Bela Winkens wurde 1941 geboren und als Kleinkind in das KZ Theresienstadt deportiert. Von etwa 15.000 dorthin verschleppten Kindern überlebten nur wenige – sie war eines davon. Jahrzehnte später, 1996, beginnt sie, das Grauen in einem Brief an ihre Mutter, die im KZ Auschwitz ermordet wurde, in Worte zu fassen. Mit „Brief an die Mutter“ erscheint nun ein erschütternder Beitrag zur Erinnerungskultur – und eine eindringliche Mahnung, vergangenes Grauen nicht zu vergessen.

Bela mit ihren Adoptiveltern Theo und Else Winkens, geborene Rosenthal. (© Verbrecher Verlag)
Oktober 1996
Liebe M …
Ich kann nicht … Über Jahrzehnte und Dutzende Male schon habe ich versucht, Dir einen Brief – diesen Brief – zu schreiben. Umsonst. Es ging nicht.
Wie soll ich Dich anreden? Mama, Mame, Mutti, Mutter? Ich besitze keine Erinnerung an Dich. Mitleidige Menschen gaben mir dieses Foto. Endlich ein Foto von Dir! Ein Kinderfoto. Etwa 1922. Sechs Jahre alt warst Du damals.
Die drei auf dem Foto scheinen gutgelaunt. Aufgereiht wie die Orgelpfeifen, strecken sie dem Betrachter ihre wohlgenährten Bäuche entgegen.
Eins von diesen drei Kindern auf dem Foto bist also Du. Das älteste. Das andere Mädchen ist Deine Schwester Inge, der Junge Dein Bruder Gerhard. Mutter, Onkel, Tante … Ich habe, Verzeihung, hatte eine Familie. Eine richtige Familie. Eine Familie mit allem Drum und Dran. Eine eigene, intakte, jüdische Familie – mit allem, was dazugehört. Vater, Mutter, Onkel, Tante, Großeltern und so weiter und so weiter. Eine große, eine sehr große Familie. Eine typische, jüdische Großfamilie.
Ich versuche, mich in dieses Foto hineinzuleben. Hineinzulesen. Suche nach Ähnlichkeiten. Ja – die Haarfarbe ist gleich. Sieht zumindest gleich aus. (Es ist ein Schwarz-Weiß-Foto.) Die Augen? Ich weiß nicht. Könnten blau sein. Oder doch eher dunkelbraun wie meine? Das heißt, dunkelbraun ist nicht korrekt. Braun. Braun in allen Schattierungen. Je nach Stimmung und Lichteinfall dunkelbraun bis bernsteinfarben.
Bernsteinfarben! Diese Farbe ist aufgespart für die wenigen hellen Momente in meinem Leben. Sekunden des Glücks – eingeschlossen in Bernstein … Also meist dunkelbraun. Eine dunkle Insel in einem Meer von ungeweinten Tränen.
1922 …
1944 gab es nur noch mich. Und dieses Foto, von dem ich aber noch nichts wusste. Also nur mich.
Glaubst Du mir, wenn ich Dir sage, dass ich Deine Daten kenne? Sogar aus ziemlich zuverlässiger Quelle kenne? Aus dem Bundesarchiv in Koblenz – genauer: aus den Totenlisten des Archivs. Daraus geht hervor, dass Du am 19. Februar 1916 in Berlin geboren wurdest. Wassermann wie ich.
Ich habe vorher nicht gewagt, mein Leben zu erforschen. Ich hatte Angst. Angst, dieses Geschichtsbuch aufzublättern, so wie ich Angst hatte, mich meiner erinnerbaren Erinnerung zu stellen.
Erinnerung: Das sind nicht nur Bilder, Daten, Fakten … Er-innern. Das Innere freilegen. Sich ins Innere schauen lassen. Den Schmerz sichtbar werden lassen.
Phobien, Ängste, Trauer, Tränen. Es sind die ungeweinten Tränen, die so schmerzen. Tränen nicht nur der Vereisung, Erstarrung, Versteinerung von Gefühlen, nein, mehr noch: Tränen über den Verlust.
