Sexualisierte Gewalt: „Krieg ist ein Chaoszustand“

Wo Krieg herrscht, erfahren Frauen, Kinder und Männer sexualisierte Gewalt. Cid-Projektleiterin Claire Schadeck sprach mit der woxx darüber, inwiefern Sexismus und Kriegsverbrechen miteinander verbunden sind und wie digitale Medien zu neuen Formen der Viktimisierung führen können.

Eine Klientin bei einer psychosozialen Beratung bei „Medica Gjakova“, einer Partnerorganisation von „medica mondiale“. (Copyright: Majlinda Hoxha)

woxx: Seit 2009 veröffentlicht die Uno jährlich einen Bericht über sexualisierte Gewalt in bewaffneten Konflikten. Wie hat sich die öffentliche Wahrnehmung und der Umgang mit diesem Thema in den letzten 15 Jahren entwickelt?

Claire Schadeck: Es ist nach wie vor ein Thema, das nicht im Vordergrund steht. Wenn wir über bewaffnete Konflikte reden, dann wird die damit zusammenhängende Genderperspektive oft vernachlässigt. Was man aber auch sagen muss, ist, dass die Bekämpfung von sexualisierter Gewalt im Kriegskontext in den letzten Jahren an Bedeutung gewonnen hat, da mehr und mehr Länder eine feministisch ausgerichtete Außenpolitik betreiben. Aber wenn wir in Friedenszeiten nicht gegen geschlechtsspezifische Gewalt vorgehen, dann können wir sie auch nicht in Kriegskontexten bekämpfen. Ich glaube, das Bewusstsein, dass eine Verbindung besteht, fehlt noch. Es reicht nicht zu sagen: Wir wollen nicht mehr, dass Menschen in einem Krieg sexualisierte Gewalt erfahren müssen.

Seit den 1990er-Jahren sind die Rechte von Opfern sexualisierter Gewalt in bewaffneten Konflikten gestärkt worden. Reicht das oder braucht es noch weitere Veränderungen, was die Rechtsgrundlagen angeht?

Wir haben die nötigen rechtlichen Instrumente. Die Istanbul-Konvention zum Beispiel, die Frauen vor Gewalt schützen soll und die vergangenes Jahr von der EU ratifiziert wurde. Es gibt aber auch UN-Resolutionen – die UN-Resolution 1325 zu Frauen, Frieden und Sicherheit, und die UN-Resolution 1820, die aus dem Jahr 2008 stammt. Sie identifiziert sexualisierte Gewalt als Kriegstaktik. In dem Römischen Statut des Internationalen Strafgerichtshofs steht zudem, dass sexualisierte Gewalt ein Verbrechen gegen die Menschlichkeit darstellt und die systematische Vergewaltigung von Frauen im Kriegskontext den Tatbestand eines Genozids erfüllt. Trotzdem finden solche Verbrechen statt. Ich bin der Ansicht, dass das darauf zurückzuführen ist, dass wir sexualisierte Gewalt unterschwellig tolerieren. Ein Beispiel dafür ist Butscha – bei diesem Massaker gab es auch viele Opfer von sexualisierter Gewalt. Im Anschluss zeichnete Putin die an den Kriegsverbrechen beteiligten Soldaten aus. Damit wurden sie indirekt für die Ausübung sexualisierter Gewalt belohnt. De jure ist diese Art der Gewalt verboten, aber an solchen Geschehnissen kann man ablesen, dass sie weiterhin gebilligt wird. Das ist der springende Punkt.

Welche Rolle spielen soziale Medien und digitale Technologien bei der Dokumentation und Aufklärung von sexualisierter Gewalt in bewaffneten Konflikten?

In diesem Zusammenhang ist es wichtig, von der Gefahr einer Instrumentalisierung des Themas zu reden. Auf der einen Seite müssen wir über sexualisierte Gewalt in Kriegen berichten und das Thema sichtbar machen. Tun wir das nicht, werden auch keine präventiven Maßnahmen ergriffen. Auf der anderen Seite dürfen wir nicht zulassen, dass das Thema von politischen Akteur*innen und Organisationen, die ihr Image aufpolieren möchten, instrumentalisiert wird. Wir dürfen nicht zulassen, dass sie sich die Bekämpfung von sexualisierter Gewalt auf die Fahne schreiben, um ihr Ansehen zu verbessern, und die Betroffenen dabei dann auf der Strecke bleiben. Was das angeht, hat auch die Presse eine große Verantwortung. Sie soll die Opfer nicht zur Schau stellen. Es ist nicht Aufgabe der Presse, das brutalste und schlimmste Vergehen bis ins letzte Detail zu beschreiben und damit die die Betroffene oder Betroffenen öffentlich zu zerlegen.

