Der Sammelband „Klimawandel und Gesellschaftskritik” beleuchtet das Verhältnis zwischen ökologischer Krise und gesellschaftlicher Entwicklung aus kritischer Perspektive. Darin untersucht Alexandra Schauer in ihrem Beitrag „Lokomotiven der Geschichte oder Notbremse? Zum Zeitbewusstsein politischer Bewegungen”, wie sich das Zeit- und Zukunftsbewusstsein politischer Bewegungen gewandelt hat, und eröffnet damit einen geschichtsphilosophischen Blick auf die ökologische Bewegung.

(© Verbrecher Verlag)
»Die Revolutionen sind die Lokomotiven der Geschichte«1 bemerkt Karl Marx in seiner Analyse der Klassenkämpfe in Frankreich zwischen 1848 und 1850. Er verleiht damit einem neuen historischen Selbstverständnis Ausdruck, das so ein Jahrhundert zuvor nicht artikulierbar war. Auf den Begriff gebracht wurde es durch die Idee des Fortschritts, der durch das Handeln der Menschen hervorgebracht werden soll. Fragt man nach der gesellschaftlichen Trägerschicht des neuen Zeitbewusstseins, so geraten zunächst das revolutionäre Bürgertum, sodann die Arbeiterbewegung in den Blick. Beide wollen vorwärts in eine neue Zeit. Auf der Suche nach einem metaphorischen Ausdruck für ihr kollektives Streben in Richtung einer unbekannten, aber hoffnungsvoll erwarteten Zukunft drängte sich ihnen die Lokomotive im langen – von der ökonomisch-politischen Doppelrevolution bis zum I. Weltkrieg reichenden – 19. Jahrhundert2 geradezu auf.
Die »Dampfmaschine und ihre[ ] mechanische[ ] Kombination mit Rädern und Schiffsschrauben«3 verkörperte jene soziale Beschleunigung, die, indem sie eine zuvor weitgehend statische Welt in Bewegung setzte, die Voraussetzung des neuen Geschichtsverständnisses war. Zudem trat an der Herauslösung der Geschwindigkeit aus der zuvor als unüberwindbar geltenden Begrenzung durch die Naturkräfte jene demiurgische Kraft des Menschen hervor, der eine eigene Welt hervorbringen kann, statt der vorgefundenen schlichtweg unterworfen zu sein.
Aufschlussreich an der Metapher ist aber auch, dass von ihr zugleich ein Licht auf die dunklen Seiten der Entwicklung fällt. Wie die für das Funktionieren des neuen Verkehrsmittels notwendige Gleislegung auf eine Zerstörung der natürlichen Umwelt hinauslief, die durch Rodungen skalpiert, durch Tunnel ausgehöhlt und durch Viadukte begradigt werden musste, so stellte die Angst vor dem Betriebsunfall die Kehrseite des modernen Fortschrittsoptimismus dar. In der Moderne wurde auf die Zerstörungskraft des Industriekapitalismus vor allem seitens der Konservativen insistiert, die die durch die Logik von G-W-G‘ entfesselte Dynamik nicht vorantreiben, sondern aufhalten oder verlangsamen wollten. Aber auch Marx wusste um das Gewaltsame kapitalistischer Herrschaft. Nicht ohne Grund sah er nach der politischen Revolution, die vom Bürgertum ins Werk gesetzt wurde, die wahrhaft menschliche als noch ausstehende an.
Es ist das zeitgleiche Anwachsen von Produktivkräften und Destruktions- vermögen, an dem auch Walter Benjamin ansetzt, wenn er fragt, ob »die Revolutionen« nicht »der Griff des in diesem Zuge reisenden Menschengeschlechts nach der Notbremse«4 sind. Historisch geschieht dies in einer Zeit, in der die Materialschlachten des I. Weltkrieges die Zerstörungskraft des Industriekapitalismus eindrücklich vor Augen geführt hatten, während regressive politische Bewegungen überall auf dem Vormarsch waren. »Daß es ›so weiter‹ geht«, stellt für ihn, der sich bei der Niederschrift dieser Zeilen auf der Flucht aus dem nationalsozialistischen Deutschland befand, nicht den Weg in eine bessere Zukunft, sondern »die Katastrophe«5 dar. Ein eindrückliches Bild für diesen katastrophalen Geschichtsverlauf hat er mit seiner IX. Geschichtsthese geschaffen. Sie berichtet vom Engel der Geschichte, der von einem Sturm, der sich in seinen Flügeln verfangen hat, in die Zukunft getragen wird, während er selbst seinen bestürzten Blick in die Vergangenheit richtet, die ihm als ein einziger Trümmerhaufen erscheint.6 Das, was gemeinhin als Fortschritt gilt, ist für Benjamin eine Entwicklung, die auf dem Rücken der Verlierer der Geschichte ausgetragen wird.
