Vergessen wir unsere Jüngsten nicht

Babys und Kleinkinder, die seit Wochen nicht mehr in einer Krippe waren, können nicht von heute auf morgen wieder fremdbetreut werden, ohne dass ihre Entwicklung gefährdet ist – so die Warnung der freiberuflichen Pädagogin Julia Strohmer in einem Leser*innenbrief an die woxx.

Quelle: pxfuel.com

Die aktuelle Lage verlangt uns allen viel ab. Der berufliche und private Alltag hat sich stark gewandelt – das macht vor niemandem halt, auch nicht vor unseren Kindern. Wir sind alle in die Pflicht genommen gemeinschaftlich die Ansteckungsrate so niedrig wie möglich zu halten. Nun werden die Maßnahmen festgelegt und verkündet, wie wir aus dieser Ausnahmelage wieder nach und nach zurück in einen Alltag mit mehr Freiheiten finden können – von Normalität möchte ich es an dieser Stelle nicht reden. Nur: Was passiert mit den Kindern? Auch sie sollen wieder in ihren Alltag zurückfinden – die Krippen, Schulen und Maison Relais sperren ab dem 25. Mai wieder ihre Türen auf. Das, was die Kinder dann aber erwarten wird, ist weit weg von dem, was sie bis Mitte März kannten. Zwar sind noch nicht alle Details bekannt, aber das, was von zuständigen Seiten aus publik gemacht wird, lässt den Schluss zu: Normalität sieht anders aus. Bedenkt man, was für Kinder im Umgang mit Gleichaltrigen entscheidend ist, was sie für ihre psychosoziale Entwicklung benötigen, so wird es bei den meisten von ihnen Enttäuschungen geben. Je jünger die Kinder sind, vor allem bei den unter Dreijährigen, desto mehr steht bei ihnen auf dem Spiel, im schlimmsten Fall mit Langzeitfolgen. Auch ältere Kinder können leiden und es als Stress erleben, wenn sie in den Wochen, in denen sie in der „Übungsgruppe“ sind, plötzlich in eine Maison Relais gehen sollen, obwohl sie bisher zu Hause oder bei den Großeltern sein konnten. In diesem Artikel möchte ich aber vor allem die Allerjüngsten in den Blick nehmen. Die, die sich selbst noch gar nicht zu Wort melden können.

Babys und Kleinkinder, die nun seit Wochen nicht mehr in einer Krippe waren, können nicht von heute auf morgen wieder fremdbetreut werden. Noch dramatischer ist die Lage für jene, die in den vergangenen Wochen ihre Eingewöhnungszeit gehabt hätten und nun sicherlich nicht von 0 auf 100 starten können. Kinder, die erst wenige Monate alt sind, haben die Betreuungspersonen der Vor-Corona-Zeit schlicht vergessen. Sie kennen die Situation nicht mehr, dass Mama oder Papa sie dort hin bringen und nach einigen Stunden wieder abholen. Es sind noch keine Details bekannt, wie in Krippen gearbeitet werden kann, wie die Abstandsregeln gelten, ob Masken zu tragen sind, usw. Ich kann nur von dem ausgehen, was für Schulen kommuniziert wurde und das ist schlicht in Krippen (und zum größten Teil auch im Zyklus 1) nicht umsetzbar, ja – ich kann auf theoretischer Basis so weit gehen zu sagen: es würde die Entwicklung unserer Jüngsten gefährden. Gerade die Kinder unter drei Jahren müssen auf Trennungen vom Elternhaus vorbereitet werden, es muss zuerst eine Beziehung zu den Betreuungspersonen aufgebaut werden, bis nach und nach die Trennungszeit von den Eltern verlängert werden kann. Startet ein Kind mit schlechten Trennungserfahrungen, kann das negative Auswirkungen auf kommende Situationen haben: den weiteren Krippenbesuch, den Start in den Kindergarten. Die Vertrauensbasis zu den Eltern steht auf dem Spiel.

Risikogebiet Kinderkrippe

Abstandsregeln sind so oder so nicht einzuhalten: Kinder in dem Alter verstehen sie nicht und sie sind auch viel mehr auf Körperkontakt und direkte Hilfestellungen durch Erwachsene angewiesen. Hier kommen dann die Masken ins Spiel: Babys und Kleinkinder benötigen Mimik, Gestik, Tonlage, also kurz gesagt: den gesamten Körper des Gegenübers, um Sprache zu verstehen und vor allem: um sich und ihre Emotionen und Gefühle regulieren zu können. Fehlt ihnen diese Information, so geraten sie in existenzielle Not. Es gibt genügend Experimente, die zeigen, dass Babys in Panik verfallen, wenn eine Person ihnen nur wenige Minuten mit versteinertem Gesicht gegenübersitzt. Nur die Augen einer Person zu sehen, ist damit vergleichbar. Es fehlt ihnen die emotionale Rückmeldung. Auch für das Verständnis von sprachlichen Informationen benötigen sie mehr wie nur den Ton. Personal mit Masken kann somit weder sprachliche Förderung ermöglichen, noch dem Kind emotionaler Beistand sein – Krippen wären in diesem Szenario ein Risikogebiet und kein Raum der Förderung oder Bildung.

Eltern, sowie auch das pädagogische Fachpersonal benötigen nun eines mehr denn je: Information. Sie benötigen Vorbereitungszeit, und zwar nicht drei oder vier Tage, um Kinder auf diese Lage einstimmen zu können. Idealerweise erhielten Eltern von Kindern unter drei Jahren weiterhin die Möglichkeit des Congé pour raisons familiales, zumindest so lange, bis das entsprechende Kind in eine Betreuungseinrichtung eingewöhnt werden konnte. Vielleicht können so zumindest die längerfristigen Folgen abgemildert werden.


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