Pakistan: In der Dauermisere

Die Armut in Pakistan hat erschreckende Ausmaße angenommen. Das Land ist auf internationale Finanzhilfe angewiesen und kommt auch politisch nicht zur Ruhe.

Wimmelbild mit Kutsche: Geschäftiges Treiben rund um den Saddar Bazaar in Karachi.(Foto: Gilbert Kolonko)

Am verseuchten Fluss Lyari in der 20 Millionen Einwohner zählenden Metropole Karachi am Arabischen Meer hausen unter jeder Brücke Dutzende Menschen in zerlumpter Kleidung. Auch an den Zufahrtsstraßen zum Zentrum liegen Obdachlose. Dem Augenschein nach befinden sie sich gesundheitlich in unterschiedlichen Stadien des Verfalls – der steife Körper eines offensichtlich toten Alten mittendrin. Einem UN-Bericht zufolge gab es 2018 in Pakistan 7,6 Millionen Drogenabhängige. Die Zahl der Süchtigen steige jährlich um 40.000, wie wissenschaftlichen Studien zu entnehmen ist. Das macht Pakistan zu einem der am stärksten von Drogensucht betroffennen Länder der Welt. Am Saddar Bazaar, dem lokalen Geschäftszentrum, umringen Bettler die Tische der Cafés. Die meisten der einfachen Hotels müssen seit Tagen den Betrieb ohne Wasser aufrechterhalten – die teuren Hotels bezahlen die Wassermafia. Die Megastadt steckt bereits im Winter in einer hausgemachten Wasserkrise, dabei kommt die üblicherweise erst ab März, in den Monaten vor dem Monsun. Die Verantwortlichen begründen die Versorgungsprobleme mit Reparaturen an der Hauptwasserleitung.

Doch auch als diese repariert ist, geht die Wassermisere weiter, wie ein Besuch in den Stadtvierteln Kala Pul und Chanesar Goth bestätigt. Sie liegen direkt neben dem Cantonment (englischer Begriff für ein großes Militärlager; Anm. d. Red.) genannten Bezirk, in dem vorwiegend Armeeangehörige leben: Großzügig werden die Straßen mit Wasser gesprenkelt. In Kala Pul, wo die untere Mittelschicht lebt, sind die engen Gassen staubig. Wasser gibt es vorwiegend gegen Bargeld; die Wassermafia fördert es aus illegalen Brunnen und verkauft es kanisterweise. Die Frauen, die vor den Häusern das Geschirr waschen, tun dies mit derselben Sorgfalt wie die Angestellten der Restaurants: Jeder Tropfen ist kostbar.

Zwar gibt es auch hier staatliche Wasserleitungen, „doch aus denen kommt derzeit nur ein, zwei Stunden pro Tag Wasser – im Sommer nur ein paar Stunden pro Woche“, erzählt der 38-jährige Hassan, der als Fahrer seine vierköpfige Familie zu ernähren versucht. „Da wir alle Geld verdienen müssen, haben wir eine Whatsapp-Gruppe mit den Nachbarn gebildet. Wenn mal Wasser aus der Leitung kommt, informieren diejenigen, die zu Hause sind, die anderen.“ In Sachen Strom sieht es nicht besser aus: Je nach Gegend fällt er bis zu zwölf Stunden täglich aus.

Wasser gibt es gegen Bargeld: Wasserladen in Kala Pur, Karachi. (Foto: Gilbert Kolonko)

Pakistan ist auf Hilfe aus dem Ausland angewiesen. Kein anderes Land musste so oft vom „Internationalen Währungsfonds“ (IWF) vorm Staatsbankrott bewahrt werden; der IWF verlangt für seine milliardenschweren Kredite vom Staat die Streichung von Subventionen. Im November 2023 hat die pakistanische Regierung deshalb den Gaspreis um 520 Prozent erhöht, im Februar 2024 nochmals um 319 Prozent. Der Strompreis hat sich seit 2023 verdoppelt. Der Bildungsbereich wird mehr und mehr privatisiert, dabei besuchen schon jetzt 26 Millionen Kinder keine Schule. Zudem hat rund die Hälfte der Menschen nicht einmal Zugang zu elementarer Krankenversorgung, und denjenigen, die ihn haben, fehlt es meistens an Geld für die Behandlung.

