verfügbar?


Ich habe mich bewusst dafür entschieden, den Soundwalk nur nachts zugänglich zu machen, um das Erlebnis, das mich bei der Gestaltung der Musik begleitet hat, so gut wie möglich mit den zuhörenden Besucher*innen zu teilen. Gleichzeitig ist die Gegenüberstellung zwischen Industriegelände und dem postindustriellen Flair in Belval eine weitere Auseinandersetzung mit der Verarbeitung unseres Industrieerbes. Dabei ist die Erfahrung des Soundwalks per se individuell. Um die Musik live und mit anderen Menschen zu erleben, gibt es das Konzert. Die Installation hingegen soll die Besucher*innen, die Zuhörer*innen, einladen, sich völlig auf die verarbeiteten Sounds und die Musik einzulassen, ohne sich dabei viel zu bewegen. Wie eine akustische Zeitmaschine führt sie durch verschiedene Zeitschichten und Klangbilder und lädt dazu ein, die Klanglandschaft zu bewohnen, die um die Zuhörer*innen entsteht. Da mehrere Tracks und Kompositionen für das Projekt produziert wurden, findet man verschiedene Interpretationen und Songs nur in einer der drei Darstellungsweisen.

Sie sind generell oft an interdisziplinären Projekten beteiligt, haben beispielsweise die Musik für das Theaterstück „La Vieille qui marchait dans la mer“ oder zu einer Videoinstallation der Choreografin Jill Crovisier gestaltet. Ist der Prozess Übersetzungsarbeit oder die Entstehung einer neuen, gemeinsamen Sprache?


Ich denke, es ist ein Dialog. Musik und Klang sind beides universelle Sprachen und haben gleichzeitig die Kraft und Möglichkeit, eine Szene, ein Bild oder einen Ort in ein völlig neues Licht zu rücken. Diese Kraft fasziniert mich und treibt mich an, Klangbilder, musikalische Erzählungen und elektronische Tracks zu erschaffen. Die Zusammenarbeit mit Künstler*innen anderer Disziplinen ist dabei sehr bereichernd.

Weiterführende Informationen zum Projekt gibt es unter ill.lu. Das Konzert in der Escher Kulturfabrik findet an diesem Samstag, dem 24. September, ab 19:30 Uhr statt. 
Tickets sind unter kulturfabrik.lu erhältlich, ebenso wie Informationen zu den Künstler*innen, die an dem Abend auftreten.

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