Syrien: Das Ende des Kalifats

Mit der Eroberung der letzten Bastion des „Islamischen Staats“ in Baghuz am 23. März ist dessen territoriale Herrschaft beendet. Sein Personal propagiert nun einen taktischen Rückzug und die Rückkehr zum Guerillakampf.

Staat der Zerstörung: Die letzte Schlacht des Islamischen Staats ging am 23. März in dem syrischen Dorf Baghuz zu Ende, über den Ruinen weht die Fahne der von den USA unterstützten kurdisch-syrischen „Syrian Democratic Forces“ (SDF). (Foto: EPA-EFE)

Es gibt kein „Kalifat“ mehr. Mit der Eroberung des syrischen Ortes Baghuz im Euphrat-Tal ist die Territorialherrschaft des „Islamischen Staats“ (IS) zu Ende. Der Verbleib des „Kalifen“ Abu Bakr al-Baghdadi ist ungewiss, Spekulationen, wonach er sich mit wenigen Getreuen irgendwo in der ostsyrischen Wüste versteckt, erscheinen plausibel. Die letzten Tage des IS passten abermals ins selbstgeschaffene apokalyptische Szenario: Bomben regneten auf die mit Kämpfern und vollverschleierten Angehörigen vollgepackte letzte Enklave der Jihadisten herab, und noch immer sollen einige Kämpfer in Tunneln ausharren.

Es bedarf keiner ausgereiften Analysen, um zu erkennen, dass der Sieg über den IS kein kompletter sein, diese besonders verstörende Jihadisten-Avantgarde ein Weiter- und Nachleben haben wird. Das garantieren allein schon jene Milizen und Terrorgruppen, die sich in der Peripherie der sogenannten islamischen Welt zumindest ideell dem „Kalifat“ unterstellt haben. Auch in seinen nahöstlichen Kerngebieten, zumal im sunnitischen Irak und in der syrischen Grenzregion, dürfte der IS eine Zukunft haben. Wie armselig und destruktiv diese aussehen wird, ist jedoch offen – ebenso, ob ein grandioser Wiederaufstieg aus Ruinen gelingen kann.

Das ist jedenfalls, was die Gruppe selbst in ihren Publikationen propagiert, analog zu ihrer Frühgeschichte, als sie, noch unter anderem Namen und als al-Qaida-Ableger, vor rund zehn Jahren im Irak bereits einmal praktisch besiegt und zerschlagen war und sich in die Wüste zurückziehen musste. Von hier aus, scheinbar aus dem Nichts, gelang ihr dann der fulminante Siegeszug des Jahres 2014, der erst kurz vor Bagdad zum Halten kam.

Seit dem Beginn der Gegenoffensive mit dem Luftkrieg der Anti-IS-Koalition war jedoch klar, dass die Tage der territorialen Herrschaft der Islamisten gezählt sein würden. Und spätestens seit sich die IS-Führung selbst auf das Auf und Ab der eigenen Geschichte berufen hat, begannen auch die Gerüchte über die langfristige Strategie, sich wieder in die Wüste zurückzuziehen – was im Übrigen auch ein gängiges Motiv der islamisch-arabischen Geschichte darstellt.

Hierbei wird auch aus der Not eine Tugend gemacht. Die Reste des IS haben gar keine andere Wahl, als sich in unwegsame Regionen zurückzuziehen oder zu versuchen, in klandestinen Strukturen in Gebieten unter der Herrschaft ihrer Gegner zu überleben. Beides bedeutet zugleich die Rückkehr zu guerillaartigen Kampfmethoden, wobei es im besten Fall – aus Sicht der IS-Strategen – in der Zukunft zu einer erneuten umfassenden Destabilisierung der Region und zu einer Wiederholung der IS-Aufstiegsgeschichte kommen wird.

Die Alternative dazu wäre bitter für diese Anhänger der Apokalypse: Der IS würde zu einer kleinen regionalen Terrorgruppe degradiert, die zwar möglicherweise noch durch einzelne spektakuläre Bluttaten auf sich aufmerksam machen kann, jedoch keine politische oder militärische Relevanz mehr besitzt und schon gar keine globale politische Anziehungskraft – außer als Mythos.

Generell wandelt sich die Stimmung in der Region; untergründig, aber umso dauerhafter – das hat auch mit einem Generationenwechsel zu tun.

Für die Zukunft des IS im Nahen Osten werden zwei Umstände entscheidend sein: erstens, inwieweit sich in Syrien und im nördlichen Irak die Sicherheitslage stabilisieren lässt, und zweitens, ob zugleich der sunnitischen Bevölkerung eine politische Perspektive geboten werden kann. Beides ist untrennbar miteinander verbunden und meint eben nicht die Scheinlösungen und Fantasien von einer Rückkehr der Diktaturen des alten Nahen Ostens. Daher ist der allein aufgrund russischer und iranischer Unterstützung wiederbelebte syrische Präsident Bashar al-Assad die schwerste Hypothek für die nächste Periode; im syrisch-irakischen Grenzgebiet liegt weiterhin die vielversprechendste Rückzugsregion für die Reste des IS.