Die Tränen über den Verlust so Vieler sind immer auch Tränen über mich.
Und Trauer? Ja, Trauer! Trauer darüber, dass die Erinnerung an jene Zeit eine Erinnerung an Schmerz, Wut und Tod war; kaum an glückliche Tage … Du weißt es selbst: Glückliche Tage gab es nicht. Höchstens, allerhöchstens, Momente, Augenblicke des Glücks.
Glück, das vielleicht gipfelte in einem zweiten Stück Brot.
Zachor! Immer wieder Zachor! Erinnere Dich! Ich versuche es … Ich versuche mich zu erinnern. Ich versuche mich zu erinnern, um die Erinnerung an Dich, an all die vielen Toten, nicht verblassen zu lassen. Die Erinnerung an Dich, an Vater, die Großeltern, mein Volk. – Ich erinnere mich, um nicht vergessen zu lassen.

(© Verbrecher Verlag)
Ich trage schwer an der ererbten Trauer
Dem Schmerz – gewachsen in 5000 Jahren
Dem unerfüllten Auftrag Kind zu sein
Den Bergen von verkohlten Leichen
Dem Rauch, der aus dem Schornstein stieg.
Ich trage schwer am Kaddisch zu Kol Nidre
Dem Schweigen – totgestopft in tausend Worte
Der Zeit – gegeben mir als Testament
Den Mauern – die das Weinen bergen
Dem Traum, der aus dem Schlaf mich reißt.
Ich trage schwer am Schatten der Erinnerung
Den Bildern, die in das Bewusstsein drängen
Den Mördern, die sich keiner Schuld bewusst
Dem kalten Stein für 6 Millionen
Dem Trauma – Überlebende zu sein.
Zachor! Wie erinnert man sich ohne erinnerbare Erinnerung? Wie finden, diese Reste der Erinnerung? Mein Erinnern ist wie ein Mosaik, das ich erst zusammensetzen muss. Zusammensetzen aus vielen Einzelteilen, von denen ich nicht weiß, ob sie wirklich zusammenpassen. Zu einem Bild, das ich nicht einmal kenne. Aber: Wo sind sie, diese Bruchstücke der Erinnerung? Wenn ich sie nicht bei den Opfern finde, muss ich sie bei den Tätern suchen. Den Tätern, bekannt für ihre Akribie.
Ja, gründlich sind sie, diese Deutschen. Sogar damals gründlich. Bei Dir in Auschwitz, bei mir in Theresienstadt. Theresienstadt, das schon damals Terezín hieß. Eigentlich Terezín, schon seit langem wieder Terezín. Aber Terezín ist nicht Theresienstadt.
Mir fällt gerade ein: Ich kenne sogar die Daten der Großeltern. Das ist normal, sagst Du. Ja und nein. Aber was ist bei uns schon normal. Was ist im Laufe eines jüdischen Lebens schon normal? Eines jüdischen Lebens in Deutschland. Auch die Großeltern habe ich kennengelernt über die Aktenvermerke und Totenlisten von Koblenz und Arolsen. Du kennst Arolsen nicht? Den Suchdienst des Rotes Kreuzes in Arolsen?
Die Totenlisten. Die Toten. Die Listen der Toten. Um so viel länger als die der Lebenden …
Meine tote Familie. Meine Familie, die, obwohl tot, für mich jetzt erst, nach 50 Jahren erst, lebendig wird. Lebendig aus Akten und Listen, die die Mörder fertigten. Deshalb sind diese Akten auch so glaubwürdig.
Die Mörder
Haben sich
Eingerichtet
Haben
Eine Zukunft
Sich aufgebaut
Die Opfer
Bleiben
In der
Vergangenheit
Pflegen
Ihre Toten
Wo bewahrt Ihr
Eure Erinnerungen
Meine
Sind eingekerkert
In meine Träume …