Über individuellen Widerstand: Das Echo der Geschichte

Mit dem Roman „Ich bleibe hier” ist dem italienischen Autor Marco Balzano ein Überraschungserfolg gelungen. Seine Geschichte über die Südtiroler Lehrerin Trina, die in der ersten Hälfte des zwanzigsten Jahrhunderts zuerst den Faschisten, dann den Nationalsozialisten trotzt und sich auch sonst nicht unterkriegen lässt, begeistert durch einen schnörkellosen Stil und dichte Schilderungen.

Durch seine Erzählung verschafft er denjenigen Gehör, die lediglich als Spielball der Geschichte dienten: der italienische Autor Marco Balzano. (Foto: Geri Krischker)

Im Frühling 1923 bereitet sich Trina auf ihre zukünftige Arbeit als Lehrerin vor, doch dann besetzen die Faschisten unter Benito Mussolini ihre Heimat Südtirol. Das Unterrichten ist nun Italiener*innen vorbehalten. Namen werden italianisiert, sogar vor den Inschriften auf Grabsteinen machen die neuen Herrscher nicht halt. Das vergleichsweise beschauliche Leben im Bergdorf Graun ist vorbei. Bis dahin hatten vor allem die Jahreszeiten den Lebensrhythmus vorgegeben: „Es schien, als käme die Geschichte nicht bis hier herauf. Sie war wie ein Echo, das verhallte.”

Trina beginnt heimlich Deutsch zu unterrichten. Es ist der Anfang eines stillen Widerstands, der zu einer Kons-
tante in ihrem Leben wird. Marco Balzanos neues Buch ist die Geschichte einer jungen Frau, die versucht, sich aus der Fremdbestimmung zu befreien.

Männer interessieren sie nicht sonderlich: „Die Vorstellung, Liebe könnte etwas mit ihnen zu tun haben, fand ich lächerlich.” Zuneigung empfindet sie vor allem für ihre Freundin Barbara. Balzano braucht nur wenige Worte, um Trinas Gefühle zu umreißen: „Wir küssten uns im Gras, und als wir aufstanden, waren unsere Kleider zerknittert. Es machte uns Spaß, aber warum wir es taten, wüsste ich nicht zu sagen. Vielleicht braucht man, wenn man noch so jung ist, nicht unbedingt einen Grund.” Doch Barbara, die ebenfalls heimlich Deutschunterricht gibt, wird dabei erwischt und zur Strafe umgesiedelt. Trina heiratet schließlich den Bauern Erich und gebärt ihm zwei Kinder.

Balzanos direkter, fast karger Erzählstil ist eine der Stärken des Buches. Figuren und Handlung stehen im Vordergrund, der Autor nimmt sich zurück, schlüpft vollkommen in die Haut seiner Protagonistin. Seine Prosa ist so schlicht wie der Romantitel, im Original „Resto qui”, was exakt dem deutschen Titel entspricht: „Ich bleibe hier“.

1939 stehen die Dorfbewoh-
ner*innen nämlich vor der Wahl, entweder in dem von den italienischen Faschisten besetzten Südtirol zu bleiben, oder in Hitlers nationalsozialistisches „Reich” auszuwandern. Im Dorf wird diese Möglichkeit gefeiert, nur Trina und Erich glauben den Versprechungen Hitlers nicht. Ihr Sohn Michael wird als „Dableiber” verspottet, Tochter Marica beginnt aufzubegehren und möchte ihr Heimatdorf verlassen, in dem sich ihr keine Pers-
pektiven bieten.

Balzano verleiht jenen eine Stimme, denen es schwerfällt, sich Gehör zu verschaffen. Die Ich-Erzählerin richtet ihre Worte jedoch nicht an die Leser*innen, sondern an ihre Tochter Marica, die ihr in den Wirren der Geschichte abhandenkommt. Dem Autor gelingt es sehr gut, die historischen Entwicklungen mit den persönlichen Schicksalen seiner Figuren zu verbinden. Weniger überzeugend ist der Spannungsbogen, den er rund um die Abwesenheit der Tochter aufzubauen versucht. Die Ungewissheit darüber, was mit dem Kind passiert ist und ob es ein Wiedersehen geben wird, soll zum Umblättern verleiten. Die wirklich spannende Frage aber stellt er ganz am Anfang: „Warum bedeutet Leben unbedingt vorwärtsgehen?” Ist es richtig, auf seiner Position zu beharren oder wird es manchmal unvermeidlich, sich den Veränderungen der Geschichte zu beugen?

© Diogenes Verlag

Parallele zu Luxemburg

Balzano, der neben dem Schreiben als Lehrer für Literatur an einem Mailänder Gymnasium arbeitet, fand sein Thema 2014. Damals besuchte er den Vinschgau und war nachhaltig beeindruckt von dem Bild des Kirchturms, der einsam aus dem Wasser des Reschensees ragt, Resultat eines unter den Faschisten begonnenen und 1950 mit der Flutung des Bassins abgeschlossenen Stauprojekts. Nachdem die Dörfer Graun und Reschen den Krieg überstanden hatten, verloren hunderte Familien der überfluteten Dörfer ihre Existenz. Für den Autor wurde dies zum Sinnbild dafür „wie brutal die Geschichte sein kann”. Es ist der vermeintliche Fortschritt, dem Trina und Erich letztlich weichen müssen.

Hier besteht eine Parallele zur Luxemburger Geschichte: Anfang der 1960er-Jahre wurden Teile des Dorfes Bivels, nahe Vianden, geflutet, um eine Sperre im Ourtal zu errichten. Bei der Einweihung am 17. April 1964 nannte der Minister für Öffentliche Arbeiten, Robert Schaffner, die Stauanlage „ein Symbol für den Sieg des Geistes über die Materie; sie ist aber auch ein Symbol für den Sieg des produktiven Kollektivgeistes über den destruktiven Massengeist”, wie Lex Jacoby im „Lëtzebuerger Almanach vum Joerhonnert 1900-1999“ schreibt. Mehr als ein Dutzend Wohnhäuser, der Dorfladen, die Bivelser Mühle, sowie die Dorfkapelle fielen dem Stau zum Opfer; auch zehn Arbeiter kamen bei der Errichtung der Anlage ums Leben. In Südtirol starben derer 26. In Bivels ging die Geschichte vergleichsweise gut aus, denn bereits im September 1960 zogen die Bewohner*innen in neu errichtete Reihenhäuser um, während in Graun und Reschen die Umgesiedelten noch jahrelang in Notbehausungen lebten.

Balzano recherchierte mehrere Jahre für seinen Roman, befragte Expert*innen und sprach mit Augen-
zeug*innen. Lediglich die Firma Montecatini, die mittlerweile Edison heißt und damals für den Bau der Staudamms verantwortlich war, antwortete nicht auf seine Anfragen und gewährte auch keinen Einblick in ihre Archive.

Durch seine Erzählung verschafft Marco Balzano denjenigen Gehör, die lediglich als Spielball der Geschichte dienten. Die Mächtigen brauchen sich nicht zu erklären. Dies ist das eigentlich Tragische an dem Buch.

Marco Balzano: Ich bleibe hier. 
Aus dem Italienischen von Maja Pflug. 
Diogenes Verlag, 288 Seiten.

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