Auf ein überraschendes Friedensangebot an die PKK folgten ein Anschlag der Organisation und die Bombardierung kurdischer Gebiete. Fraglich ist, ob die türkische Regierung tatsächlich an einer Lösung der kurdischen Frage interessiert ist.

Abdullah Öcalan als Redner im türkischen Parlament? Präsident Recep Tayyip Erdoğan weiß den Personenkult um den PKK-Chef für sich zu nutzen. Unser Bild zeigt Erdoğan bei der Eröffnung des Parlamentsjahres im Oktober 2023. (Foto: EPA-EFE/NECATI SAVAS)
Völlig unerwartet hat Devlet Bahçeli, der Vorsitzende der rechtsextremen türkischen „Partei der Nationalistischen Bewegung“ (MHP), die mit der „Partei für Gerechtigkeit und Aufschwung“ (AKP) von Präsident Recep Tayyip Erdoğan koaliert, Anfang voriger Woche Abgeordneten der verfemten prokurdischen „Partei für die Gleichheit und Demokratie der Völker“ (DEM) die Hand geschüttelt und vorgeschlagen, einen Friedensprozess einzuleiten. Dazu solle der inhaftierte Anführer der „Arbeiterpartei Kurdistans“ (PKK), Abdullah Öcalan, vor dem türkischen Parlament sprechen. Auch von einer Änderung der Verfassung ist die Rede. Es handelt sich dabei um denselben Devlet Bahçeli, der vor Jahren bei Wahlkampfveranstaltungen mit einer Drahtschlinge auftrat, an der er Öcalan aufhängen wollte. Und nun soll der sonst als „Kindermörder“ Titulierte vor dem Parlament sprechen?
Die erste Reaktion der PKK kam von deren Feldkommandanten Murat Karayılan. Dieser bezeichnete den Vorschlag, Öcalan vor dem Parlament sprechen zu lassen, als „unvernünftig“ und äußerte die dunkle Drohung, wer die Kraft der PKK unterschätze, werde schon morgen sehen können, dass er sich geirrt habe. Am nächsten Tag überfielen eine junge Frau und ein junger Mann den Sitz der Firma Tusaş in Ankara, die unter anderem Drohnen herstellt, die auch gegen die PKK eingesetzt werden. Bei dem Kampf und Explosionen im bewachten Eingangsbereich starben außer den Angreifern fünf Menschen, darunter der Taxifahrer, der die beiden zu der Firma gebracht hatte. 22 Menschen wurden verletzt. Es war der erste Anschlag der PKK in der Türkei nach jahrelangem Stillhalten.
Das türkische Militär reagierte sofort. Kurdischen Quellen zufolge gab es in der Nacht und am Tag danach über 40 Angriffe mit Flugzeugen, Drohnen und Artillerie auf kurdisch kontrollierte Gebiete in Nordsyrien und in der kurdisch-yezidischen Region Şingal (arabisch: Sinjar) im Irak. Getroffen wurden Dörfer und Ölanlagen. Mindestens zwölf Menschen sollen gestorben und 27 verletzt worden sein.
Politisch hatte der Anschlag von Ankara dennoch kaum Folgen, und zwar auf beiden Seiten. Die PKK verkündete, die Aktion sei schon länger geplant gewesen und sei keine Reaktion auf die gegenwärtigen politischen Entwicklungen. Das „kurdische Volk“ werde „mit allen seinen Strukturen und Komponenten den Prozess, den der Anführer Apo entwickeln wird, zur Grundlage nehmen“. Apo (deutsch: Onkel), wie Öcalan von der PKK genannt wird, hatte bereits am Tag des Anschlags von der Gefängnisinsel İmralı aus seine Bereitschaft erklärt, am Friedensprozess mitzuwirken. Die PKK hält Bahçelis Initiative also plötzlich nicht mehr für „unvernünftig“, sondern unterstützt sie, wobei ihre Erklärung allerdings alles Konkrete sorgsam umschifft.
Erdoğan nahm Anfang voriger Woche am Brics-Gipfel in Kasan teil. Zurückgekommen, erwähnte er Bahçelis Initiative nur nebenbei, machte aber deutlich, dass er und seine Partei AKP diese unterstützen. Es besteht kein Zweifel daran, dass Bahçeli von Erdoğan nur vorgeschickt wurde. Bahçeli hat nicht die politische Kraft zu einer eigenen Initiative und schon gar nicht die Macht, Öcalan ins türkische Parlament einzuladen. Initiator kann nur Erdoğan gewesen sein, der es aber vorzieht, nicht als solcher in Erscheinung zu treten.
Während viele oppositionelle Beobachter*innen eine gewisse Skepsis erkennen lassen, schwärmen andere bereits vom Frieden. Man kann sich aber fragen: Friede nach welchem Krieg? Hätte es nicht diesen einen Anschlag in Ankara gegeben, man hätte sagen können, dass in der Türkei ja schon seit Jahren Frieden mit der PKK herrsche. Es ist der türkische Staat, der kurdisch dominierte Gebiete in Syrien und im Irak ständig angreift. Würde die Türkei ihre Angriffe einstellen, herrschte Frieden. Die Existenz des kurdisch verwalteten Rojava in Syrien wäre die Garantie, denn auf Angriffe der PKK in der Türkei könnte diese mit einer Offensive auch mit Bodentruppen gegen Rojava antworten; das wäre das Ende des kurdischen Experimentes in Syrien.
Wie schon bei dem gescheiterten Friedensprozess von 2012 bis 2015 soll wieder alles über Öcalan laufen. Dabei gibt es genügend gewählte kurdische Politiker*innen in der Türkei. Warum nicht mit denen über eine politische Lösung der kurdischen Frage sprechen? Man könnte ja auch damit beginnen, ein paar inhaftierte kurdische Politiker*innen freizulassen.
