In „Widerstand hat keine Form, Widerstand ist die Form“ versammelt der Autor, Film- und Theaterregisseur Milo Rau Essays, Reden und Gespräche zur Frage, wie Widerstand in der Kunst in Zeiten von Rechtspopulismus, Kapitalismus und sozialen Krisen wirksam sein kann. Es geht um Literatur und Aktivismus, um Solidarität und Wut, um Herkunft und Heimat, um Melancholie und Freundschaft – bis hin zum Entwurf einer „Gebrauchsästhetik“ im Abdruck des Vortrags „Was ist ein Gebrauchstext? Was ein Gebrauchswerk?“ vom 9. Dezember 2024 an der Akademie der Angewandten Künste in Wien.

Milo Rau ist für seine Arbeit an der Schnittstelle von Kunst und Aktivismus bekannt. Seit 2024 ist er Intendant der Wiener Festwochen. (© IIPM)
Was ist ein Gebrauchstext? Was ein Gebrauchswerk?
Vorbemerkung: Von Bertolt Brechts Herrn Keuner stammt das Zitat, dass er lieber in der Stadt A leben würde (wo er gebraucht wird) als in der Stadt B (wo man ihn liebt). Was aber bedeutet es für die Kunst, »gebraucht« zu werden? Was ist eine »Gebrauchsästhetik«? Was ist ein Gebrauchstext, ein Gebrauchsfilm, ein Gebrauchsbild? Gibt es eine Einbildungskraft, eine Praxis, eine Systematik, eine Ästhetik des Gebrauchtwerdens?
Die Gutenachtgeschichte
Als Herr R. noch nicht Herr R. hieß, weil er ein kleines Kind war, trennten sich seine Eltern. Herr R. wohnte deshalb eine Weile bei seinen Großeltern in einem kleinen, morbiden Fabrikdorf nahe des Bodensees. Während draußen die Züge vorbeifuhren, pflegte R.s Großvater, ein italienischer Einwanderer, der Lehrer geworden war, dem jungen Herrn R. Geschichten vorzulesen. Dabei fiel Herrn R. auf, dass sein Großvater die Geschichten den Umständen anpasste. Regte eine Erzählung den Herrn R. zu sehr auf, so las der Großvater langsamer. Fuhr ein Zug vorbei, so fuhr auf wundersame Weise auch ein Zug durch die Geschichte. Fielen dem Enkel schließlich die Augen zu, so maß der Großvater die Zeit, die er noch las, genau so ab, dass Herr R. in Tiefschlaf war, bevor er das Buch leise zur Seite legte. Herr R. dachte sich also: »Geschichten sind dazu da, um Menschen, die traurig sind, einschlafen zu lassen.«
Der vielfältige Gebrauch
Am nächsten Morgen fragte Herr R. seinen Großvater: »Wurden Geschichten erfunden, um Menschen einschlafen zu lassen?« Der Großvater dachte nach und sagte: »Man kann Geschichten für vielerlei Dinge verwenden, das Einschlafen ist nur eines davon. Man kann durch Geschichten Dinge vor dem Vergessen bewahren. Man kann Menschen zum Lachen bringen. Ich habe mich in deine Großmutter verliebt, weil sie mir Geschichten geschrieben hat. Mein Vater war ein Scherenschleifer, er nutzte Geschichten, um den Menschen Pfannen und Messer zu verkaufen. Einige sagen, man kann mit Geschichten sogar mit den Toten und den Engeln sprechen.« Er nahm ein dickes Buch in die Hand, auf dem ein Holzschnitt abgebildet war, und fuhr fort: »Siehst du dieses Buch? Das ist ein Sagenbuch, es erzählt die Sagen des Bodensees. Weißt du, wer es geschrieben hat?« – »Nein.« – »Ich war das.« Herr R. staunte und sagte: »Warum hast du das gemacht?« Der Großvater dachte nach: »Es gab kein solches Buch. Und ich brauchte eines. Denn in der Schule müssen Sagen vorgelesen werden.« Herr R. zog folgenden Schluss: Eine Geschichte kann vielerlei Anlässe und Formen haben. Aber sie hat immer einen Gebrauch.

