Trotz des Minsker Abkommens wird in der Ukraine weiter gekämpft. Die Verhandlungen über abtrünnige Gebiete verlaufen zäh, politische Reformen erfolgen schleppend.
Immer wieder hat US-Außenminister John Kerry seine längst angekündigte Reise nach Moskau verschoben. Am Dienstag vergangener Woche, ganze zwei Jahre nach seinem ersten Besuch bei Wladimir Putin, war es dann endlich soweit. Allerdings führte ihn der Weg an der Hauptstadt vorbei nach Sotschi. Dort erholte sich der russische Präsident von den strapaziösen Maifeierlichkeiten zum Tag des Sieges und beriet sich in aller Ruhe mit hohen Militärangehörigen, bevor er sich auf ein Treffen mit Kerry einließ.
Bis zum letzten Moment blieb unklar, ob sich der Meinungsaustausch womöglich auf die Ministerebene mit Kerrys ebenfalls angereistem russischen Amtskollegen Sergej Lawrow beschränken würde. Putin ließ sich die Gelegenheit jedoch nicht entgehen. Auch wenn das Treffen kaum als Durchbruch angesichts der etwas frostigen russisch-amerikanischen Beziehungen gewertet werden kann, so hieß es zumindest in diplomatischen Kreisen, dass Kerrys Visite von symbolischem Wert sei.
Neben überaus wohlwollenden Kommentaren zu den Gesprächen finden sich in russischen Medien jedoch auch verhaltenere Einschätzungen. Letztlich gehe es den USA lediglich um eine Rückkehr zu den Verhältnissen vor Beginn des Ukraine-Konflikts, zumal weder der erhöhte Druck auf Russland noch die Entwicklungen in der Ukraine in den vergangenen Monaten realistische Perspektiven auf eine schnelle Beilegung der bewaffneten Auseinandersetzung und eine Regelung des zukünftigen Status der abtrünnigen Gebiete im Donbass eröffnet haben.
Die Krim scheint derweil die Gemüter weniger zu erhitzen, die weitere Austragung bestehender Konflikte um die Bewertung der Annexion der Halbinsel durch Russland wird hinausgeschoben. Nach den Chancen auf eine baldige Rücknahme der Sanktionen gegen Russland gefragt, antwortete Kerry, dass die Voraussetzung dafür die Umsetzung des Minsker Abkommens sei. Von der Krim ist darin nicht die Rede.
Während sich die unmittelbar am bewaffneten Konflikt im Donbass beteiligten Parteien durch das von ihnen nur teilweise eingehaltene Minsker Abkommen eine notwendige Atempause verschafft haben, signalisieren sie nun die Bereitschaft, gegebenenfalls wieder in großem Maßstab weiterzukämpfen. Inzwischen macht sich bei den USA und der Europäischen Union Kriegsmüdigkeit bemerkbar. Es scheint die Erkenntnis zu reifen, dass unter den Bedingungen eines de facto nicht beendeten Kriegszustands keine tiefgreifenden wirtschaftlichen, politischen und sozialen Reformen erfolgen werden.
Der Krieg im Osten der Ukraine bestimmt die politische Tagesordnung auf allen Ebenen und verhindert selbst bescheidene strukturelle Veränderungen. Zumal die Folgekosten weiter steigen werden, je länger sich der Konflikt hinzieht. Über kurz oder lang erhöht dies die Kompromissbereitschaft im Westen bei der Beendigung des Kriegszustandes und davon wird Russland letztlich womöglich weitaus mehr profitieren als die Ukraine, deren internationale Abhängigkeiten angesichts der verheerenden wirtschaftlichen Situation, einer Art dauerhaftem Kollaps, im Wesentlichen fortbestehen.
