Slow Cinema: Die Langsamkeit des Sehens

Filme mit langsamem Rhythmus werden seit den frühen 2000er-Jahren dem „Slow Cinema“ zugerechnet. Ein Blick auf das kontemplative Genre und zwei besondere Regisseure: Béla Tarr und Lav Diaz.

Der 2013 erschienene Film „Norte, the End of History“ gehört zu den bekanntesten des Regisseurs Lav Diaz. (Copyright: Grandfilm)

Der Begriff „Slow Cinema“ ist einer mit diffusen Definitionsansätzen und sehr porösen Grenzen. Der vorliegende Beitrag ist gar nicht erst darum bemüht, definitorische Klarheit zu schaffen, vielmehr sollen einige Wesenszüge des „Slow Cinema“ am Beispiel zweier Filmemacher, Béla Tarr und Lav Diaz, herausgestellt werden. Michel Ciment, der einflussreiche Filmkritiker einer der führenden französischen Fachzeitschriften, „Positif“, brachte den Begriff 2003 in Umlauf – generelle Feststellung war eine in Festivalkreisen zu beobachtende spezifische filmische Form der Langsamkeit, die Filmemacher*innen aus aller Welt als eine bewusste Ästhetik verfolgten. Der Ungar Béla Tarr, der Taiwanese Tsai Ming-liang oder auch der Iraner Abbas Kiarostami dienten dem Filmkritiker als Fallbeispiele. Dabei galt immer schon, dass „Slow Cinema“ ein positiv besetzter Terminus ist: Die zum Einsatz kommende Langsamkeit ist ein ästhetischer Effekt, sie ist methodisch und bewusst gesetzt.

Bei aller definitorischer Unklarheit besteht weitestgehend Einigkeit darüber, dass das „Slow Cinema“ im Wesentlichen eine Idee des kontemplativen Kinos ist, welches das Auge schweifen lässt. Es ist ein Kino, das die Leerstellen bedeutsam macht, schweigsame Momente gewinnen die Oberhand, ein auf unmittelbare Aktion abzielendes Handlungsschema tritt in den Hintergrund. Vorreiter des „Slow Cinema“ waren Michelangelo Antonioni, Andrei Tarkowski und Theo Angelopoulos. Sie benutzten oftmals die statische Einstellung und die Plansequenz, also eine Sequenz, die in nur einer Einstellung besteht, um das Gezeigte zu entdramatisieren. Die formalen Stilmittel des „Slow Cinema“ sind mithin schnell identifiziert: lange Einstellungsdauer, statische Aufnahmen, langsame und ungebrochene Kamerafahrten und ein Hang zum „Long Take“. In den letzten Jahren haben besonders zwei Filmemacher die genannten stilistischen Elemente für ihre Werke genutzt: zum einen der ungarische Regisseur Béla Tarr, zum anderen der philippinische Filmemacher Lav Diaz.

Ein Kino der Immanenz

Der 1955 in Pécs geborene Tarr hat sich einen Namen gemacht durch seine langen, meditativen Einstellungen und eine langsame, aber eindringliche Erzählweise. Zu seinen bekanntesten Werken gehören Filme wie „Sátántangó“ (1994) und „Werckmeister Harmonies“ (2000), die beide für ihre tiefgründige Auseinandersetzung mit existenziellen Themen und der menschlichen Natur gelobt wurden. Tarrs Stil ist von einer düsteren, melancholischen Atmosphäre geprägt, er verwendet häufig Schwarz-Weiß-Bilder, um die emotionale Intensität seiner Geschichten zu verstärken. Die enge Zusammenarbeit mit dem ungarischen Kameramann Fred Kelemen trägt maßgeblich zu seinem charakteristischen visuellen Stil bei – 2011 fand dieser Stil in „The Turin Horse“ einen Höhepunkt. Dieser herausfordernde wie faszinierend poetische Film erzählt die Geschichte eines einfachen Bauern und seiner Tochter, die in einem abgelegenen Dorf in Ungarn leben. „Turin Horse“ ist stark von der Philosophie Friedrich Nietzsches inspiriert, insbesondere von der Anekdote über das Pferd, das Nietzsche in Turin gesehen hat. Die Handlung folgt dem Alltag der beiden Protagonisten, der von harter Arbeit, Entbehrungen und einer sich verschlechternden Lebenssituation geprägt ist.

