Weltraumwürfelabenteuer: Citizen Sleeper

In Citizen Sleeper spielt man einen Roboter, der den Fängen einer grausamen Firma entkommen ist und nun sein Leben in den Schatten einer kapitalistischen Gesellschaft neu beginnen kann.

Unter den Charakteren, denen man in Citizen Sleeper begegnet, ist auch ein Snackautomat mit Bewusstsein. (Illustration: Jump over the Age)

Stellen Sie sich vor, Sie könnten von einer Firma eine größere Geldsumme erhalten, indem Sie eine Kopie ihres Bewusstseins zur Verfügung stellen. Ihr „Geist“ würde digitalisiert und in einen Roboterkörper verpflanzt. Würden Sie das tun? Dem Roboter mit ihrem Bewusstsein und ihren Charakterzügen würden Sie vermutlich nie begegnen, denn die Androiden werden dazu benutzt, auf fernen Asteroiden Erze abzubauen oder gigantische Raumschiffe im lebensfeindlichen Vakuum des Weltalls zusammenzubauen. Klingt doch ganz gut, oder?

Blöd nur, wenn man selbst so ein Roboter, „Sleeper“ genannt, ist und nicht sein ganzes Leben lang als Sklave auf einem Frachter für die Essen-Arp Corporation arbeiten möchte. So geht es dem Hauptcharakter von Citizen Sleeper, der von allen einfach nur Sleeper genannt wird. Er hat es mit mehr Glück als Verstand geschafft, Essen-Arp zu entkommen und auf einer unabhängigen Raumstation, genannt das „Eye“, zu landen. Die Station ist heruntergekommen, nachdem die Firma, der sie gehörte, bankrott ging.

Woher nehmen, wenn nicht stehlen?

Fortan muss Sleeper für seine Freiheit, vor allem aber um sein Überleben kämpfen. Essen-Arp ist nicht gerade glücklich darüber, dass sich ihr Eigentum sozusagen selbst gestohlen hat. Aber in die synthetischen Körper der Sleeper ist eine Art Diebstahlsicherung eingebaut: Sie benötigen regelmäßig ein Medikament, ohne das ihre Körper aufhören zu funktionieren. Je mehr Tage ohne eine Injektion vergehen, umso weniger Aktionen kann der Sleeper ausführen. Auf der Station Eye, fernab von Essen-Arp, ist diese Substanz nur schwer zu bekommen und kostspielig.

Außerdem muss man irgendwo schlafen und etwas essen. Dragos, der einen Schrotthandel auf dem Eye betreibt, stellt dem Sleeper anfangs einen ausrangierten Transportcontainer als Unterkunft zur Verfügung, aber eine dauerhafte Lösung ist das nicht. Zum Glück gibt es auf dem Eye einige Möglichkeiten, Geld zu verdienen – doch auch viele verschiedene Gruppen, die sich nicht riechen können. Wem kann der Sleeper vertrauen? Wie soll er sich in den Konflikten dieser fremden Welt positionieren?

Neben Havenage, einer Organisation, die aus einer Gewerkschaft der Dockarbeiter*innen entstanden ist und sich um das Funktionieren der Station kümmert, gibt es noch einige andere Fraktionen, mit denen sich der Sleeper anfreunden kann. Die Yatagan beherrschen als eine Art Gang einen großen Wohnblock auf der Station und stellen auch die einzige Ärztin, die dem Sleeper sein benötigtes Medikament besorgen kann. Die große Biosphäre, in der Pilze und Algen angebaut werden, wird von einer anarchistischen Kommune namens Hypha bewohnt und kontrolliert.

Sleeper versucht nun also, sich auf dem Eye zurechtzufinden und seinen Lebensunterhalt zu bestreiten. Neben der Arbeit auf Dragos’ Schrottplatz bieten sich verschiedenste Aufgaben an: Schichten in einer Bar, Kontrollgänge für die Yatagan, Ausladen von Raumschiffen. An schlecht bezahlten, gefährlichen und anstrengenden Jobs mangelt es auf der Raumstation nicht. Die zentrale Spielmechanik funktioniert mit Würfeln, die am Anfang des Tages geworfen werfen. Je nachdem, wie gut der eigene Körper in Schuss ist, erhält man zwischen einem und fünf. Sie können für verschiedenste Tätigkeiten eingesetzt werden. Die gewürfelte Augenzahl ist bereits bekannt, sodass die Spieler*innen das Risiko, das sie eingehen, vorab einschätzen können. Die Fähigkeiten des Sleepers, die man im Laufe des Spiels ausbauen kann, geben Boni auf das Ergebnis. Das ähnelt sehr stark dem Erlebnis eines analogen Pen-and-Paper-Rollenspiels wie etwa Dungeons and Dragons – nur, dass man dort die Würfelergebnisse nicht bereits kennt.

