Statt einem besseren Einblick in das „System Putin“ geben die Panama Papers vor allem wilden Spekulationen Raum.
Die Schritte und Aktionen des Gegners vorhersehen. Ihnen zuvorkommen. Das zeichnet einen guten Strategen aus. Ebenso bedarf es eines ausreichenden Maßes an Dreistigkeit und des Vertrauens in die eigene Stärke, um in der unvermeidlichen Konfrontation erfolgreich zu bestehen. Als ehemaliger KGB-Mann, der es im Chaos postsowjetischer Machtpolitik nach oben geschafft hat, ist Wladimir Putin wohl fraglos eine Person, die über solche Fähigkeiten verfügt.
Als ihn eine Woche vor der Veröffentlichung der „Panama Papers“ eine detaillierte Anfrage der „Süddeutschen Zeitung“ und des Internationalen Konsortiums für Investigative Journalisten (ICIJ) in dieser Sache erreichte, reagierte er schnell. Denn obwohl es natürlich die einzig professionelle journalistische Vorgehensweise war, ihm als mutmaßlich Betroffenen vorab eine Stellungnahme zu den Vorwürfen zu ermöglichen, hatte ihm dies Zeit verschafft. Er konnte eine Strategie vorbereiten, um die Anschuldigungen, dort wo sie wehtun, abzuwehren – also vor allem im eigenen Land.
Auf die Anfrage des Recherchekonsortiums antwortete Putin nicht. Stattdessen trat kurze Zeit nach Eingang der Fragen sein Sprecher vor die russischen Medien. In „Verhörmanier“ sei man adressiert worden, empörte sich Dmitrij Peskow, und kündigte die Veröffentlichung „erlogener Fakten“ an, die in erster Linie darauf abzielten, dem russischen Staatspräsidenten und dessen Familie zu schaden. Verantwortlich hierfür sei die grassierende „Putinophobie“ im Ausland, so Peskow, der laut der britischen Tageszeitung „Independent“ auch unterstellte, dass das ICIJ mit der US-Regierung verbandelt ist. Diese Ansage an die russischen Medien war deutlich. Denn nicht erst seit dem im Mai vergangenen Jahres in Kraft getretenen Gesetz über „unerwünschte“ ausländische Organisationen ist klar, dass wer sich mit „zerstörerischen“ Stiftungen, NGOs oder Firmen aus dem Ausland zusammentut, eine Bedrohung für die „Werte des russischen Staates“ darstellt und mit hohen Geld- und Gefängnisstrafen rechnen muss. Als wenige Tage später die „Panama Papers“ veröffentlicht wurden, blieben diese daher in den meisten russischen Medien eine Randnotiz. Nur wenige Reporter und Presseorgane, wie etwa die liberale Zeitung „Novaya Gazeta“, hatten sich nicht abschrecken lassen.
Wie von seinem Pressesprecher geargwöhnt, sah sich Putin in der ersten Aufregung um die Enthüllungen dann tatsächlich als einer der bekanntesten Protagonisten in der Steuerflucht-Geschichte präsentiert. Rund zwei Milliarden US-Dollar sollen von russischen Staatsbanken in diverse Offshore-Firmen und ein auf den britischen Jungfrauen-Inseln ansässiges Unternehmen geflossen sein. Von dort floss wohl zumindest ein Teil des Geldes wieder zurück in die Russische Föderation. So wurden laut Recherchen des Konsortiums etwa elf Millionen Dollar in ein Skiressort außerhalb von Putins Heimatstadt St. Petersburg investiert.
Eine direkte Beteiligung an den Geldgeschäften konnte dem russischen Staatspräsidenten allerdings nicht nachgewiesen werden. Im Zentrum der Verstrickungen stehen vielmehr Personen aus Putins Freundeskreis, insbesondere der Musiker Sergej Roldugin, der für das Schleusen des Zwei-Milliarden-Dollar-Betrages verantwortlich sein soll. Auch die Brüder Arkadij und Boris Rotenberg, die wie Putin aus St. Petersburg stammen, werden als Nutznießer der Offshore-Connection genannt. In Form von Krediten, die nie zurückbezahlt wurden, sollen auch sie erhebliche Summen ins Ausland transferiert haben. Die Berichte legten zudem nahe, dass sich Putin zumindest indirekt als Nutznießer entpuppt, etwa weil seine Tochter Katerina in besagtem Skiressort ihre Hochzeit gefeiert habe.
Da es für eine Verstrickung seiner Person in die Sache jedoch keinerlei feste Beweise gibt, holte Putin kurz nach Veröffentlichung der Geschichten zu einer Breitseite aus: „Sie haben das ganze Material durchsucht, aber nichts über mich gefunden. Aber sie haben ja ihren Job zu tun. Also haben sie Informationen produziert – und Geschäftspartner und Freunde gefunden“, sagte Putin auf einem Medienforum in St. Petersburg. Sein Freund, Roldugin, auf den er sehr stolz sei, habe nichts falsch gemacht. Im Gegenteil: Er habe das meiste Geld in Musikinstrumente investiert und dem russischen Kulturgut zugeführt. Die Medienberichte seien ein vom Westen ausgehender „Versuch, die innenpolitische Situation“ in der Russischen Föderation zu destabilisieren.
Laut Clifford Gaddy vom US-Thinktank Brookings hat der russische Staatspräsident die Panama Papers selbst platziert.