Seine Wirkmacht fußt auch auf der systematischen Unterdrückung kausallogischer Szenenverknüpfungen – die Stringenz macht Platz für Kontingenz. Was sich so stärker ins Bewusstseinszentrum der Zuschauer*innen schiebt, ist das Gefühl für die Schwere dieser Arbeit, für die harschen und unerbittlichen Lebensbedingungen in einem ruralen Setting. Alltägliche Handlungen wie das Pflügen des Feldes oder das Einholen des Wassers am Brunnen sollen Monotonie vermitteln. So wie die Bildinhalte auf der visuellen Ebene kaum variieren, so lässt sich Gleiches über die Gestaltung des Sounddesigns sagen: Äußerst minimalistisch wiederholt Tarr eine strenge musikalische Idee, die eben gerade durch ihre Einförmigkeit einen nervenaufreibenden Effekt freisetzt, der durch die Klänge des ständig heulenden und peitschenden Windes noch gesteigert wird.

„The Turin Horse“ erzählt die Geschichte eines Tochter-Vater-Gespanns in einem kleinen ungarischen Dorf. (Copyright: Erika Bok/Vega Film and Distribution)

Setzt man sich mit „Turin Horse“ näher auseinander, so kommt man nicht umhin, sich an den klassischen Stummfilm der Zwanziger- und Dreißigerjahre erinnert zu fühlen. Carl Theodor Dreyer, Friedrich Wilhelm Murnau sind Tarrs klare Vorbilder – es ist eine reduktionistische Rückbesinnung auf die Essenz des Kinos selbst. Zuvorderst wirkt dieser Film über seine grundlegenden Parameter aus Bild und Ton, „Turin Horse“ kommt praktisch ohne Dialoge aus, es gibt nur spärlich eingesetzte, kurze Wortwechsel und eine knappe Erzählstimme aus dem Off. In dieser Reduktion des Sprachanteils und seiner Beschränkung auf nur 29 Kameraeinstellungen bei einer Gesamtlauflänge von zweieinhalb Stunden manifestiert sich umso stärker eine Ahnung für dieses stoische Dasein, dessen scheinbare Banalität erst in der Wiederholung seine Bedeutsamkeit sukzessive entfaltet.

So minimalistisch „Turin Horse“ sich in seiner Form präsentiert, so überaus reduziert erscheinen einem die Figurenzeichnungen, die überwiegend ohne dramaturgisch klar gesetzte Motivationen verbleiben. Sie besitzen allenfalls ein Alltagsprogramm, das aus kargen Mahlzeiten und ritueller Feldarbeit besteht. In dieser Besinnung auf rituelle Bewegungsabläufe wirken die Figuren dieses Films zum einem wie aus dem Leben gegriffen, zum anderen durch den unbedingten Willen Tarrs zur Stilisierung seltsam überhöht. Zu einem entsprechenden Urteil über die Einfachheit der Charakterzeichnung gelänge man indes nur, wenn man die Prinzipien klassischer Erzähllogik als Norm annimmt. „Turin Horse“ legt vielmehr einen konfrontativen Modus nah, der auf eine unmittelbare existenzielle Wahrnehmung zielt – hier ist auch die Nähe zu Ingmar Bergman unverkennbar. Es ist ein Film der Immanenz, der nach der Präsenz Gottes fragt, ohne Antworten zu geben oder einen spezifischen Sinn nahezulegen. Darin indes liegt die ganze Sinntiefe dieses außergewöhnlichen Films.

Obwohl Tarrs Filme nicht massentauglich sind, haben sie eine treue Anhängerschaft und werden in der internationalen Filmszene hochgeschätzt. Sein Einfluss auf die Wahrnehmung dessen, was „Slow Cinema“ ist – der Begriff wurde ab den 2010er-Jahren virulent – ist enorm.

Philippinische Lebensrealität

In Abgrenzung zu der Universalität des Kinos von Béla Tarr kann man bei dem philippinischen Regisseur Lav Diaz einen deutlicheren Zuschnitt auf die sozialen und politischen Themen der philippinischen Gesellschaft beobachten. 1958 in Datu Paglas, einer philippinischen Stadtgemeinde in der Provinz Maguindanao del Sur, geboren, hat Diaz eine einzigartige Erzähltechnik entwickelt, die er in den Dienst eines ebenso existenzialistischen und tiefgründigen Kinos stellt. Diaz’ Filme sind oft geprägt von einer meditativen Erzählweise, die sich in langen Einstellungen und einer langsamen, aber eindringlichen Entwicklung der Handlung niederschlägt. Zu seinen bekanntesten Werken gehören „Norte, the End of History“ (2013), der die Themen Schuld und Erlösung behandelt, sowie „The Woman Who Left“ (2016), der mit dem Goldenen Löwen bei den Filmfestspielen von Venedig ausgezeichnet wurde.