Dass die Reichen besteuert werden, verlangt der IWF nicht: Obwohl auf die Landwirtschaft 25 Prozent des Bruttosozialprodukts entfallen, beträgt ihr Anteil an den Steuereinnahmen nicht einmal ein Prozent – 42 Prozent der Parlamentsabgeordneten sind Großgrundbesitzer. Bis Juli 2025 muss das Land 30 Milliarden US-Dollar an Zinsen und Tilgungsraten zurückzahlen. Schon jetzt ist klar, dass dies nur mit Hilfe weiterer Kredite des IWF gelingen kann.

Politische Strohmänner

Doch es gibt auch Positives. „Noch vor zehn Jahren wurde ich in Karachi im Jahr im Schnitt fünf Mal überfallen. Dazu gab es jedes Jahr mehr als 3.000 Auftragsmorde der verschiedenen politischen Parteien, die bis zu 25.000 Mann unter Waffen gehalten hatten. Jetzt haben wir nur noch die ‚übliche‘ Straßenkriminalität“, sagt der 50-jährige Buchhalter Ali. „Außerdem glauben selbst die einfachen Menschen nicht mehr die Lügen der Politik und unserer Generäle, dass Indien hinter allen Problemen steckt. Die meisten Menschen haben endlich verstanden, dass unsere Armee das Land zugrunde gerichtet hat und die politischen Parteien nur als Strohmänner für das Ausland dienen.“

Die pakistanische Armee verfügt über eine Million Soldaten und ist auch das größte Wirtschaftsunternehmen und der größte Grundbesitzer. Grundstücke in den Cantonment-Bezirken im ganzen Land werden von Armee und Geheimdienst an Geschäftsleute verscherbelt. Seit der Gründung Pakistans 1947 bestimmt das Militär die Geschicke der Nation. Mehrere Male hat es die zivile Regierung gestürzt und die Macht übernommen. In den Jahren 1993, 1999 und 2017 stürzte es jeweils den mehrmaligen Premierminister Nawaz Sharif, 2022 dann Imran Khan, der das im Nachhinein bestätigte und seinen anfänglichen Vorwurf widerrief, dass die USA dahinter gesteckt hätten.

Auch auf den Straßen finden Alis Aussagen immer wieder Bestätigung. Selbst ein Polizist spricht an einem Teestand unverblümt: „Unsere Politiker sind korrupt, aber noch schlimmer sind unsere Generäle.“ Sein Kollege fügt aufgebracht hinzu: „Und der Einzige, der nicht korrupt ist, sitzt im Gefängnis: Imran Khan.“ Doch das könnte sich bald durch Druck aus dem Ausland ändern. Richard Grenell, der Gesandte von US-Präsident Donald Trump für Sondermissionen, sprach sich für die sofortige Freilassung Khans aus und verglich diesen mit Trump, denn wie dieser sei er ein „Outsider“ im Kampf gegen das Establishment: „Er war kein Politiker und er sprach in einer sehr vernünftigen Sprache.“ Khan war einst ein erfolgreicher Cricketspieler.

Hilfe für Obdachlose

Es gibt viele Bemühungen, den Armen zu helfen. Jeden Morgen geben die meisten Restaurants kostenlos in Öl gebratene Paratha-Fladenbrote und Tee an Obdachlose aus, die in langen Schlangen anstehen. Auch an den Wasserbehältern, die auf den Tischen der Straßenrestaurants stehen, darf sich jeder bedienen. Im Straßenverkehr kämpfen derweil Motorräder, Autos, Laster und Eselskarren rücksichtslos gegeneinander an. Am Sonntagmorgen nehmen sich Jugendliche die Straßen, um Cricket zu spielen.

Unter jeder seiner Brücken leben Obdachlose: der verschmutzte Fluss Lyari. (Foto: Gilbert Kolonko)

In Karachi leben mittlerweile Millionen Menschen aus Belutschistan an der Grenze zum Iran und dem nordwestlichen Khyber Pakhtunkhwa. In beiden Provinzen kommt es ständig zu Blutfehden und verschiedene Gruppen verüben Anschläge. Viele Belutschen glauben, dass der pakistanische Staat die Bodenschätze in ihrer Provinz ausplündert, ohne die Gewinne mit ihnen zu teilen. Das stimmt wahrscheinlich sogar. Pakistan erhält dabei Hilfe von China, das im Rahmen seines Projekts „One Belt One Road“, auch bekannt als „Neue Seidenstraße“, in der Provinz investiert.