Putin bezog sich bei dieser Behauptung auch auf die Enthüllungsplattform „WikiLeaks“. Deren Gründer Julian Assange hatte getwittert, die US-amerikanische Medienorganisation OCCRP, die zu dem Investigationskonsortium gehört und sich der Berichterstattung über Organisiertes Verbrechen und Korruption widmet, werde von der dem US-Außenministerium unterstehenden Entwicklungshilfeorganisation „USAID“ und dem Milliardär George Soros finanziert. Die Attacke richte sich gegen Russland, so der Tweet. Wer diese Kampagne ins Werk gesetzt habe, sei daher klar, folgerte Putin: „WikiLeaks hat uns gezeigt, dass offizielle Personen und Organe der Vereinigten Staaten hinter all dem stecken.“
Die französische Tageszeitung „Le Monde“ hat recherchiert, dass OCCRP tatsächlich unter anderem von USAID und dem von Soros finanzierten Thinktank „Open Society Foundation“ Gelder erhält – ebenso wie beispielsweise von der US-amerikanischen wie der Schweizer Regierung. Doch als Nachweis, die Panama Papers seien gegen Russland gerichtet und „fabriziert“, reicht das nicht, zumal sich auch im Westen zahlreiche Geschädigte der Veröffentlichungen finden.
Unterdessen hat Clifford Gaddy vom US-amerikanischen Thinktank „Brookings“ die gegenteilige These präsentiert: Putin selbst habe die „Panama Papers“ platziert. Der russische Staatspräsident erweise sich als Nutznießer des Skandals, denn er werde in keiner Weise beweisbar belastet, die journalistischen Vorwürfe gegen ihn seien eine „non-story“, also nichts als heiße Luft. Dass er ein neofeudales System bzw. eine „Kleptokratie“ errichtet habe, sei in der Vergangenheit bereits vielfach und wesentlich überzeugender belegt worden.
Demgegenüber beurteilt Gaddy den durch die Veröffentlichung verursachten – nicht zuletzt politischen – Schaden im Westen als viel größer. Putin könne nun achselzuckend darauf verweisen, dass Korruption schließlich überall existiert, so Gaddy, bevor er zum Kern seiner Mutmaßungen vorstößt: „Die Abwesenheit inkriminierender Information über die Amerikaner ist ein wichtiger Hinweis über den wahren Zweck des Lecks.“ Die veröffentlichten „Panama Papers“ seien eine Nachricht an all jene „amerikanischen und anderen westlichen Politiker, die erwähnt werden könnten, aber nicht erwähnt worden sind.“ Die darin verborgene Drohung sei: „Auch über eure finanziellen Verfehlungen haben wir Material…. Wenn ihr mit uns kooperiert, halten wir es zurück.“ Gaddy schlussfolgert, dass der russische Staatspräsident in erpresserischer Absicht hinter dem Klau der Unterlagen und deren wohldosierten Veröffentlichung steckt. Denn nur was noch nicht veröffentlicht sei, könne zur Erpressung dienen.
Die „Panama Papers“ lassen also viel Raum für abenteuerliche, wirre oder gar irre Spekulationen um Putin und seine Widersacher. Die an den Enthüllungen maßgeblich beteiligte „Süddeutsche Zeitung“ versucht inzwischen, diesem Phänomen zu begegnen. „Im Netz und auch sonst gibt es ganz viel Geraune“, schrieb am vergangenen Mittwoch Investigativ-Journalist Hans Leyendecker, „Konspirologen und Bescheidwisser wittern und twittern die große Geschichte hinter der Geschichte.“ Bei großen Skandalen sei das nicht ungewöhnlich, denn wer „empfänglich für Theorien über die große Verschwörung“ sei, meine bei solchen Anlässen, „plötzlich alles zu verstehen“ – und blicke doch überhaupt nicht durch.
Solchen Ausführungen zum Trotz, sind die an der Recherche beteiligten Journalisten an dem „Geraune“ nicht ganz unbeteiligt. Wie es scheint, konnten sie der Versuchung nicht wiederstehen, den Nachrichtenwert der eigenen Recherche durch deren Fokussierung auf den russischen Staatspräsidenten in die Höhe zu treiben. Doch zu mehr als Mutmaßungen, nahegelegten Verbindungen und Anspielungen hat es offenbar nicht gereicht. Putin als unsichtbarer Strippenzieher – das kommt Machtvorstellungen unangenehm nahe, wie sie sich hinter den projektiven Fantasien von Verschwörungstheoretikern verbergen, die anderen eine Allmacht zuweisen, über die sie selbst in ihrer Ohnmacht gerne verfügen würden.
Abgesehen davon zeigt sich das Investigativ-Netzwerk jedoch hinsichtlich der teils gescholtenen bloß selektiven Publikation der Unterlagen als professionell. Denn es gehört zur journalistischen Verantwortung, sich die Folgen einer Veröffentlichung, beispielweise für unbeteiligte Einzelpersonen, soweit als möglich bewusst zu machen, bevor man schließlich publiziert.
Bei WikiLeaks schert man sich um solche Überlegungen nicht: dort lässt man derzeit die eigene Fanbasis twittern, ob die Organisation die „Panama Papers“ in ihrer Gänze ins Netz stellen soll. Der russische Staatspräsident Putin hat laut seinem Account noch nicht mitgestimmt.