Syrische Flüchtlinge in Dänemark: Operation „Null Asyl”

Die dänische Regierung hat die Region um die syrische Hauptstadt Damaskus als sicher erklärt und widerruft nun gezielt den Asylanspruch von Flüchtlingen aus dieser Gegend. Dabei beruft sie sich auch auf die Expertise des dänischen Flüchtlingsrats – und setzt ein Wahlversprechen um.

Ein System, das „darauf aus ist, Flüchtlinge scheitern zu lassen”? Geflüchtete aus Syrien bei ihrer Ankunft in Dänemark im September 2015. (Foto: EPA/Claus Fisker Denmark out)

Die Nachbarn hatten Nisrin Mohamad Amam vorgewarnt. Seit Monaten wurde in den Medien darüber diskutiert. Dass es auch sie betreffen würde, glaubte sie trotzdem nicht. Bis sie eines Tages einen Brief von den zuständigen Behörden bekam: Nisrin, die in der Nähe der auf Jütland gelegenen Kleinstadt Ebeltoft lebt und vor sieben Jahren als Flüchtling hierhergekommen ist, darf nicht länger in Dänemark bleiben. Ihr Herkunftsland Syrien, so hieß es in dem Bescheid, sei fortan „sicher“. „Ich dachte mir, das ist ein Irrtum”, sagt sie. Der Bescheid jedoch ist eindeutig, und Nisrins Aufenthaltsgenehmigung nicht länger gültig.

Auslöser der Lage, in der Nisrin nun steckt, ist ein bereits im Februar 2019 vom Ministerium für Immigration und Integration und vom dänischen Flüchtlingsrat gemeinsam veröffentlichter Bericht. Darin stuft die Einwanderungsbehörde die Region um Damaskus als sicher ein. Als erstes und bislang einziges Land Europas ging Dänemark diesen Schritt, der international für Empörung sorgte. Dennoch: Ein Stein war ins Rollen gekommen: Wenige Monate nach der Veröffentlichung des Berichts erhielten die ersten syrischen Flüchtlinge, die in dem nordeuropäischen Land Zuflucht gefunden hatten, einen entsprechenden Bescheid. Die Regierung erklärte ihren Asylanspruch für fortan nichtig.

Für die Betroffenen folgten stundenlange Befragungen, Arbeitsverbote und Monate voller Ungewissheit in einem Behördensystem, das mittels mangelhafter Aufklärung und widersprüchlichen Begründungen die vor dem Bürgerkrieg und dem Regime von Baschar al-Assad geflohenen Menschen in einen rechtlichen Schwebezustand versetzt. Eine Einschüchterungstaktik, um weitere Asylsuchende abzuschrecken, sagen Kritiker*innen dieser Politik.

Als Nisrin im Januar 2015 mit ihren zwei Söhnen in Dänemark ankam, war ihre Hoffnung auf ein Ende aller Strapazen groß. „Hier werden die Menschenrechte respektiert – wir hörten, es sei ein gutes Land, und, dass man ein Recht auf Familienzusammenführung hat.” Bei der Flucht aus Syrien hatte sie ihre Tochter zurücklassen müssen. Deren Nachzug wurde ihr zwar nicht gestattet, doch immerhin Asyl gewährt. Dieses wurde Anfang des Jahres aberkannt.

Wie Nisrin sind viele der rund 30.000 Flüchtlinge aus Syrien von der dänischen Einschätzung zur Lage in ihrem Herkunftsland betroffen. Offizielle Zahlen veröffentlichte der dänische Staat bislang nicht. Die dänische Organisation „Refugees Welcome“ schätzt, dass etwa 900 Flüchtlinge bislang den gefürchteten Bescheid erhalten haben. Diesem ersten Schreiben, das die Widerrufung des Asylanspruchs ankündigt, folgt ein Gespräch mit einem Beamten der Einwanderungsbehörde. Anschließend können die Betroffenen Widerspruch einlegen, ehe das endgültige Urteil fällt. Den meisten werde nach einem langwierigen Rechtsstreit die Aufenthaltserlaubnis wieder erteilt, sagt die Leiterin von „Refugees Welcome“, Michala Bendixen, die regelmäßig an Besprechungen mit den Einwanderungsbehörden teilnimmt. Endgültig widerrufen habe die Regierung bisher etwa 100 Asylansprüche.

Laut Bendixen lässt sich hinsichtlich der betroffenen Flüchtlinge ein klares Muster erkennen. So orientiert sich die Einwanderungsbehörde zunächst offenbar an der Wehrpflicht in Syrien: Männer zwischen 18 und 42 Jahren, die in Syrien zum Militär eingezogen werden können, sind von der Maßnahme ausgenommen. „Das Ergebnis ist, dass sie als erstes Menschen aus den schwächsten Bevölkerungsgruppen zurückschicken wollen”, so die Menschenrechtsaktivistin. So seien mehr als die Hälfte jener, deren Genehmigung infrage gestellt wird, Frauen, dicht gefolgt von älteren Personen und Menschen mit einer Behinderung.

