Ungarn: Illiberal per Gesetz

In Ungarn treibt Viktor Orbán mit neuen Gesetzen den Umbau zur „illiberalen Demokratie“ voran. Proteste gibt es allerdings fast nur gegen das Arbeitszeitgesetz, gegen das im vergangenen Monat Tausende Menschen auf die Straße gegangen sind.

Kritik an der Sozialpolitik, nicht am Ethnonationalismus der Regierung: Demonstration vor dem ungarischen Parlament am 14. Dezember 2018 in Budapest. (Foto: EPA-EFE/Zoltan Balogh Hungary Out)

Es waren die größten Proteste in Ungarn seit Jahren. Tausende demonstrierten im Dezember gegen die von ihren Kritikerinnen und Kritikern als „Sklavengesetz“ bezeichnete Reform des Arbeitsgesetzes. Sie war am 12. Dezember vom ungarischen Parlament mit der Zweidrittelmehrheit der regierenden Parteien verabschiedet worden. Das neue Arbeitszeitgesetz erhöht die Zahl der maximal zulässigen Überstunden von bisher 250 auf 400 pro Jahr und erlaubt es Arbeitgebern, diese erst innerhalb von drei Jahren zu bezahlen. Ministerpräsident Viktor Orbán begründete den Schritt mit dem erhöhten Arbeitskraftbedarf der im Land ansässigen multinationalen Unternehmen.

Da in Ungarn deutsche Unternehmen am stärksten vertreten sind, richteten alte, aus dem Realsozialismus tradierte antikapitalistische Reflexe die kollektive Wut vor allem gegen „das deutsche Kapital“. Manche Oppositionelle machten gar die deutsche Kanzlerin Angela Merkel persönlich für die Reform verantwortlich. Ein Mitglied der parlamentarischen Opposition hielt der Regierung im Parlament ein Transparent entgegen, auf dem stand: „Ihr habt’s den Multis besorgt!“

Der Präsident der Deutsch-Ungarischen Handelskammer dementierte in einer Stellungnahme, dass die deutschen Arbeitgeber in Ungarn noch schlechtere Arbeitsbedingungen gefordert hätten, da die gegenwärtigen Gesetze in Ungarn schon jetzt zu den unternehmerfreundlichsten in der gesamten Europäischen Union gehörten und die Arbeitgeber nicht wollten, dass die Beschäftigten abwandern. Doch blieb dies weitgehend unbeachtet.

Zwar gibt es bei der Stärkung der Arbeitnehmerrechte und der Gewerkschaften in Ungarn dringenden Handlungsbedarf. Der damit einhergehende Demokratieabbau im Zuge von Orbáns Projekt, einer durch völkischen Ethnonationalismus gekennzeichneten „illiberalen Demokratie“, wird weitgehend ignoriert. Das zeigt auch die Tatsache, dass zwei weitere, am selben Tag verabschiedete Gesetze kaum öffentliche Beachtung fanden.

Die Arbeitsgesetze in Ungarn galten schon vor der Reform zu den unternehmerfreundlichsten in der gesamten EU.

Zum einen handelt es sich um das sogenannte Verwaltungsgesetz. Es sieht vor, dass ab 2019 für Verwaltungsangelegenheiten eigene Gerichte etabliert werden, die vollständig von der Regierung und vom Justizminister abhängig sind. In strittigen Fällen, die für die Regierung von Bedeutung sind, werden fortan nur dieser gegenüber loyale Richterinnen und Richter entscheidungsbefugt sein. Damit geht die richterliche Kontrolle über die ungarische Staatsverwaltung verloren, ein weiteres bedeutsames Element des Rechtsstaats wird somit abgebaut.

Während bis jetzt einzelne Bürgerinnen und Bürger bei Klagen gegen die Regierung durchaus Erfolg haben konnten, könne man in Zukunft nicht mehr mit solchen Urteilen rechnen, so die Befürchtung der Menschenrechtsorganisation „Ungarisches Helsinki Komitee“. Es werde künftig für private Kläger sehr schwer werden, sich in aus Sicht des Staats sensiblen Fällen gegen diesen durchzusetzen. Das „Verwaltungsgesetz“ verschärft demnach abermals die bereits ausgeprägte staatlich-juristische Willkür.

