PALLIATIVPFLEGE: „Es fehlt an einer Gesamtvision“

„Omega 90“, ein Luxemburger Dachverband, der sich der Förderung der Palliativpflege verschrieben hat, feiert sein 25jähriges Bestehen. Im Interview mit der woxx äußert sich sein Direktor, Henri Grün, zu Fortschritten und Vorbehalten.

Henri Grün, geboren 1952, ist seit Januar 2011 Direktor von Omega 90.

woxx: Was hat Omega 90 seit seiner Gründung vor 25 Jahren konkret erreicht? Warum ist Ihr Verein notwendig?

Henri Grün: Bei der Gründung von Omega 90 war die Palliativ-Bewegung in Luxemburg noch in den Anfängen und hatte sich gerade erst konstituiert. Nämlich in Form dieser Vereinigung. Damals bestand sie aus Caritas, Croix Rouge und Amiperas, drei Trägern, die sich mit Unterstützung des Familienministeriums zusammengefunden hatten – mit dem Ziel, den Palliativgedanken, die Palliativkultur in Luxemburg zu verbreiten, aber auch ganz konkrete Projekte in Angriff zu nehmen. Omega selbst hatte sich ebenfalls die Förderung der Palliativkultur hier in Luxemburg und die Sensibilisierung für sie zum Ziel gesetzt. Und das ist im Laufe der Jahre durch verschiedene Dienste erreicht worden. Der erste war die Einrichtung des Benevolats, also des Ehrenamts. Mittlerweile haben wir fast 60 solcher Mitarbeiter, die regelmäßig in Kliniken, Alters- und Pflegeheimen intervenieren und Menschen begleiten, die am Lebensende sind. Dann haben wir psychologische Beratungsdienste für Menschen in Trauer. Außerdem einen Service, bei dem wir hauptsächlich Fachleute aus dem Pflege- und dem medizinischen Bereich in Palliativpflege fortbilden. Und es gibt Haus Omega – das ist ein Zentrum für Palliativpflege für Menschen in ihrer letzten Lebensphase mit einer begrenzten Lebenserwartung. Wichtig ist auch noch, dass 2001 drei Träger dazukamen: „Stëftung Hëllef Doheem“, „Doheem Versuergt“ und „Fondation Cancer“.

„Es ist sehr viel passiert in den letzten 25 Jahren. Das ist nicht mehr zu vergleichen – wie man damals mit dem Lebensende umgegangen ist und wie man es heute tut.“

Wie weit ist es in den letzten Jahren gelungen, die Palliativmedizin in Krankenhäusern und in der Ärzteschaft zu verankern?

Mittlerweile hat sich das weit verbreitet, und ich glaube, dass Omega doch auch einen Beitrag dazu geleistet hat, den Gedanken der Palliativmedizin bekannt zu machen. Im Spitalplan ist vorgesehen, dass jede Klinik Palliativbetten bereithält, auch gibt es seitens des Familienministeriums die Regelung, dass in den Pflegeheimen und den Hausdiensten eine bestimmte Quote von Mitarbeitern eingehalten werden muss, die in Palliativpflege ausgebildet sind. Die Träger haben auch eigene Initiativen entwickelt. Es ist sehr viel passiert in den letzten 25 Jahren. Das ist nicht mehr zu vergleichen – wie man damals mit dem Lebensende umgegangen ist und wie man es heute tut.

Hat sich mit dem Gesetz zur Palliativpflege von 2009 (siehe woxx 1209)konkret etwas verändert? Hat die gesetzliche Verankerung entscheidend dazu beigetragen, die Situation von Schwerkranken zu verbessern?

Ich glaube, es ist mehr eine Verbindlichkeit eingetreten. Weil jeder nun das Recht auf Palliativpflege hat – das natürlich nur eingelöst werden kann, wenn die nötigen Infrastrukturen vorhanden sind. Ich meine, es ist auch eine Aufforderung an die Politik, Entsprechendes umzusetzen. Das Gesetz war eine politische Willenserklärung. Ich meine schon, dass es etwas verändert hat, denn die Politik ist nun in der Pflicht, das umzusetzen.

Aber sind geriatrische Strukturen nicht generell noch unzureichend ausgebaut hier in Luxemburg. In Spitälern, in Pflegeheimen und auch in Strafanstalten?

