Russische Opposition: Generäle ohne Armee

Die russische Exilopposition ist zerstritten und weitgehend einflusslos in ihrem Herkunftsland. Einige Skandale bekräftigen das in weiten Teilen der russischen Bevölkerung verbreitete negative Bild oppositioneller Liberaler.

Demonstration russischer Exiloppositioneller am vergangenen Sonntag in Berlin: Im Bildvordergrund sind unter anderem Aleksej Nawalnyjs Witwe Julija Nawalnaja (Mitte) sowie Wladimir Kara-Mursa (Mitte-links) zu sehen. (Foto: EPA-EFE/FILIP SINGER)

Aufrufe zur Vereinigung der notorisch zersplitterten demokratischen russischen Opposition gab es schon zuhauf. So auch bei einer Demonstration am 17. November in Berlin, zu der mit Aleksej Nawalnyjs Witwe Julija Nawalnaja, Ilja Jaschin und Wladimir Kara-Mursa einige ihrer bekanntesten Vertreter aufriefen. Die Genannten wollten damit auch ihren Führungsanspruch in der liberalen Exilopposition unterstreichen.

Doch es kam noch ein weiterer hinzu. Er stammte von dem 83-jährigen Menschenrechtsaktivisten Lew Ponomarjow, der einst eng mit dem sowjetischen Dissidenten und Friedensnobelpreisträger Andrej Sacharow verbunden war. Ponomarjow tritt seit Jahrzehnten unermüdlich für mehr Einigkeit ein, auch aus dem französischen Exil heraus, in dem er mittlerweile lebt. Über eine Million Personen unterzeichneten in den Tagen nach dem russischen Einmarsch in die Ukraine einen von ihm im Internet veröffentlichten Appell gegen den Krieg, der die Aufforderung enthielt, sich mit einer „Antikriegsbewegung“ zusammenzuschließen.

Ponomarjow ist für die Rolle eines Einigers auch durch seinen persönlichen Hintergrund prädestiniert: Obwohl politisch erfahren, hatte er dennoch nie ein Regierungsamt inne, das ihn heutzutage diskreditieren würde. Anders als die meisten Angehörigen der liberalen Opposition reagiert er zudem nicht völlig ablehnend auf Linke. Sein Enkel Aleksej Lipzer steht derzeit wegen Mitgliedschaft in einer extremistischen Vereinigung in Russland vor Gericht, weil er für den Antikorruptionspolitiker Aleksej Nawalnyj als Anwalt tätig war.

Doch ist Ponomarjow ein „General ohne Armee“, wie es in Russland gerne umschrieben wird. In dieser Hinsicht unterscheidet er sich nicht von anderen politischen Exponenten der Opposition in der Emigration, egal wie bekannt sie sein mögen und wie viel Privatvermögen sie in den Kampf für ihren Traum von einem anderen Russland investieren, wie beispielsweise Michail Chodorkowskij, der ehemalige Leiter des Ölkonzerns „Yukos“. In Russland selbst wurde die Infrastruktur der von liberalen Kräften dominierten Opposition praktisch komplett zerschlagen. Die im Ausland lebenden Russinnen und Russen sind über zahlreiche Länder verstreut, weitestgehend politisch unorganisiert und haben keinen Einfluss auf das Geschehen in ihrem Herkunftsland.

Unter solchen Bedingungen ist in der Exil-Opposition von Einigkeit keine Spur; vielmehr haben offen ausgetragene Feindseligkeiten kürzlich einen neuen Höhepunkt erreicht. Mitte September beschuldigte Nawalnyjs „Fonds zur Korruptionsbekämpfung“ (FBK) in einem „Youtube“-Video den in Israel lebenden engen Verbündeten von Michail Chodorkowskij, Leonid Newslin, einen Überfall auf Nawalnyjs langjährigen Wegbegleiter Leonid Wolkow in Auftrag gegeben zu haben. Wolkow war im März vor seiner Wohnung in Litauen überfallen und mit einem Hammer verletzt worden, nur wenige Wochen nach Nawalnyjs Tod in russischer Haft. Der FBK behauptet, Newslin, der alles abstreitet, habe Wolkow aus „dummem sinnlosem Hass“ in einem „politischen Konkurrenzkampf“ schaden wollen.

Ein paar Wochen später bekam der FBK seinen eigenen Skandal. Der politische Blogger und Politikberater Maksim Katz, der bis 2021 in Russland an zahlreichen oppositionellen Wahlkämpfen beteiligt war und mittlerweile im Exil in Israel lebt, präsentierte Rechercheergebnisse, wonach der FBK von Geldzahlungen ins Ausland geflohener russischer Bankiers profitiert habe, denen in Russland schwerer Betrug vorgeworfen wird und die ihre Reputation wiederherzustellen versuchten, indem sie sich mit Hilfe des FBK als Opfer politischer Verfolgung darstellten. Aus dem FBK hieß es darauf, Katz beabsichtige, ihre Organisation zu zerstören.

Nawalnaja, die das politische Erbe ihres Manns weiterführt, sagte Mitte vergangener Woche in einem Interview mit dem Oppositionssender „Doschd“, eine Zusammenarbeit mit Katz schließe sie grundsätzlich aus. Die Kooperation mit den fraglichen Bankiers bezeichnete sie dennoch als Fehler. Derartige Skandale bekräftigen das in weiten Teilen der russischen Bevölkerung verbreitete negative Bild oppositioneller Liberaler, aus deren Reihen viele von der postsowjetischen Vermögensumverteilung profitierten. Chodorkowskij, der Anfang der 1990er-Jahre zum Milliardär aufstieg, ist nur ein extremes Beispiel davon.