Nicht nur der US-Außenminister sucht derzeit den Kontakt zur politischen Führung Russlands, auch Bundeskanzlerin Angela Merkel fand sich am 10. Mai, also nach Beendigung der offiziellen Feierlichkeiten zum Tag des Sieges, in Moskau zum Staatsbesuch bei Putin ein. Dabei ging es nicht allein um eine Pflichtveranstaltung, nämlich die Würdigung der Opfer des deutschen Vernichtungsfeldzuges und des Beitrags der Sowjetunion zum Sieg über Nazi-Deutschland. Ziel war es auch, zu demonstrieren, dass die deutsche Regierung den Verhandlungen mit Russland eine hohe Priorität einräumt. Russlands Isolation durch den Westen ist also sehr begrenzt.
Die abtrünnigen Regionen fordern eine blockfreie Ukraine.
Seit dem 6. Mai arbeiten nun vier Arbeitsgruppen an konkreten Lösungsvorschlägen auf der Grundlage des Minsker Abkommens. In der Zwischenzeit haben die selbsternannten „Volksrepubliken“ im Donbass dem Vorsitzenden der ukrainischen Verfassungskommission, Wladimir Groisman, und der Minsker Kontaktgruppe ihre Vorschläge zur Festigung eines gesonderten Status der abtrünnigen Regionen unterbreitet. Den Minsker Vereinbarungen zufolge muss die Ukraine bis Jahresende Verfassungsänderungen in Kraft setzen, die deren Bestreben nach einer Dezentralisierung Rechnung tragen.
Nach den Vorstellungen der Vertreter aus Donezk und Lugansk soll in einem eigenen Verfassungsabschnitt der Sonderstatus einiger Gebiete im Donbass festgeschrieben werden, der insbesondere die Schaffung einer den lokalen Behörden unterstellten Volksmiliz enthält. Darüber hinaus soll die ukrainische Verfassung den „Volksrepubliken“ gesonderte ökonomische Vollmachten gewähren und Russisch als Staatssprache anerkennen.
Auch das Gerichtswesen, die Staatsanwaltschaft, das System der lokalen Selbstverwaltung und diverse Fragen der Gestaltung bürokratischer Strukturen sollen in die Verfassung aufgenommen werden. Zu guter Letzt enthalten die Vorschläge eine überaus strittige Forderung, die die russische Regierung wiederholt als grundlegende Voraussetzung für eine stabile Sicherheitspolitik in Europa angeführt hat, nämlich eine verfassungsrechtliche Garantie des blockfreien Status der Ukraine.
Es ist kaum zu erwarten, dass dieser Punkt in Kiew auf mehrheitliche Zustimmung treffen wird, was auch für einige andere Aspekte der angestrebten Sonderstellung gilt. Aber es ist auch nicht ausgeschlossen, dass die abtrünnigen Regionen in der einen oder anderen Frage Rückhalt aus der EU erfahren könnten. Nicht allzu viele Varianten existieren, um auf Dauer den Verbleib des Donbass innerhalb der Ukraine und damit deren staatliche Integrität zu gewährleisten.
Die ukrainische Regierung versucht indes, Zeit zu gewinnen. Solange es keine verbindliche Regelung über die weitere Anbindung der „Volksrepubliken“ an die Restukraine gibt, spart sie relevante Summen aus der ohnehin kärglich gefüllten Staatskasse, die andernfalls als Transferleistungen in den Donbass fließen müssten. Angesichts dringend benötigter Finanzhilfen aus der EU wird der ukrainischen Regierung eine etwaige Gegenrede immer schwerer fallen, sollte der politische Druck aus dem Westen zunehmen.
Viel vorzuweisen gibt es ohnehin noch nicht. Strukturelle Reformen bleiben bislang aus, beim Kampf gegen die allgegenwärtige Korruption wird mit Strafermittlungen gegen Einzelne vorrangig auf Schaueffekte gesetzt. Diese Form der imitierten Korruptionsbekämpfung findet auch im benachbarten Russland Anwendung, ohne dass dies auf das Ausmaß der Korruption im Land nennenswerte Auswirkungen hat. Der ukrainischen Regierung bleibt angesichts ihrer bescheidenen Erfolge kaum etwas anderes übrig, als ihre Versäumnisse mit dem Krieg zu entschuldigen.