In Strafanstalten kenne ich die Situation nicht genügend, aber ich denke, dass im Bereich der Geriatrie und der palliativen Geriatrie noch viel zu tun ist. Es gibt ungefähr 50 Alters- und Pflegeheime hier in Luxemburg, und da wird unterschiedlich viel gemacht. Die Situation ist nicht einheitlich. Wichtig wäre es bei der Vielzahl an Initiativen, die Steuerung zu verbessern. Notwendig wäre auch ein nationaler Plan für Palliativpflege nach dem Vorbild anderer europäischer Länder. Das heißt, die Politik müsste eigentlich die Ziele konkret definieren. Wo wollen wir in fünf Jahren stehen? Welchen Zustand haben wir jetzt, und welchen wollen wir erreichen? Welche Mittel brauchen wir dazu? Wer soll das Ganze umsetzen? Welche Indikatoren brauchen wir? Welche Qualitätsnormen im Bereich Palliativpflege? All das fehlt zum großen Teil. Es gibt viele Angebote, aber es wird noch zu wenig koordiniert. Die Ziele sind nicht festgelegt. Es fehlt eigentlich eine Gesamtvision davon, wo wir mit der Palliativpflege hinwollen. Das Gesetz ist zunächst eine Absichtserklärung, aber nun muss Weiteres folgen.

Über Palliativmedizin wird in den Medien in den letzten Jahren stärker berichtet, und kaum jemand wird ihren Nutzen prinzipiell bestreiten. Wo liegen die Barrieren im medizinischen System, die ihrem breiteren Einsatz entgegenstehen?

Ich denke, dass es viel mit der Ausbildung im medizinischen und pflegerischen Bereich zu tun hat. In Europa gibt es, soweit ich weiß, ja nur in Deutschland mittlerweile Palliativmedizin auf dem Lehrplan der Medizinstudenten. Es ist einfach so, dass der Palliativansatz in der Medizin ganz anders ist als der vorherrschende Trend, der in Richtung High-Tech geht, also der Verlängerung des Lebens um jeden Preis. Tod erscheint als Versagen der Medizin. Diese Hightech-Richtung der Medizin hat eine ganz eigene Herangehensweise. Sie sieht auch eher die Krankheit als den Kranken. Sie sieht nicht unbedingt den Menschen und wie es ihm mit seiner Krankheit geht. Das sind zwei sehr verschiedene Sichtweisen – dabei könnten sie durchaus komplementär sein. Nichts gegen High-Tech-Medizin als solche, aber ob sie angemessen ist, hängt vom Einzelfall ab, denn sie macht nicht immer Sinn. Die Palliativmedizin hat eigentlich eine ganzheitliche Sicht, weil sie auch emotionale, soziale und spirituelle Bedürfnisse berücksichtigt, die eben für kranke Menschen wichtig sind. Insofern kann auch die Schulmedizin von der Palliativmedizin profitieren, weil sie ihre Einstellung erweitern kann. Ich würde sagen, dass sie menschlicher ist.

Früher gab es starke Vorbehalte gegen den Einsatz von stärkeren Schmerzmitteln wie z.B. Opiaten. Heute wird darüber gesprochen, Cannabis für medizinische Anwendungen zu legalisieren. Hat sich der Umgang mit solchen auch betäubenden, sedierenden Stoffen verändert? Oder die Auffassung dazu – auch in der Ärzteschaft?

Ja, ganz sicher gibt es heute weniger Vorbehalte gegen das Verschreiben von Opiaten. Soweit ich das beurteilen kann, hat sich das sehr geändert. Ich glaube, in Deutschland ist es wegen der Angst vor Abhängigkeit noch restriktiver. Aber eigentlich gibt es keine Argumente dafür, bei diesen Menschen den Einsatz von Opiaten einzuschränken.

„Es fehlt eigentlich eine Gesamtvision davon, wo wir mit der Palliativpflege hinwollen. Das Gesetz ist zunächst eine Absichtserklärung, aber nun muss Weiteres folgen.“

In Deutschland nehmen VertreterInnen der Palliativmedizin gegenüber der Sterbehilfe eine sehr skeptische Haltung ein und betonen, dass bei guter Palliativversorgung nahezu alle PatentInnen ihren Sterbewunsch aufgeben. Ist das auch ihre Erfahrung?