Unklar ist, welche Folgen der forcierte Rückzug der US-amerikanischen Truppen auf die wacklige Allianz zwischen Kurden und Arabern bei den „Syrian Democratic Forces“ (SDF) haben wird, die die Bodentruppen für den Kampf gegen den IS gestellt haben. Zugleich steht das Westufer des Euphrat unter der Kontrolle des Assad-Regimes, und zwei Tatsachen sind bezeichnend: dass der IS ab 2017 diese Gebiete Assad weitgehend kampflos überlassen hat und dass die geflohene Bevölkerung immer noch nicht in den Herrschaftsbereich des Diktators zurückgekehrt ist.

Im Irak dürfte entscheidend sein, inwieweit sich die neue Regierung vom iranischen Einfluss emanzipieren kann und es ihr gelingen wird, die Sunniten politisch einzubinden. Dazu gehört der Wiederaufbau Mossuls und die Rückkehr der immer noch annähernd zwei Millionen Binnenflüchtlinge. Die Dysfunktionalität der staatlichen Strukturen birgt hier das größte Risiko, Milizenherrschaft und Korruption sind der Nährboden, auf dem der IS wieder gedeihen könnte. Noch scheint die Situation offen für positive Entwicklungen, aber Warnzeichen sind nicht zu übersehen: „Mosul Eye“, ein unabhängiger Beobachter und Blogger, schrieb vor kurzem, dass er sich angesichts der in der Stadt grassierenden Schutzgelderpressungen, Bestechungen und Bedrohungen so fühle, als beschreibe er das Mossul vor 2014, vor der Einnahme durch den IS.

Die Bedingungen für den IS haben sich jedoch in einem wichtigen Punkt entscheidend verändert. 2014 haben die Islamisten vor dem Hintergrund des Kriegs in Syrien agiert; vorher hatte kaum jemand ernsthaft auf sie geachtet und kaum jemandem war klar, wie ihr politisches Projekt in der Praxis aussehen würde, auch nicht ihrer potenziellen Klientel. Viele Sunniten in Mossul empfanden nach übereinstimmenden Augenzeugenberichten die ersten Wochen nach der Machtübernahme durch den IS tatsächlich als Befreiung. Die monströse Realität des Kalifats-Staats entwickelte sich danach konsequent und umfassend, und nun weiß auch ein penibel alle religiösen Vorschriften einhaltender Sunnit, was ihn in einem Staat vom Zuschnitt des IS erwartet.

Generell wandelt sich die Stimmung in der Region; untergründig, aber umso dauerhafter. Das hat mit einem Generationenwechsel zu tun und das sind auch weitere Auswirkungen des im Westen und in Diktatorenpalästen so schnell totgesagten „arabischen Frühlings“. Die Zukunftsvisionen der Islamisten und speziell die blutige Radikal-Dystopie des IS treffen auf junge Menschen, die sich für alles Mögliche, nur nicht für Terror, Religion und Bevormundung begeistern.

Der „Kalifats-Staat“ war möglicherweise auch der Endpunkt einer Ideologie des großen Kampfs gegen den Westen, wie ihn bereits Osama bin Laden verkörpert hatte, die sich nun selbst wandeln müsste, um anschlussfähig zu bleiben. Eine interessante These hierzu hat der Nahost-Analyst Hassan Hassan entwickelt: Er sieht den Jihadismus der Sunniten immer mit einiger Verspätung in den Spuren der erfolgreicheren schiitischen Organisationen.

Diese haben zuerst in den 1980er-Jahren Selbstmordattentate als Strategie für den Nahen Osten etabliert, sich aber davon abgewendet, um sich auf die Verankerung ihrer Organisationen in lokalen Auseinandersetzungen zu konzentrieren – letztlich geht es um den Weg, wie ihn die libanesische Hisbollah eingeschlagen hat. Die sunnitischen Jihadisten könnten ihr nun darin folgen. Die Islamisten der ehemaligen al-Qaida in Syrien haben bereits offiziell dem internationalen Jihad gegen den Westen abgeschworen und wollen sich als „syrische“ Konfliktpartei verstanden wissen.

Eine ähnliche Entwicklung deutet sich auch bei den Ablegern des IS an, etwa beim „Islamische Staat in der größeren Sahara“ (ISGS), der in Mali und Niger analog zum im Maghreb und in Westafrika operierenden al-Qaida-Ableger „Gruppe für die Unterstützung des Islams und der Muslime“ (JNIM) in Kämpfe verstrickt ist, die sich entlang alter Konflikte zwischen Bevölkerungsgruppen entspinnen. Der Jihadismus könnte sich so zu einem Phänomen vorrangig der Peripherie wandeln, das die toten Winkel der islamischen Welt dauerhaft heimsucht.

Was das für Europa und sein eigenes Jihadistenproblem bedeuten könnte, ist eine weitere Frage. Das wird auch davon abhängen, was passiert, wenn der Nahe Osten selbst sich weiter wandelt. Dies gilt nicht zuletzt für die Golfstaaten, auch falls die Islamisten in den Randgebieten der islamischen Welt, vom Maghreb bis nach Indonesien, eines Tages auf die Idee kommen sollten, die Hüter der Heiligen Stätten der Apostasie und des Verrats an der wahren Lehre zu bezichtigen.

Oliver M. Piecha ist Publizist und lebt in Wiesbaden. Texte von ihm finden sich auf www.geschichtsrallye.de

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