Rechte Attentäter
: „Der Terror wird pathologisiert“


Nach den rassistisch motivierten Morden von Hanau wurde viel über den Geisteszustand des Täters spekuliert. Die Sozialpsychologin Pia Lamberty hält klinische Diagnosen auf der Grundlage von Tätermanifesten für bedenklich.

Bei den Diskussionen um die psychische Verfassung der Täter gerate der menschenfeindliche Inhalt ihrer Taten häufig in den Hintergrund, meint die Sozialpsychologin Pia Lamberty. (Foto: © Pia Lamberty)

woxx: Nach dem Anschlag von Hanau, bei dem der Attentäter zehn Menschen getötet hat, wurde vor allem aus den Reihen der „Alternative für Deutschland“ (AfD) wiederholt auf eine angeblich offensichtliche psychische Störung des Täters hingewiesen, weshalb der Verweis auf eine rechtsextreme Motivation abwegig sei. Was ist von dieser Argumentation zu halten?


Pia Lamberty: Ganz allgemein schließt sich das ja nicht aus. Man kann durchaus rechtsradikal und zugleich psychisch krank sein. Man muss allerdings mit einer Diagnose des Täters sehr vorsichtig sein. Was uns zur Verfügung steht, sind eigentlich nur von ihm selbst verfasste Texte. Das sind politische Manifeste, die ein Ziel verfolgen, die auch für eine Öffentlichkeit geschrieben worden sind. Wenn man ausschließlich solche selbst verfassten Dokumente als Grundlage für eine Diagnose nimmt, finde ich das sehr problematisch. Wir erfahren nur das, was der Täter möchte und wissen nicht, welche Intention er dabei hat.

Sie haben sich in Ihrer Ablehnung solcher Diagnosen auch auf die sogenannte Goldwater-Regel bezogen.


Diese Regel ist 1973 von der Amerikanischen Psychiatrischen Vereinigung eingeführt worden und besagt, dass es unethisch sei, Ferndiagnosen durchzuführen. Sie wurde zuletzt in den Diskussionen um die psychische Gesundheit von Donald Trump noch einmal aktualisiert, weil sich sehr viele Kolleginnen und Kollegen zur mentalen Verfassung des US-Präsidenten geäußert hatten. Zu diesem Anlass wurde noch einmal festgehalten, dass es nicht akzeptabel ist, aus der Ferne zu diagnostizieren. Für eine Diagnose sind mehrere Gespräche, im besten Fall auch psychologische Tests nötig. Nur so kann man valide Aussagen machen.

Trotzdem haben manche Ihrer Kolleginnen und Kollegen nach Hanau solche Ferndiagnosen gemacht.


Zum einen ist diese Regel nicht unumstritten, wie sich am Beispiel der Diskussion um Donald Trump gezeigt hat. Hier fühlten sich Psychologen dazu verpflichtet, sich zu seiner Fähigkeit, sein Amt auszuüben, zu äußern. Zum anderen gibt es gerade beim Terrorismus die Tendenz, diesen zu pathologisieren.

Was bedeutet das konkret?


Jemand wird als krank dargestellt. Das rührt auch daher, dass viele sich gar nicht vorstellen können, dass Menschen so etwas wie in Hanau tun, ohne psychisch krank zu sein. Auch in der Vergangenheit gab es nach terroristischen Anschlägen beispielsweise in Frankreich und Deutschland solche Debatten. Ich finde diese Diskussion schwierig, weil oft der menschenfeindliche Inhalt der Taten in den Hintergrund tritt. Die Tat wird damit auch teilweise entschuldigt und aus ihrem gesellschaftlichen Zusammenhang gerissen. Wenn man näher hinschaut, wird jedoch deutlich, dass der Anteil psychischer Erkrankungen unter Attentätern nicht unbedingt höher ist als in der Gesamtgesellschaft. Psychische Erkrankungen machen einen zudem natürlich nicht automatisch gewalttätig und zum Terroristen.

Dennoch wird derzeit auf Studien hingewiesen, wonach ein Drittel aller Attentäter eine psychische Störung aufweise.


Es gibt aber auch entsprechende Studien, wonach binnen eines Jahres 25 Prozent der Bevölkerung eine psychische Erkrankung hatten. Das Drittel, von dem Sie reden, ist also nur geringfügig höher als das Niveau der Gesamtgesellschaft. Man muss sich bewusst machen, dass Menschen öfter psychisch krank sind als wir das wahrnehmen.

Warum also sollte man das nicht auch mit Blick auf die Täter ansprechen?