Beim Terrorangriff der Hamas am 7. Oktober 2023 kam es auch zu Sexualverbrechen – diese wurden zwar nach derzeitigem Wissensstand nicht wie andere Straftaten von den Tätern gefilmt. Dies könnte jedoch in Zukunft durchaus der Fall sein. Ist das ein neues Moment, das man mitbedenken muss, wenn man von sexualisierter Gewalt in bewaffneten Konflikten spricht?

Wenn Aufnahmen solcher Taten von Tätern verbreitet werden, dann ist das ganz klar eine Form der Einschüchterung und Bloßstellung, ganz nach dem Motto: „Schaut her, was wir mit diesen Frauen machen, wozu wir fähig sind!“ Sexualisierte Gewalt im Kriegskontext dient immer auch der Destabilisierung der Gesellschaft, mit der man Krieg führt. Den Männern aus dem feindlichen Lager soll damit gezeigt werden, dass sie nicht fähig sind, ihre Frauen zu schützen. Dem liegt ein Rollenverständnis vom Mann als Beschützer der Frau zugrunde. Sexualisierte Gewalt ist somit als ein Angriff auf die Männlichkeit der Kriegsfeinde zu verstehen. Durch das Dokumentieren der Sexualverbrechen und die Verbreitung der Aufnahmen werden sie vor den Augen von Unbeteiligten lächerlich gemacht. Die Frauen werden für diesen Zweck auf schlimmste Weise ausgenutzt. Wobei man sagen muss, dass sowohl in Kriegskontexten als auch darüber hinaus auch Männer von solchen Gewalttaten betroffen sind, obschon Frauen überproportional oft Opfer sexualisierter Gewalt werden. Wenn sich die Gewalt gegen Männer richtet, dann geht es darum, sie zu brechen.

Was hat sich in den vergangenen Jahren in Sachen Prävention und psychosoziale Unterstützung für Überlebende sexualisierter Gewalt in bewaffneten Konflikten getan? Wo sehen Sie noch Handlungsbedarf?

Da muss ich auf Organisationen wie „medica mondiale“ verweisen, die sich für ein Ende sexualisierter Gewalt einsetzen. Denn sie leisten eine unglaubliche Arbeit. „medica mondiale“, mit der wir eine Konferenz am vergangenen Mittwoch in der Abtei Neumünster organisierten, ist in unterschiedlichen Kriegsgebieten vertreten. Die Mitarbeiter*innen dort legen einerseits einen großen Fokus auf Prävention, andererseits auf den sensiblen Umgang mit Betroffenen. Sie haben den „stress- und traumasensiblen Ansatz“ entwickelt, um bei Betroffenen keine Retraumatisierung auszulösen. Auch was die politische Lobbyarbeit angeht, hat „medica mondiale“ in den letzten Jahren Großes geleistet – und es gibt immer mehr Organisationen, die ähnliche Lobbyarbeit betreiben. Mit unserer Veranstaltung haben wir einen eigenen Beitrag dazu geleistet, indem wir alle Abgeordnete des Luxemburger Parlaments dazu eingeladen hatten.

Was würden Sie denn einer Person antworten, die fragt: Was hat dieses Thema mit Luxemburg zu tun? Warum sollen wir uns dafür interessieren?

Ich komme auf das zurück, was ich vorhin sagte: Sexualisierte Gewalt in Kriegen findet nur statt, weil wir sexualisierte Gewalt in Friedenszeiten tolerieren. Krieg ist ein Chaoszustand, in dem alle Regeln vernachlässigt werden. Und weil sexualisierte Gewalt in Friedenszeiten schon eine Realität ist, tritt sie in Kriegen einfach nur verschärft auf. Deswegen ist es enorm wichtig, dass unsere feministische Politik auf nationaler und auf internationaler Ebene kohärent ist. Wir können nicht sagen, dass wir eine feministische Außenpolitik betreiben, und auf nationaler Ebene sorgen wir nicht dafür, dass der geschlechtsspezifischen Gewalt etwas entgegengestellt wird. Wir müssen verstehen, dass diese beiden Ebenen miteinander verknüpft sind, sonst können wir sexualisierte Gewalt in Kriegen nicht nachhaltig bekämpfen.

 Das feministische Zentrum „Cid Fraen an Gender“ organisierte in Zusammenarbeit mit der Organisation „medica mondiale“ am 6. November die Konferenz „Armed Conflict and Gender“ in der Abtei Neumünster. „medica mondiale“ ist eine feministische Frauenrechts- und Hilfsorganisation, die sich für Frauen und Mädchen engagiert, die von geschlechtsspezifischer und sexualisierter Gewalt im Kontext von Kriegen und bewaffneten Konflikten betroffen sind.


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