Die dänische Organisation „Refugees Welcome“ schätzt, dass etwa 900 Flüchtlinge aus Syrien bislang den gefürchteten Bescheid erhalten haben.

Was zur Abschreckung dienen soll, wirkt – zumindest auf den ersten Blick. „Wir sehen gerade die geringste Zahl von Asylsuchenden seit 40 Jahren, also seit wir die statistische Erfassung begonnen haben”, sagt Bendixen. Diese Entwicklung passt sich dem Wahlversprechen der sozialdemokratischen Premierministerin Mette Frederiksen an, die 2019 mit der Parole „Null Asyl“ angetreten war.

Doch der vom dänischen Flüchtlingsrat mitverantwortete Bericht, auf den sich die Regierung beruft, ist von Widersprüchen durchzogen. So steht dort unter anderem zu lesen, dass die Situation in der Region um Damaskus, die seit Mai 2018 der vollen Kon-
trolle der jetzigen Regierung unterliegt, seitdem sicher sei. Ein paar Seiten zuvor jedoch wird die Lage auch als „unbeständig und instabil” bezeichnet. Im März 2021 kritisierte das EU-Parlament in einer Resolution zuletzt die Abschiebung syrischer Flüchtlinge. Unterdessen berichten internationale Organisationen wie „Amnesty International“ von Menschenrechtsverstößen in Syrien. Rückkehrenden Geflüchteten droht demnach sexuelle und andere körperliche Gewalt, von Folter und Vergewaltigung bis hin zur Exekution. „Eine sichere Heimkehr”, schreibt eine Untersuchungskommission der Vereinten Nationen in einer Lagebeurteilung von 2019, sei unter diesen Umständen „nicht möglich”. Der Vorsitzende der Untersuchungskommission hat diese Einschätzung noch im März 2022 erneuert.

Scharfe Kritik formulieren auch die in dem dänischen Bericht zitierten Sachverständigen. Zunächst wandten sie sich direkt an die Behörden. Als einige Monate später klar wurde, dass der Bericht konsequent für den Widerruf von Asylansprüchen eingesetzt wird, gingen elf der zwölf Expert*innen an die Öffentlichkeit: der Bericht stelle ihre Aussagen falsch dar. Darunter auch Sara Kayyali, die leitende Forscherin des Teams von „Human Rights Watch Syria“. Zwar habe sich die Lage, wie in dem Bericht angegeben, zugunsten des Assad-Regimes stabilisiert, doch im Gegensatz zu dem, was in der Schlussfolgerung steht, käme dies nicht unbedingt einer Besserung gleich.

Laut Kayyali habe der dänische Flüchtlingsrat, ein gemeinnütziger Dachverband mit Sitz in Kopenhagen, der 33 NGOs vereint, mit einigen der Schlussfolgerungen auf erheblichen innenpolitischen Druck reagiert. Das eigentliche Problem sei, dass die dänischen Behörden die Komplexität der Lage vor Ort nicht berücksichtigen, so die Wissenschaftlerin. Die syrische Regierung habe keine eindeutige Zielgruppe ihrer Repressionen im Visier. Willkürliche Verhaftungen und Hinrichtungen seien die Norm, und die Lage daher „extrem gefährlich für jeden, der nach Damaskus oder anderswo in Syrien zurückkehrt.” Wenn überhaupt, sagt die Forscherin, sei Damaskus jetzt noch um einiges gefährlicher geworden, denn die dortige Bevölkerung sei der Regierung völlig ausgeliefert.

Auch Nisrin weiß, welche Bedrohung das Assad-Regime darstellt. Ihr Ehemann und dessen drei Brüder wurden eines Tages im Jahre 2012 von der Polizei festgenommen. Sechs Jahre lang hörte ihre Familie nichts von ihnen, bis Nisrin ein Schreiben der syrischen Behörden erhielt: Ihr Mann war ohne Gerichtsverhandlung im Jahre 2013 hingerichtet worden. Auch weiterhin wird die Familie verfolgt und drangsaliert: „Die Polizei war vor Kurzem, im Dezember 2021, noch bei meiner Tochter, die in Damaskus ist. Sie haben nach mir und meinen anderen Kindern gefragt”, sagt Nisrin. Den dänischen Behörden hat sie davon erzählt, darauf eingegangen seien diese während ihrer zweiten Anhörung zu ihrem Asylanspruch jedoch nicht.