Dafür stehen die Zeichen derweil besonders günstig. Präsident Petro Poroschenko sagte kürzlich bei seinem Berlin-Besuch in einem Interview mit dem deutschen Fernsehsender ZDF, dass sich die russische Militärpräsenz im Osten verstärkt habe und womöglich bald das Kommando erfolgen könnte, die ukrainische Hafenstadt Mariupol einzunehmen. Auch Ministerpräsident Arsenij Jazenjuk teilte mit, er halte die Wahrscheinlichkeit eines erneuten Auf-
flammens der bewaffneten Auseinandersetzungen im Osten der Ukraine für sehr hoch.
Es mag sein, dass der Kreml Militärkräfte für eine erneute Eskalation zur Verfügung stellt. Das wäre aber nur sinnvoll, um dem Nachbarn das eigene Drohpotential vor Augen zu führen, quasi als Erinnerung daran, dass Russland seine Interessen im laufenden Verhandlungsprozess gewahrt sehen will. Strategisch gesehen ist Mariupol für Russland wertlos, da es von dort keine Eisenbahnverbindung auf die Krim gibt; diese verläuft viel weiter nördlich.
Von Bedeutung ist der Hafen für jene Kräfte in den „Volksrepubliken“, die größere Eigenständigkeit anstreben, aber pragmatisch betrachtet ist auch für sie der Nutzen bislang größer, wenn Mariupol Teil der Ukraine bleibt. Alexander Borodaj, der zeitweilig als Oberhaupt der Donezker „Volksrepublik“ agierte, führt als Grund dafür ökonomische Gesichtspunkte an. Rinat Achmetow, immer noch der reichste Oligarch der Ukraine, unterhält dort nach wie vor Teile seines Imperiums, zahlt den Angestellten Lohn und die aus seinem Vermögen geleistete humanitäre Hilfe bildet die Lebensgrundlage für viele, deren Einkommen kriegsbedingt zum Überleben nicht mehr ausreicht. Für den reibungslosen Export nach Italien benötigt Achmetow ungestörten Zugang zu einem Hafen. Odessa kommt nicht in Frage, da die Region nicht zu seinem Einzugsgebiet gehört. Sollte die Donezker „Volksrepublik“ Mariupol kontrollieren, muss er mit Problemen bei der Einfuhr von Waren in die EU rechnen.
Indessen präsentierte Ilja Jaschin, einer der Vorsitzenden der russischen Oppositionspartei RPR-Parnas, den lang erwarteten Bericht seines Ende Februar ermordeten Parteifreundes Boris Nemzow über Russlands Verantwortung für den Krieg im Osten der Ukraine: „Putin.Krieg“. Der Titel verweist auf die Hauptaussage der 64 Seiten umfassenden Broschüre, den Krieg habe der russische Präsident aus Gründen des Machterhalts angezettelt. Sein politisches Comeback 2012 sei weitaus weniger furios ausgefallen als erwartet, was eine Suche nach „prinzipiell neuen Mitteln zur Festigung der Wählergunst“ veranlasst habe.
In der bislang mit einer Auflage von 2.000 Stück gedruckten Broschüre finden sich im Wesentlichen bereits bekannte Informationen über die Entsendung russischer Truppen und freiwilliger Kämpfer in den Donbass, deren Bezahlung und den Druck auf Angehörige, die im Todesfall finanzielle Entschädigungsleistungen erhielten bei gleichzeitiger schriftlicher Verpflichtung, über den Verbleib der toten Soldaten zu schweigen. Als nächstes wird sich die Staatsanwaltschaft mit diesen Fragen beschäftigen. Eine Aufforderung zur Prüfung der Broschüre wegen vorsätzlich verfälschter Angaben liegt ihr bereits vor.