(© Verbrecher Verlag)
Das Gedicht
Einmal las der Großvater Herrn R. eine Geschichte vor, deren Bedeutung ihm unverständlich war. Als er nach dem Autor fragte, nannte der Großvater einen Namen. Der Enkel dachte, das müsse der Name der Stadt sein, aus der die Geschichte stammte, aber der Großvater sagte: »Das ist der Name eines Menschen, der vor langer Zeit gelebt hat, noch vor den Gebrüdern Grimm.« »Was ist der Zweck dieser Geschichte?«, fragte Herr R. »Das ist keine Geschichte«, sagte der Großvater, »das ist ein Gedicht.« »Gut«, sagte Herr R., »aber was ist der Zweck dieses Gedichts?« Der Großvater dachte lange nach: »Das kann jeder für sich selbst entscheiden. Was ist dein Zweck?« Herr R. sagte: »Mein Zweck ist, dass wir hier zusammensitzen und reden.« Vierzig Jahre später, als sein Großvater längst gestorben war, erinnerte sich Herr R. an diese Szene. Er sah seinen Großvater leibhaftig vor sich, wie er ihm den Sinn der Dichtung erklärte. An das Gedicht oder den Namen des Dichters konnte er sich aber nicht erinnern.
Die Verteidigung der sandinistischen Revolution
Als er nach Hause zurückkehrte, sah Herr R. seine Mutter und ihren neuen Freund am Küchentisch sitzen und lesen. Der neue Freund, vor dem ein Buch voller Zahlen lag, sagte: »Stör mich nicht. Ich muss meine Prüfungen vorbereiten.« Denn er war Student. Das Buch seiner Mutter trug den Titel: »Die sandinistische Revolution und ihre heldenhafte Verteidigung« Herr R. fragt sie, worum es darin ging. Seine Mutter sagte: »Jede Reaktion hat ihre Gegenreaktion. So hat jede Revolution ihre Gegenrevolution. Dieses Buch handelt davon, wie das Volk von Nicaragua seine Freiheit verteidigt.« Später gingen Herrn R.s Mutter und ihr neuer Freund auf eine Versammlung. Als sie zurückkehrten, hörten sie gemeinsam mit Herrn R. Revolutions-Lieder. Eines beschrieb die Schönheit der Wälder, ein anderes das Zusammenbauen eines Gewehrs. Herr R. dachte: »Texte vertreiben die Traurigkeit und feiern die Schönheit. Sie machen verliebt, verkaufen Messer, helfen beim Bestehen von Prüfungen, setzen Gewehre zusammen und retten die Freiheit. Der Gebrauch von Texten ist grenzenlos.« Herr R. beschloss, Schriftsteller zu werden.
Im Gymnasium
Im Jahr 1989 fiel die Berliner Mauer, die Demokratie triumphierte. Wenige Monate danach wurde Herr R. auf das Gymnasium einer kleinen Stadt in den Voralpen aufgenommen. In der Schule wurden den Lernenden die Texte der klassischen Autoren vorgelegt. Herr R. dachte, er würde nun, da er Molière, Racine, Goethe, Lessing und sogar Camus studieren durfte, alles über den Gebrauch von Texten erfahren. Die Lehrer verteilten zu den Theaterstücken und Novellen, die Kapitel für Kapitel gelesen werden mussten, Frageblätter. Auf diesen stand: »Aus wie vielen Jamben besteht ein Alexandriner?« Oder: »Warum betrachtet Racine die Liebe als Gefahr?« Oder: »Erkläre die Ringparabel.« Herr R. empfand, als er sich über diese Frageblätter beugte, den gleichen Widerwillen, den er von der Physik oder der Geologie gewohnt war. Zusätzlich mischte sich aber jene Verachtung darin, die man für das Gerede von Tagedieben übrighat, die einen mit Verschwörungstheorien belästigen. Denn die Literaturstunden waren nicht nur anstrengend und langweilig. Sie waren auch sinnlos. Die Wahrscheinlichkeitsrechnung oder die Namen der Schweizer Flüsse waren hier und da zu gebrauchen, die Zahl der Jamben oder das Liebesleben einer erfundenen Figur waren es nie. »Seltsam«, dachte Herr R., »wie im Gymnasium das Magische ins Lächerliche verwandelt wird. Das, wovon ich dachte, es würde von allen gebraucht, ist das Nutzloseste.«