Da wäre zum Beispiel Selahattin Demirtaş. Er holte 2014 bei der Präsidentschaftswahl 9,8 Prozent der Stimmen, was für einen kurdischen Politiker damals sensationell war. 2016 wurde Demirtaş wegen „Terrorpropaganda und Mitgliedschaft in einer bewaffneten Terrororganisation“ inhaftiert und sitzt noch immer im Gefängnis, obwohl der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte schon zweimal seine sofortige Freilassung angeordnet hat – was die Türkei mit juristischen Tricks umgangen hat.
Öcalan ist für Erdoğan ein bequemer „Verhandlungspartner“. Die Anführungszeichen schon deshalb, weil es bisher gar keine Verhandlungen gibt und die Öffentlichkeit völlig im Unklaren darüber gelassen wird, wie es weitergehen soll. Man kann auch Zweifel daran haben, dass der Vorschlag ernst gemeint ist, Öcalan vor dem Parlament reden zu lassen. Der sitzt weiter auf İmralı und kann sich nur öffentlich äußern, wenn man ihn lässt. Man könnte ihn jederzeit auch wieder ganz zum Schweigen bringen, was umso leichter wäre, als ihn in der Türkei außer seinen kurdischen Anhänger*innen kaum jemand vermissen würde.
Dass der „Lösungsprozess“ wieder allein über den Anführer der PKK laufen soll, bedeutet auch, die kurdische Frage zu entpolitisieren.
Juristisch hat Öcalan keine Hoffnung, je freigelassen zu werden, es sei denn, jemand gewährte ihm eine Begnadigung. Das kann nach Lage der Dinge derzeit nur Erdoğan sein. Vor diesem Hintergrund war wohl auch ein offener Brief Öcalans zu verstehen, in dem er Kurd*innen dazu aufrief, bei der Bürgermeisterwahl 2019 in Istanbul nicht den Oppositionskandidaten Ekrem İmamoğlu zu unterstützen. İmamoğlu wurde trotzdem gewählt und Erdoğan verlor die größte Stadt der Türkei, die auch eine Art Schatzkammer für seine Partei war („Wählen bis zum Sieg“ in woxx 1528). Man kann also Zweifel daran haben, dass Öcalan ein unabhängiger „Verhandlungspartner“ für Erdoğan wäre.
Dass der „Lösungsprozess“ oder die „Öffnung“, wie es nun heißt, wie bereits beim vorangegangenen gescheiterten Versuch wieder allein über den Anführer der PKK laufen soll, bedeutet auch, die kurdische Frage zu entpolitisieren, sie weiter als reines Terrorproblem zu behandeln und nicht als notwendige politische Verhandlung mit den Vertreter*innen einer großen Zahl türkischer Bürger*innen anzuerkennen. Dass in der Öffentlichkeit nicht einmal von der Möglichkeit gesprochen wird, solche kurdischen Politiker*innen, die nie anders als mit Worten gekämpft haben, aus dem Gefängnis zu entlassen, spricht Bände über die Ernsthaftigkeit dieses Prozesses.
Das erinnert an das Jahr 2015. Die PKK hatte sich damals bereit erklärt, die Waffen endgültig niederzulegen. Am 28. Februar unterschrieb der stellvertretende Ministerpräsident zusammen mit einer Delegation, die vorher Öcalan auf İmralı hatte besuchen dürfen, im Istanbuler Dolmabahçe-Palast ein Programm zur Lösung der kurdischen Frage. Doch am 15. März sagte Erdoğan plötzlich, eine kurdische Frage existiere nicht. Nachdem die AKP bei den Wahlen im Juni desselben Jahres Verluste erlitten hatte, begann eine Repressionswelle gegen kurdische Politiker*innen auf allen Ebenen. Allein zwischen dem 24. Juni 2015 und dem 1. Februar 2017 zählte die prokurdische „Demokratische Partei der Völker“ (HDP) mehr als 15.000 Festnahmen und 3.647 Inhaftierungen. Das ist nur ein Teil der Repressionswelle, die in der Türkei bis heute fortdauert.
Berkant Gültekin schreibt in der linken türkischen Zeitung „Birgün“, man solle sich nichts vormachen lassen: das einzige Ziel des Regimes sei es, „mit allen reaktionären und repressiven Elementen so lange wie möglich auf den Beinen zu bleiben“. Das Friedensangebot kann daher als politisches Manöver interpretiert werden, bei dem es gar nicht um die PKK oder die kurdische Frage geht.
Die Inflation, die selbst nach offiziellen Angaben im September noch immer 49 Prozent im Vergleich zum Vorjahresmonat betrug, nagt allmählich an Erdoğans Popularität. Der völlig unklare Lösungsprozess gibt ihm zunächst politischen Spielraum, ohne ihn zu irgendetwas zu verpflichten. Zumindest kann er einen wichtigen Teil der Opposition neutralisieren. Und die kurdische Bewegung tappt wieder brav in die Falle des eigenen Personenkults um ihren Apo.
Jan Keetman ist freier Journalist und berichtet vorwiegend aus der Türkei.
Das könnte Sie auch interessieren:
- Proteste in den USA: Gegen Abschiebungen, für Trump
- Rechtsextreme Strukturen in Deutschland: Erben der Baseballschlägerjahre
- Auflösung der PKK: Zwischen Repression und Hoffnung
- Rechtes Gipfeltreffen in Italien: Aktivismus und Parteipolitik
- Rechte von trans Personen in Großbritannien: Zurück in der Diskriminierung