Auch eine andere Spielmechanik ist an Pen-and-Paper-Rollenspiele angelehnt: die Uhren. Segmentierte Kreise zeigen an, wann ein Ergebnis eintreten wird. Manche füllen sich einfach dadurch auf, dass Tage vergehen, für andere muss der*die Spieler*in etwas tun, beispielsweise Aktionen erledigen oder Gegenstände sammeln. Es gibt Uhren mit positivem Ergebnis und solche, deren Ablauf ein negatives Ereignis nach sich ziehen – manchmal findet man sich in einem Wettlauf gegen die Zeit wieder, manchmal kann eine riskante Aktion Segmente in einer negativen Uhr füllen. Dieses Prinzip wurde mehr oder weniger aus dem Rollenspiel „Blades in the Dark“ übernommen worden. Erstaunlicherweise funktioniert es auch im Videospiel sehr gut. Gerade die negativen Uhren, in denen sich an jedem Tag ein rotes Segment fühlt, sind ein einfaches, aber sehr effektives Werkzeug, das den Spieler*innen vermittelt, dass sie sich beeilen müssen, um mit heiler Haut aus einer Situation herauszukommen.

Wettlauf gegen die Zeit

Von den Charakteren, denen man in Citizen Sleeper begegnet, sind die allerwenigsten explizit als Wider-sacher*innen markiert. Alle haben ihre eigenen Motive und ihre persönliche Geschichte. Es gibt mehrere Momente, in denen man von einer Person, die sich anfangs rührend um den Sleeper gekümmert hat, enttäuscht wird. Oder im Gegenteil positiv überrascht von anderen Menschen, die einem anfangs eher suspekt erschienen. Genau hier liegt die Stärke des Spiels: Die Geschichte dreht sich nicht um einen großen Kampf von Gut gegen Böse, sondern um das schiere Überleben einfacher Menschen im überspäten Kapitalismus.

Die Spielmechanik simuliert dabei das Leben moderner Plattform-arbeiter*innen, die etwa auf Fahrrädern Essensbestellungen ausliefern oder für den Konzern Uber Taxi fahren. Kein stetes, gesichertes Einkommen, ständig droht Unheil wie Obdachlosigkeit, Hunger sowie fehlender Sozialversicherung – und immer auch auf Glück angewiesen, um sich die eigene Existenz leisten zu können. Die bedrohlichen Countdowns im Spiel verdeutlichen dies. Sie bedeuten, dass man harte Entscheidungen treffen muss. Kann ich noch einen Tag ohne Essen auskommen und mir dafür das dringend benötige Medikament leisten? Kann ich es mir leisten, einen Würfel für eine nette Geste zu opfern, oder ist es besser, jede verfügbare Zeit in die Arbeit zu stecken?

Man würde meinen, das Gameplay, das in „Runden“ – vielmehr Tagen – abläuft, führe zu dem üblichen „Nur noch eine Runde“-Gefühl, das dazu verleitet, viel mehr Zeit mit dem Spiel zu verbringen, als man eigentlich wollte. Citizen Sleeper löst eher das Gegenteil aus: Man überlegt sich viel genauer, welche Würfel in welche Aufgaben gesteckt werden, wie lange man die Zeit bis zur nächsten Medikamenteneinnahme strecken kann. Die begrenzte Spielzeit wirkt so kostbar, so voller kleiner Geschichten, die es zu entdecken gilt, dass man jede einzelne Runde so sehr wie möglich genießen will.

Dystopie-Simulator

Visuell überzeugt Citizen Sleeper mit einem klaren Interface, das auch mit einem Controller einfach zu bedienen ist. Die Raumstation ist nicht sehr detailliert dargestellt, dafür gibt es Zeichnungen der Nichtspielercharaktere im Manga-Stil, die eine wahre Augenweide sind. Überhaupt sind die vielen Interaktionen mit den Charakteren das, was dem Spiel Leben einhaucht und den Spieler*innen das Gefühl gibt, in eine unbekannte, futuristische Welt einzutauchen. Die ist zwar immer von der kalten Härte des kapitalistischen Überlebenskampfes gezeichnet, zeigt aber genauso oft Alternativen auf: Wenn Menschen zusammenhalten und zusammen dafür kämpfen, kann auch die Übermacht des größten Konzerns gebrochen werden – zumindest auf der Exklave einer alten, verfallenen Raumstation.

Neben der Hauptgeschichte hat Gareth Damian Martin, Entwickler*in von Citizen Sleeper, bereits zwei kleinere Add-ons veröffentlicht, in denen die Geschichte um Sleeper und das Eye erweitert wird. Wie bereits mit In Other Waters zeigt Martin auch hier, wie gut er*sie Geschichten mit Spielmechaniken verknüpfen und stimmungsvolle Erlebnisse erschaffen kann.

Für Windows, Mac, Xbox und Nintendo Switch, ca. 17 Euro.

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