Die Debatte wird dann schnell auf die psychologischen Voraussetzungen einer Tat und weg von deren Inhalten gelenkt. Doch selbst wenn ein Täter etwa eine narzisstische Persönlichkeitsstörung hatte, spricht ihn das ja nicht von der Verantwortung für sein Handeln frei und auch nicht davon, dass er aus rassistischen Gründen gehandelt hat. Ganz viele potenziell Betroffene von Rassismus und Antisemitismus haben demgegenüber auf ihre Lebenswelt hingewiesen und gesagt: „Wir erfahren so viel Rassismus, darüber müssen wir sprechen“, doch dem wurde kaum Gehör geschenkt. Es findet in der Debatte also schon eine Verschiebung statt.

(Wikimedia/CC0 1.0)

Was macht es denn mit den Hinterbliebenen der Opfer, wenn sich die Öffentlichkeit so sehr auf den Täter konzentriert?


Ich kann das für die spezifisch Betroffenen natürlich nicht sagen. Aber es entsteht sicher auch ein Gefühl, allein gelassen zu werden, wenn die Gesellschaft sich nur damit beschäftigt, ob der Täter psychisch krank war und sich nicht für die rechtsextrem motivierten Angriffe und Morde interessiert, mit denen die Betroffenen schon seit Jahren und Jahrzehnten konfrontiert sind und vor denen sie warnen. Das war ja nach den NSU-Morden nicht anders [die neonazistische terroristische Organisation „Nationalsozialistischer Untergrund“ (NSU) ermordete zwischen 2000 und 2007 in Deutschland zehn Menschen, neun von ihnen hatten einen migrantischen Hintergrund; Anm. d. Red.]; auch damals gab es kaum Unterstützung für die Hinterbliebenen.

„Wir haben in verschiedenen Studien gezeigt, dass Verschwörungserzählungen ein Bedürfnis nach Einzigartigkeit befriedigen.“

Welches sind Ihrer Meinung nach die entscheidenden Aspekte der Tat?


Rechtsextreme Terroranschläge laufen derzeit tendenziell nach einem ähnlichen Drehbuch ab: Die Täter bedienen ähnliche Narrative, wie etwa das vom „Bevölkerungsaustausch“ [der auf den französischen Schriftsteller Renaud Camus zurückgehenden Verschwörungserzählung zufolge steht hinter der Migration ein sinistrer Plan; Anm. d. Red.], sie machen Videos von sich, laden eigene Manifeste hoch. Das funktioniert alles nach demselben System. Und wenn man sich parallel dazu aktuelle Meinungsumfragen anschaut, wonach 20 Prozent der Bevölkerung an so etwas wie einen geplanten Bevölkerungsaustausch glauben, wird die gesellschaftliche Basis für eine Ideologie deutlich, auf die sich ja etwa auch der Attentäter von Halle maßgeblich bezogen hat [im Oktober 2019 versuchte ein Attentäter im sachsen-anhaltinischen Halle in eine Synagoge einzudringen, um einen Massenmord zu verüben; er scheiterte an der Eingangstür, tötete aber dennoch vor seiner Festnahme zwei Menschen; Anm. d. Red.]. Auch wenn diese Idee des Bevölkerungsaustauschs in Hanau nicht so explizit zum Ausdruck kam, ist die Idee, dass der Weiße jetzt überrannt wird und das Böse in Menschen, die nicht weiß sind, steckt, auch dort präsent. Ähnlich in Christchurch [bei Attentaten auf zwei neuseeländische Moscheen tötete ein rechtsradikaler Terrorist im März 2019 insgesamt 51 Menschen; Anm. d. Red.]. Das sind Vorstellungen, die präsent sind, und in Deutschland werden sie auch von der AfD maßgeblich mitgeprägt.

Wie ist der Frauenhass im Weltbild all dieser Täter zu bewerten?


Sexismus war immer ein Bestandteil eines rechtsextremen Weltbildes, das ist nichts Neues. Es kommen vielleicht neue Formen hinzu. Beispielsweise mit der Incel-Bewegung [„Incel“; Kürzel für „Involuntary celibacy“ und Selbstbezeichnung einer Internet-Subkultur von überwiegend weißen heterosexuellen Männern, die nach Eigenaussage unfreiwillig keinen Geschlechtsverkehr haben; Anm. d. Red.]. Da haben wir es mit Gruppen von Männern zu tun, die sich zurückgesetzt fühlen, weil sie keine Partnerin finden, dann diesen Hass auf Frauen projizieren und sich gegenseitig bestärken und bekräftigen. Mit großer Selbstverständlichkeit beschweren sich Täter wie der von Hanau darüber, dass sie keine Partnerin finden und sehen die Verantwortung dafür bei den Frauen.

Sie forschen auch zu Verschwörungserzählungen. Woraus speist sich deren Überzeugungskraft?