Mit dem ökologischen Fußabdruck scheint die Gegenwart ein Maß für jene Verwüstung gefunden zu haben, die der Kapitalismus, dessen Prinzip die »schöpferische[ ] Zerstörung«7 ist, auf seinen weltweiten Siegeszug hinterlässt. Hervorgebracht von der Klimabewegung, der jüngsten Generation der sich seit dem letzten Drittel des 20. Jahrhunderts formierenden Ökologiebewegung, dient er als Recheneinheit zur Sichtbarmachung der Naturvernutzung, derer die Aufrechterhaltung eines bestimmten Lebensstils bedarf. Ist die politische Bewegung, der dieses Maß entstammt, folglich als legitime Erbin des Engels der Geschichte anzusehen? Mit dem Engel der Geschichte teilt die Klimabewegung die Kritik am Fortschritt wie die Wahrnehmung der Geschichte als Katastrophe. Und doch besteht zwischen beiden ein entscheidender Unterschied: Der Blick des Engels ist in die Vergangenheit gerichtet, in der er »verweilen« möchte, um »die Toten [zu] wecken und das Zerschlagene zusammen[zu]fügen«8. Die Klimabewegung wendet ihr erstarrtes Haupt hingegen der Zukunft zu, aus der sie die letzte, alles vernichtende Katastrophe auf sich zukommen sieht.
Mit dieser Zukunftsangst steht die ökologische Bewegung keinesfalls alleine dar. Vielmehr ist diese in einer Zeit, in der sich die Mehrheit der Menschen eher ein katastrophales Ende der Welt, als ein Ende des Kapitalismus vorstellen kann, zu einer allgemeinen Gemütslage geworden.9
1 Marx, Karl, Die Klassenkämpfe in Frankreich 1848 bis 1850, in: ders. / Engels, Friedrich, Marx-Engels-Werke, Bd. 7: August 1849 – Juni 1851, hg. v. Institut für Marxismus-Leninismus beim ZK der SED, Berlin 1969 [1850], S. 85.
2 Vgl. Hobsbawm, Eric J., Das imperiale Zeitalter 1875 – 1914, Frankfurt a. M. 1989 [1987], S. 15.
3 Osterhammel, Jürgen, Die Verwandlung der Welt. Eine Geschichte des 19. Jahrhunderts, München 2011 [2009], S. 126.
4 Benjamin, Walter, Anmerkungen, in: ders., Gesammelte Schriften. Sieben Bände (in 14 Teilbänden), Bd. I.3: Abhandlungen, hg. v. Rolf Tiedemann und Hermann Schweppenhäuser, Frankfurt a. M. 1980, S. 1232.
5 Benjamin, Walter, Das Passagen-Werk, in: ders. Gesammelte Schriften. Sieben Bände (in 14 Teilbänden), Bd. V.1, hg. v. Rolf Tiedemann und Hermann Schweppenhäuser, Frankfurt a. M. 2011 [verfasst 1927 bis 1940], S. 592.
6 Vgl. Benjamin, Walter, Über den Begriff der Geschichte, in: ders., Gesammelte Schriften. Sieben Bände (in 14 Teilbänden), Bd. I.2: Abhandlungen, hg. v. Rolf Tiedemann und Hermann Schweppenhäuser, Frankfurt a. M. 1980 [verfasst 1940], S. 697 f.
7 Schumpeter, Joseph Alois, Kapitalismus, Sozialismus und Demokratie, Tübingen/Basel 1993 [1942], S. 134.
8 Benjamin, Über den Begriff der Geschichte, S. 697. 9 Vgl. Jameson, Fredric, »The Antinomies of Postmodernity«, in : ders., The Cultural Turn. Selected Writings on the Postmodern, 1983 – 1998, London / New York 1998, S. 50.
Auszug aus: Alexandra Schauer. Lokomotiven der Geschichte oder Notbremse? Zum Zeitbewusstsein politischer Bewegungen. Aus Robin Forstenhäusler, Jakob Hoffmann, Helena Post, Jan Rickermann, Ronja Rossman und Christine Zunke (Hg.): Klimawandel und Gesellschaftskritik. Verbrecher Verlag, 2025. 392 Seiten.