Die Stammesführer in Belutschistan, auch sie oft Großgrundbesitzer, sind ebenfalls ein Problem. „Die wollen nicht, dass ihre Stammesmitglieder Bildung bekommen, denn dann könnten sie die ganze Stammesstruktur hinterfragen“, sagt der 25-jährige Irfan in gutem Englisch und sieht die Dinge ähnlich wie Dutzende andere junger Belutschen in Karachi. Auch ein älterer Paschtune aus Peshawar macht stellvertretend für viele paschtunische Händler in der Stadt klar, dass sich ihre Einstellung in den vergangenen Jahren verändert habe: „Ich bin vom Stamm der Afridis. Vor dem 11. September 2001 hatte mein Stammesführer nur ein paar Jeeps und Laster. Ein paar Jahre später 150. Der Krieg hat ihn noch reicher gemacht und uns zu Geflüchteten.“

Es gibt in Karachi derzeit wenige Spannungen zwischen den beiden großen muslimischen Religionsgruppen – den Sunniten, zu denen auch die Afridis zählen, und den Schiiten. Streitereien waren augenscheinlich bloß um den besten Platz für den Straßenverkaufsstand zu beobachten. Kein Gesprächspartner vermisst die bewaffneten Banden der politischen Parteien, die behaupteten, die Belutschen, Paschtunen oder Muhajir – Muslime, die 1947 aus Indien geflüchtet sind, und ihre Nachkommen – vor den jeweils anderen zu beschützen.

Irgendwie überleben

Auch 1.200 Kilometer südlich, in Lahore, dem ehemaligen Kulturzentrum des Landes und der Hauptstadt der Provinz Punjab, versuchen die meisten, nur irgendwie zu überleben. Seit 1998 hat sich die Einwohnerzahl auf nun 14,3 Millionen beinahe verdreifacht. Der Stadtfluss Ravi ist einer Studie zufolge der dreckigste der Erde. Die Luft steht dem im Winter in nichts nach. Jeden Abend bricht der Verkehr an etlichen Knotenpunkten zusammen. Neben herumwandernden Bettlern sitzen schätzungsweise zehnmal so viele Menschen am Straßenrand in den Abgasen und preisen eigentlich Unverkäufliches an – wie verrottetes Fleisch als Futter für die in den Städten Pakistans zahlreichen Bussarde. Andere fangen Vögel und lassen sie gegen ein kleines Trinkgeld der Passanten wieder frei.

Punjab ist die Hochburg der Familie Sharif, die neben der Familie Bhutto aus dem Süden des Landes seit Jahrzehnten die Politik und Wirtschaft Pakistans bestimmt. Auch in Lahore wird kein Blatt mehr vor dem Mund genommen. Nicht alle sehen Imran Khan als Hoffnungsträger, aber so gut wie jeder ist der Meinung, dass die Ergebnisse der Parlamentswahl im Februar 2024, von der Khans islamisch-populistische Partei „PTI“ ohnehin schon ausgeschlossen war, gefälscht waren. Über ihre als parteilos antretenden Kandidaten gewann die PTI trotzdem die meisten Direktmandate.

Das sehen auch viele unabhängige internationale Beobachter so. Der Regierung und der Armee glauben die Menschen nichts mehr. „Andauernd sperrt die Regierung willkürlich das Internet, und dann leugnen sie es auch noch“, sagt der 28-jährige IT-Ingenieur Altaf lachend und schüttelt den Kopf. „Die halten uns für so blöd, dass wir nicht merken, dass das Internet nicht funktioniert. Dieses Land hat keine Zukunft.“

Unterstützt Imran Khan: ein paschtunischer Teeverkäufer in Lahore. (Foto: Gilbert Kolonko)

Einer Untersuchung auf der Website „Top 10 VPN“ zufolge verlor Pakistans IT-Wirtschaft 2024 1,6 Milliarden US-Dollar durch Internetsperrungen, mehr Geld als jedes andere Land. Die politischen Verantwortlichen leugnen jedoch vehement, dass es Sperrungen überhaupt gibt. „Alles, was die können, ist Zuckerfabriken führen“, fasste ein junger Webdesigner in der Raucherecke eines Zugs auf der Linie des „Karakoram-Express“ die Haltung der Jugend zur politischen Führung Pakistans zusammen: sich mit Spott ins Unvermeidliche fügen.