Die Faszination besteht vor allem in dem simplen Weltbild, das damit verbunden ist. Es gibt die bösen Verschwörer einerseits, und es gibt die Guten andererseits, die wissen, worin die Verschwörung besteht und die darüber aufklären. Sie werden aber von der Gesellschaft und den bösen Verschwörern unterdrückt. In diesem Weltbild wird man also automatisch zum Märtyrer. Verschwörungserzählungen immunisieren auch gegen Kritik, weil jeder, der sich kritisch äußert, entweder als „Schlafschaf“ oder als Teil der Verschwörung bezeichnet werden kann. Damit lässt sich letztlich auch Gewalt legitimieren. Zugleich können sich die Betreffenden dadurch auch selbst erhöhen. Wir haben in verschiedenen Studien gezeigt, dass Verschwörungserzählungen ein Bedürfnis nach Einzigartigkeit befriedigen.

Hat dieses Phänomen in den vergangenen Jahren an Bedeutung hinzugewonnen? 


Zumindest hat sich das Bewusstsein der Gesellschaft für Verschwörungserzählungen in den letzten Jahren geändert. Früher wurde das eher belächelt. Doch in den letzten Jahren ist vielen bewusster geworden, welche Gefahr von dieser Ideologie ausgeht. Ob die Verbreitung von Verschwörungserzählungen zugenommen hat, ist schwierig zu sagen. Prinzipiell gab es sie schon immer, seit Menschen in Gemeinschaften zusammenleben. Im Mittelalter gab es während der Pest zahlreiche Verschwörungserzählungen über Juden, die dann in Pogromen endeten. Auch der Nationalsozialismus hat ganz stark über antisemitische Erzählungen funktioniert. Wenn man daher behauptet, das sei etwas ganz Neues, negiert man die gewalttätige Kraft, die diese Erzählungen schon in der Vergangenheit hatten.

Häufig werden ja die sozialen Medien genannt, die für einen Bedeutungszuwachs von Verschwörungserzählungen verantwortlich seien.


Es gibt in der Tat Indizien dafür, dass soziale Medien einen gewissen Einfluss haben. Etwa bei der Internationalisierung von Verschwörungserzählungen. Außerdem sind diese dadurch häufiger präsent. Es gibt Studien, die zeigen, dass bereits die einmalige Konfrontation mit Verschwörungserzählungen schon etwas mit den Menschen macht. Sie werden misstrauischer.

Verschwörungserzählungen beeinflussen also selbst dann, wenn man sie für Unsinn hält?


Genau, unabhängig von der Voreinstellung. Nehmen wir mal den Fall der Impfungen. Ein junges Paar bekommt möglicherweise das erste Kind und will sich über Impfungen informieren. Wenn sie dann Verschwörungserzählungen über Impfungen lesen und über Betrug durch Wissenschaft und die Pharmaindustrie, dann verunsichert das. Selbst wenn man das auf der rationalen Ebene unsinnig findet, kann es Misstrauen säen und hat einen Effekt. Das haben wir in diversen Studien immer wieder zeigen können.

Was ist mit Blick auf Hanau und Halle Ihrer Meinung nach nötig, um all dem entgegenzusteuern?


Ich glaube, es braucht eine Auseinandersetzung mit Rechtsextremismus, Rassismus und Antisemitismus, die über bloße Lippenbekenntnisse hinausgeht. Außerdem wird immer nur anlassbezogen über diese Themen diskutiert, immer muss erst etwas passieren wie in Halle oder Hanau. Strukturelle Analysen hingegen oder eine gesamtgesellschaftliche Einordnung bleiben meistens aus. Wenn es zu einer antisemitischen Attacke kommt, wird darüber berichtet. Die Tat steht aber in einem Kontext und entsteht in einer Gesellschaft, wo Antisemitismus für Jüdinnen und Juden alltagsprägend ist. Für Rassismus gilt das auch. Wenn wir uns die ersten Medienberichte nach Hanau anschauen, dann wurden da Thesen über Klankriminalität und ähnliches aufgestellt, bevor irgendwelche Details bekannt waren. Es kann aber nicht sein, dass nach einer Tat wie in Hanau Politiker über Klankriminalität sprechen. Ich würde also sagen, dass die Medien durchaus auch eine Rolle spielen. Die müssen sich selbstkritisch hinterfragen, wie sie künftig mit diesen Themen umgehen.

Pia Lamberty ist Sozialpsychologin und arbeitet am Lehrstuhl für Sozial- und Rechtspsychologie der Universität Mainz. Sie forscht zum Glauben an Verschwörungen und insbesondere zu politischen Verschwörungserzählungen. Gemeinsam mit der Netzaktivistin Katharina Nocun hat sie das Buch „Fake Facts – Wie Verschwörungstheorien unser Denken bestimmen“ geschrieben, das kommenden Mai im Quadriga Verlag erscheint.


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