Wer in Dänemark Asyl beantragt, muss diesen Antrag zunächst in einer persönlichen Anhörung begründen. Als ihr im Januar 2022 der gefürchtete Bescheid zu ihrem Asylstatus zugestellt wurde, erhielt Nisrin auch eine Einladung zu einer erneuten Anhörung. So fand sie sich Mitte Februar nach sieben Jahren erneut im Büro der Einwanderungsbehörde wieder. Es war jedoch „ganz anders, als das erste Gespräch”, sagt Nisrin, „stressig und aggressiv“. Ohne anwaltlichen Beistand musste Nisrin dem zuständigen Beamten Rede und Antwort stehen. Immer wieder wurden ihr die gleichen Fragen gestellt.

Neun Stunden dauerte die Anhörung insgesamt. Dies sei durchaus üblich, erklärt Anemone Samy, die Flüchtlingen während der Befragung oft als Begleitperson zur Seite steht: „Es ist ein regelrechtes Verhör.” Auf die kleinsten Irregularitäten seien die Behörden aus. Sollte eine Antwort von der ersten Befragung, als das Asyl beantragt wurde, abweichen, laufe man Gefahr als „nicht vertrauenswürdig“ beschuldigt zu werden und den Fall zu verlieren, sagt Samy.

Für Nisrin folgten auf diese zweite Anhörung Wochen voller Ungewissheit. Trotz der „harten Befragung”, war sie überzeugt: „Ich habe ihnen erklärt, warum Syrien für uns nicht sicher ist.” Am 11. März dann erhielt sie den endgültigen Bescheid der Behörde: Der Anspruch auf Asyl wurde ihr entzogen. Das Wort „schockiert“ werde dem, was sie gefühlt habe, nicht gerecht: „Ich kann das Gefühl nicht beschreiben.” Auf den Umstand, dass die syrischen Behörden ihre Familie im Auge behalten, geht der Bescheid kaum ein. Hingegen werden ihre Kinder gar als Grund für die behördliche Entscheidung genannt.

Demnach sei der Zeitraum zwischen sechs und 15 Jahren besonders prägend für die Entwicklung und Integration eines Kindes. Laut der dänischen Behörde haben Nisrins Kinder zwar den größten Teil dieser prägenden Zeit in Dänemark gelebt, jedoch trotzdem „nicht genügend Entwicklungsjahre in Dänemark verbracht, um dadurch eine unabhängige Verbindung zu Dänemark hergestellt zu haben” und also im Land bleiben zu dürfen. „Das ist absurd”, kommentiert Anemone Samy diese Argumentation. Selbst der Verbleib von Nisrins Tochter in Syrien wird als Grund für die Legitimität der dänischen Behördenentscheidung angegeben. Sollte Nisrin mit ihrer Familie nach Syrien zurückkehren müssen, droht ihrem 16-jährigen Sohn mit hoher Wahrscheinlichkeit eine Einberufung zum Militärdienst.

Eine direkte Abschiebung droht allerdings niemand: Dänemark darf nicht nach Syrien abschieben, da es keine diplomatischen Beziehungen mit der dortigen Regierung pflegt. Stattdessen werden die Betroffenen in Internierungslagern untergebracht, wie zum Beispiel in Kærshovedgaard im Norden Dänemarks, wo sie, abgeschnitten von der Gesellschaft und ohne Recht auf Arbeit oder Bildung, auf unbestimmte Zeit verweilen. Bislang sind über 400 Menschen vor diesem Schicksal in Nachbarländer Dänemarks geflohen, berichtet die Medienorganisation „Lighthouse Reports“.

Sara Kayyali von „Human Rights Watch“ sieht in den Entwicklungen der letzten Jahre einen „gefährlichen Präzedenzfall” auch über die EU hinaus. So habe der dänische Entschluss etwa auch den Libanon ermutigt, syrische Flüchtlinge abzuschieben.

Nisrin kann bislang in ihrer Wohnung bleiben, doch ihr Leben ist seit der behördlichen Entscheidung zahlreichen Einschränkungen unterworfen. Zwar dürfen ihre Kinder noch zur Schule, doch sie sie selbst „kann nichts planen, über nichts anderes nachdenken” als ihre aktuelle Situation. Am schlimmsten sei das Warten, in einem System, das „darauf aus ist, Flüchtlinge scheitern zu lassen”, so die Aktivistin Samy. Ihre Hoffnung versucht Nisrin dennoch nicht zu verlieren. Sie legte kurz nach Erhalt des Bescheids Einspruch ein. Derzeit ist ihr Fall noch bei der dänischen Berufungskommission anhängig. Dort haben momentan ukrainische Flüchtlinge den Vortritt. Nisrins Lebensperspektive ist in der Warteschleife.

Maria Elorza Saralegui studiert an 
der Universität Aarhus und arbeitet als 
freie Journalistin.

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