Das andere neue Gesetz, das „EU-Wahlgesetz“, gestattet es auch außerhalb der Europäischen Union lebenden ungarischen Staatsbürgerinnen und -bürgern, an den Wahlen zum Europaparlament teilzunehmen. Um die Dimension dieses Entscheids zu verstehen, muss man das seit 2010 geltende Staatsbürgerschaftsgesetz sowie das 2012 wirksam gewordene Grundgesetz miteinbeziehen. Beide gehen auf den Machtantritt der regierenden Partei Fidesz im Jahr 2010 zurück, die gemeinsam mit ihrem Koalitionspartner, der Christlich-Demokratischen Volkspartei (KDNP), über eine Zweidrittelmehrheit im Parlament, die Verfassungsänderungen ermöglicht hat.

Das Staatsbürgerschaftsgesetz von 2010 etwa beruft sich auf das Prinzip der Abstammung, das ius sanguinis. Es integriert die sogenannten Diasporamagyaren, wie sie im ethnonationalen Jargon genannt werden, in die „Volksgemeinschaft“, selbst wenn sie nicht in Ungarn leben.

Grundlage der Staatsideologie Ungarns ist heutzutage der Blut-und-Boden-Mythos. Eine Person, die beispielsweise in den USA lebt und kaum Ungarisch spricht, kann durchaus zur imaginierten kulturellen und „blutmäßigen“ Abstammungsgemeinschaft des Magyarentums gehören. Da die ideologische Grundlage der „Volksgemeinschaft“ eine „Religion des Blutes“ ist, müssen die neuen ungarischen Staatsbürgerinnen und -bürger bei der Verleihung der Staatsbürgerschaft ein Gelöbnis oder einen Eid auf das „nationale Glaubensbekenntnis“ – so der Titel des neuen Grundgesetzes – ablegen.

Seit der Verabschiedung des neuen Staatsbürgerschaftsgesetzes wurde über einer Million Menschen, die sich auf diese Abstammungsgemeinschaft berufen, die ungarische Staatsbürgerschaft verliehen, mit dem erklärten Ziel, das „universelle Magyarentum“ zusammenzuhalten, das dann auch beim Ausbau der Regierungsideologie in Anspruch genommen werden kann.

Der Demokratieabbau in Ungarn wurde bei den Protesten weitgehend ignoriert.

Die Opposition in Ungarn bezeichnet die Regierung indes als korrupt und spricht ihr daher hinsichtlich der von ihr vertretenen Werte jede Glaubwürdigkeit ab. Außer Acht bleibt, dass die Regierung erklärtermaßen illiberal ist, für ein „nationales und weißes Erwachen“ kämpft und sehr konsequent eine antimoderne, demokratiefeindliche Politik betreibt.

Ungarns Regierung will die demokratisch-menschenrechtliche Grundlage der EU in ein konservativ-revolutionäres, männlich-hierarchisch aufgebautes „Europa der Nationen“ umgestalten. Zu diesem Zweck baut sie ein Netzwerk aus, in dem innerhalb Europas und darüber hinaus die „konservativen Revolutionäre“ gegen Vielfalt und die Toleranz zusammenarbeiten. Dafür hat sie innerhalb des Landes bereits den Großteil der Kultur-, Medien- und Bildungslandschaft gleichgeschaltet, die Geschichte umgeschrieben und die Sozialgesetze so geändert, dass diejenigen aus dem sozialen Netz fallen, die die angestrebte „Volksgemeinschaft“ vermeintlich gefährden.

Der nächste Schritt zielt auf die Umgestaltung Europas. Das neue ungarische EU-Wahlrecht ist hierzu ein wichtiges Instrument.

Magdalena Marsovszky arbeitet als Kulturwissenschaftlerin und Publizistin.

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