Allerdings ist fraglich, ob sich in Russland für die heutigen Skandale der Opposition außer einem kleinen Stammpublikum noch viele ernsthaft interessieren. Der Ökonom Wladislaw Inosemzew, selbst aktiver Teilnehmer an oppositionellen Diskussionen und Konferenzen im Ausland, vergleicht das heutige Exil-Dissidententum mit der Situation russischer Emigranten nach der Revolution Anfang der 1920er-Jahre. Die träumten zwar vom Sturz der Bolschewiki, hatten aber keinerlei Einfluss mehr. Die Exilanten „verlieren die Verbindung zu ihren Landsleuten, werden wegen ihrer Unterstützung der Ukraine zu Verrätern und scheinen unfähig zu sein, auch nur ein ‚Minimalprogramm‘ vorzulegen, das die einfachen Menschen in Russland motivieren würde, von einem Wandel zu träumen“, schrieb Inosemzew kürzlich in einem Beitrag für das Projekt „Russian Media Studies“ beim „Middle East Media Research Institute“ (Memri) in Washington, D.C. „Eine Veränderung in Russland wird nicht von denen kommen, die sich in hübschen Hotelkonferenzräumen in Berlin oder Washington versammeln, sondern von Russen, die wütend über korrupte Beamte, Polizeigewalt oder wirtschaftliche Härten sind.“

Tiefergehende Debatten können in Russland wegen der allgegenwärtigen Repression kaum noch stattfinden. Da könnte Oppositionellen im sicheren Exil immerhin die Aufgabe zufallen, endlich die eigenen Versäumnisse der vergangenen Jahre aufzuarbeiten. Das passiert aber, wenn überhaupt, nur sehr halbherzig und trifft auf heftigen Widerstand in den eigenen Reihen, wie sich beispielsweise zeigte, als der FBK Anfang des Jahres mit einem Dokumentarfilm eine Diskussion über die kriminelle und korrupte Privatisierung der 1990er-Jahre und die Mitverantwortung der damaligen Liberalen für die Verfestigung eines autoritär regierten Staats unter Boris Jelzin auslöste.

In Russland selbst steht statt großer politischer Umbaupläne vielmehr die Hilfe für Einzelne im Vordergrund.

Vereinzelt gibt es konkretere Überlegungen für eine Zukunft nach Wladimir Putin. Eine Gruppe des Menschenrechtszentrums der Organisation „Memorial“ arbeitet an einem Projekt mit dem Titel „Hundert Tage nach Putin“. Sie will einen Plan für einen geordneten Übergang zurück zu Frieden und Rechtsstaatlichkeit bereitstellen, der beispielsweise vorsieht, innerhalb gesetzlicher Fristen freie Wahlen abzuhalten oder eine verfassunggebende Versammlung einzuberufen.

Ambitionierte Überlegungen für die Zeit nach einem Machtwechsel stellt auch eine Gruppe russischer Akademiker unter anderem um den linken Soziologen Grigorij Judin an. Die Beteiligten entwarfen einen Plan für eine neue demokratische russische Verfassung, die autoritäre Herrschaft, Annexionen und die Dominanz der Zentralregierung über die Regionen und Kommunen verhindern soll.

Die Exilanten stehen vor der Schwierigkeit, ihre Ideen vom Ausland aus in Russland verbreiten zu müssen. Russische Online-Exilmedien werden trotz staatlicher Diskreditierung und Blockadeversuche weiterhin in Russland rezipiert, doch das sollte nicht darüber hinwegtäuschen, dass die Kluft zwischen Ausgereisten und im Land verbliebenen Menschen unweigerlich wächst. Zu unterschiedlich sind die Lebensumstände, außerdem lassen sich die im Land Verbliebenen nicht gerne den impliziten Vorwurf der Mitverantwortung am Krieg gefallen, der bei Äußerungen einiger bekannter emigrierter Oppositioneller oft durchscheint.

In Russland steht statt großer politischer Umbaupläne vielmehr die Hilfe für Einzelne im Vordergrund, seien es politische Gefangene, Flüchtlinge oder Kriegsdienstverweigerer. Trotzdem formieren sich ansatzweise neue politische Bewegungen wie beispielsweise die „Studentische Antifaschistische Front“, die in erster Linie versucht, gegen rechte Tendenzen in der Bildung vorzugehen. Zudem bringt sie sich in derzeitige soziale Proteste ein, beispielsweise gegen den Bau einer orthodoxen Kirche auf einem Parkgelände im Osten Moskaus. Zwei ihrer Aktivisten kamen Anfang November unter ungeklärten Umständen ums Leben.

Auf eine Revolution deutet derzeit nichts hin, aber die der russischen Bevölkerung gerne bescheinigte Zufriedenheit mit den politischen Verhältnissen sollte nicht verabsolutiert werden. Politische Ohnmacht unter einer autoritären Führung schließt nicht aus, dass Menschen opponieren, wenn sie Anzeichen von Schwäche im Staatsapparat erkennen.

Wenn der Krieg gegen die Ukraine endet oder sich die wirtschaftliche Lage verschlechtert, könnten sich beispielsweise in Milieus, die von gestiegenen Löhnen in der jetzigen Kriegsökonomie profitiert haben, Frust entladen, sollte die Regierung es nicht schaffen, an sie gerichtete Erwartungen weiter zu erfüllen. Dazu benötigen sie keine Anleitung aus der Exilopposition, sondern einen konkreten Anlass.


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