Der Karakoram-Express dokumentiert selbst die zweifelhaften Fähigkeiten der politischen Führung: Noch 2002 die Vorzeigezuglinie des Landes, öffnen sich nun Türen und Fenster während der Fahrt selbständig. Die Zugluft überzieht die Passagiere mit einer Sandschicht. Bereits im Jahr 2005 zog die Weltbank ein bitteres Fazit: „Pakistan verfährt nach dem Prinzip: bauen, vernachlässigen, wiederaufbauen. Dabei ignorieren die Verantwortlichen alle wissenschaftlichen Fakten und strapazieren die Infrastruktur des Landes, bis sie zusammenbricht.“ Daran hat sich nichts geändert.

Die Frauen haben es besonders schwer: Nur rund 24 Prozent von ihnen nahmen 2023 am Berufsleben teil, bei den Männern waren es über 81 Prozent. Gleichberechtigung bleibt ein politisches Lippenbekenntnis. Eigentlich sollten bei der Parlamentswahl nur die Ergebnisse von Wahlbezirken akzeptiert werden, in denen Frauen mindestens zehn Prozent der Stimmen abgegeben haben. Doch im Distrikt Buner gab nicht eine Frau ihre Stimme ab, trotzdem wurde das Ergebnis anerkannt. Im Dorf Dhurnal verbieten die Männer ihren Frauen seit 50 Jahren das Wählen.

In der Zwickmühle

Das geringe Durchschnittsalter der Bevölkerung, das derzeit in Indien Hoffnung macht, gibt in Pakistan nur bedingt Anlass zu Optimismus – 20,4 Jahre beträgt das Medianalter dort. „In Indien hat die überwiegende Mehrheit der jungen Menschen Zugang zu Bildung und kann mit den neuen Technologien Geld verdienen und sogar Unternehmen gründen. Doch in Pakistan können aus Mangel an Bildung nur wenige von den neuen Chancen profitieren“, sagt der 52-jährige Unternehmensberater Sharjeel. Er weist dann auf die Zwickmühle hin, in der das Land steckt: „Ja, die Armee ist unser Hauptproblem. Aber sie hat mit Gewalt die Gewalt in Karachi beendet.“ Mit dem Taliban-Regime in Afghanistan als Nachbar und der Zunahme des Terrorismus im Land könne Pakistan derzeit nicht von der Vormachtstellung der Armee abrücken. „Wir haben Atomwaffen, nicht auszudenken, wenn die in die Hände von Islamisten fallen.“

Im Jahr 2024 wurden in Pakistan bei 444 Terroranschlägen 927 Zivilisten und 685 Sicherheitskräfte getötet. 94 Prozent der Anschläge fanden in Belutschistan und Khyber Pakhtunkhwa statt. Die pakistanische Armee wirft der afghanischen Taliban-Regierung vor, den pakistanischen Taliban sowie Separatisten aus Belutschistan Unterschlupf zu gewähren, und hat mehrfach Luftangriffe auf vermeintliche Terrorcamps in Afghanistan ausgeführt – die Taliban haben darauf mit dem Beschuss pakistanischer Stellungen reagiert. Das eigentlich Groteske: Es ist allgemein bekannt, dass es die pakistanische Armee und deren Geheimdienste waren, die die Taliban auch nach dem Eingreifen der Nato-Truppen in Afghanistan unterstützt und beherbergt haben. Die pakistanischen Generäle glaubten wohl, dass sie die Taliban später gut kontrollieren könnten.

1965 sagte der damalige Außenminister und spätere Premierminister Zulfikar Ali Bhutto, dass die seinerzeit 50 Millionen Einwohner Pakistans auch Gras essen würden, bis das Land die Atombombe habe. Die Militärführung erwartet von den mittlerweile mehr als 240 Millionen Einwohnern weiterhin grenzenlose Opferbereitschaft, bereichert sich dabei und hemmt den Fortschritt. Der Niedergang des Lands wird weitergehen, sollte sich nichts Grundlegendes ändern.

Der Reiseschriftsteller und Journalist Gilbert Kolonko reist seit vielen Jahren hauptsächlich durch Indien, Nepal, Pakistan und Bangladesch. 

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