(© Grandfilm)

Thematisch kreist sein Filmschaffen oftmals um die Auswirkungen von Kolonialismus, Armut, Ungerechtigkeit und die Suche nach Identität. Diaz hat sich so auch als Verfechter des unabhängigen Kinos der Philippinen etabliert. Seine kritische Haltung gegenüber der politischen und sozialen Realität seines Landes ist grundlegender Bestandteil seiner Arbeiten. Diese Engführung von künstlerischer Tiefe und sozialem Kommentar über die spezifische Ausschöpfung einer Form von filmischer Langsamkeit hat ihm internationale Anerkennung eingebracht. Diaz ist immer noch ein gern gesehener Gast prestigeträchtiger, internationaler Filmfestivals. Diese exklusive Vorführsituation ist auch auf den Umstand zurückzuführen, dass Diaz’ Filme überaus lang sind, im Schnitt dauern sie zwischen 4 und 7 Stunden. Festivalscreenings sind oftmals der einzige Weg, die Werke dieses erstaunlichen Filmkünstlers überhaupt zu sehen.

„The Woman Who Left“ erzählt die Geschichte von Horacia Somorostro, einer Frau, die nach 30 Jahren unrechtmäßiger Inhaftierung aus dem Gefängnis entlassen wird. Sie wurde für ein Verbrechen verurteilt, das sie nicht begangen hat. Nach ihrer Freilassung entdeckt Horacia, dass ihr ehemaliger Liebhaber, der sie ins Gefängnis gebracht hat, ein wohlhabender und einflussreicher Mann geworden ist. Der Film folgt ihrer Reise der Rache und Selbstfindung, während sie versucht, sich in einer Welt zurechtzufinden, die sich stark verändert hat. Basierend auf einer Kurzgeschichte des russischen Schriftstellers Lew Tolstoi entfaltet diese Regiearbeit von Diaz ein thematisches Geflecht von Gerechtigkeit, Vergebung und die Auswirkungen von Ungerechtigkeit auf das Leben eines Menschen. Mit seiner Laufzeit von fast vier Stunden wirkt „The Woman Who Left“ beinahe wie eine bewusste Selbstbeschränkung – es ist nicht das umfangreichste Werk des philippinischen Regisseurs, doch das Miterzählen der Zeit und das Spiel mit der Dauer der Einstellungen wurde hier so deutlich als das Zentrum seiner Ästhetik wahrgenommen, dass dieser Film zu Diaz’ Aushängeschild wurde.

Zunächst prägt die bewusste Reduktion der Handlungsebene den Film, die so erreichte relative Ereignislosigkeit lässt ein Gefühl entstehen für die Wahrnehmung dieser entleerten Bilder, die ganz in statischen Einstellungen gelöst sind. Mit der so gewonnenen Empfindung von Langsamkeit verbindet sich bei Diaz ein Effekt des filmischen Realismus, der ferner durch die Darstellung von Originalschauplätzen verstärkt wird. Diese Schauplätze macht er mit großer Tiefenschärfe sichtbar. Im Film „The Woman Who Left“ sitzt die Hauptfigur mit ausdruckslosem Gesicht im Gefängnishof neben einer Wärterin, die an ihrer Stelle in Tränen ausbricht. Dann erlangt Horacia ihre Freiheit wieder, zuerst treibt es sie in die Stadt, am Rande einer belebten Straße, und dann in ihr altes Haus, das ihr fremd geworden ist. Mit dem beständigen Abschweifen von ihrem Vorhaben, Vergeltung für die Ungerechtigkeit ihrer Haftstrafe zu üben, werden so die scheinbaren Flüchtigkeiten, die Nebenschauplätze und -handlungen bedeutsam. Das Kino von Lav Diaz besteht ganz aus diesen Bildern, die immer mehr von einer Fülle an Neben- und Laiendarsteller*innen bevölkert wird: Figuren, die sich langsam und ziellos durch unwirtliche, intransparente Schwarz-Weiß-Tableaus bewegen und von der Schwere ihrer Lebensumstände erdrückt zu werden scheinen – es sind überall und fortwährend ruhelose und mutmaßlich heimatlose Gestalten, mittels derer Diaz eine philippinische Lebensrealität ausdrückt. Diaz’ Versuch, über filmische Langsamkeit tief in die emotionalen und psychologischen Zustände seiner Charaktere einzutauchen, verbindet sich mitunter mit einer betonten Künstlichkeit seiner entschleunigten Bilder, die auch einen Grad an Selbstdarstellung aufweisen – dies ist kein Widerspruch zu der von ihm angestrebten realistischen Darstellungsweise. Gerade so entfaltet Diaz’ Kino seine Intensität, die Langsamkeit ist ihm ein wirkungsmächtiges Mittel.

Der Begriff des „Slow Cinema“ ergibt sich somit zuvorderst aus der unmittelbaren filmischen Wahrnehmung, gerade bei Lav Diaz und Béla Tarr – es ist ein heute inflationär und modisch gewordener Terminus, der in besonderer Weise auf die filmische Form verweist.


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