Wir haben hier bei Omega die Erfahrung gemacht, dass die Menschen, die eine antizipierte Euthanasie*-Anfrage („Bestimmungen zum Lebensende“) gestellt haben, nicht zwangsläufig auch Sterbehilfe in Anspruch nehmen. Wir nehmen Menschen, die eine solche antizipierte Euthanasianfrage unterschrieben haben, auch im Haus Omega auf, aber nicht, wenn sie nur kommen, um sofort Sterbehilfe in Anspruch zu nehmen. Das machen wir nicht, weil wir ein Zentrum für Palliativpflege sind. Wir sagen den Menschen, dass wir ihnen die bestmögliche Pflege geben, und meistens verändert sich dann die Dynamik. Viele Menschen denken an Euthanasie, weil sie Angst haben, beim Sterben zu sehr zu leiden oder allein zu sein. Wir haben alle Angst vor dem Tod und davor, zu leiden. Menschen suchen dann eine Hintertür, was verständlich ist. In der Palliativpflege haben wir die Möglichkeit der Sedierung mit starken Schmerzmitteln. Und Menschen leiden am Lebensende ja möglicherweise noch an anderem: Familienangelegenheiten, die noch zu erledigen sind, Dinge, die noch gesagt werden wollen, spirituelle Fragen usw. Und darauf gehen wir ein. Und in den meisten Fällen genügt das, aber eben nicht in allen. Und es gibt ja in der Gesellschaft eine Tendenz, die es als Ausdruck von Autonomie sieht, wenn man sagen kann, ich möchte sterben, wann ich will. Das sind ganz individuelle Entscheidungen, die wir respektieren.

Das heißt, Sie würden tendenziell auch Sterbehilfe befürworten – sozusagen als letzten Akt der Selbstbestimmung?

Es war immer ein Anliegen von Omega, nicht an eine bestimmte Ideologie oder Religion gebunden zu sein, sondern eine pluralistische Auffassung zu vertreten. Das ist heute noch so. Daher auch die Träger, die verschiedene Weltanschauungen mitbringen, aber sich bei Omega zusammenfinden, um den Palliativgedanken zu unterstützen. Deshalb bezieht Omega auch keine Stellung zu dem leider oft allzu kontrovers diskutierten Thema „Palliativpflege und Euthanasie“. Wir vertreten die Auffassung, dass jeder Träger von Omega seine eigene Einstellung dazu haben kann. In Luxemburg ist die Zahl derjenigen, die durch Euthanasie sterben, doch noch sehr gering. Um es ins Verhältnis zu setzen: In Luxemburg sterben etwa 3.700 Menschen im Jahr, davon 200 bis 300 eines unnatürlichen Todes, und nur fünf oder sechs pro Jahr, durch Euthanasie. Das sind etwa 0,2 Prozent. Die anderen brauchen ja im Grunde Palliativpflege in unterschiedlicher Intensität. Deswegen steht das Ausmaß der Diskussion im Vergleich zur Quantität in keinem Verhältnis. Das eine ist eigentlich eine gesellschaftlich-ideologische Diskussion über Werte. Aber in der Praxis geht es darum, den Menschen zu helfen. Im übrigen handelt es sich hier um letzte Entscheidungen, die eigentlich nur von den Betroffenen wirklich beurteilt werden können: dem Patienten, seiner Familie, dem Arzt und den Pflegenden. Das sollten wir respektieren.

*Anmerkung der Autorin: Der Begriff „Euthanasie“ (griechisch: „schöner Tod“) ist in Deutschland stark durch die „Rassenhygiene“-Morde der Nationalsozialisten geprägt. Es handelt sich um einen Euphemismus, der den Massenmord im NS an behinderten Menschen, der Vernichtung so genannten „lebensunwerten Lebens“ nach außen tarnen und ideologisch rechtfertigen sollte. Die aktuelle Debatte wird in Deutschland deswegen unter dem Begriff „Sterbehilfe“ geführt.

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Omega 90 ist eine Vereinigung ohne Gewinnzweck, gegründet im Jahr 1990 und vom luxemburgischen Staat als gemeinnützig anerkannt. Die Vereinigung will Initiativen fördern, um Menschen zu begleiten, die an schweren Krankheiten leiden oder sich in ihrer letzten Lebensphase befinden sowie deren Angehörige. Auch Menschen in Trauer gehören zur Zielgruppe. In einer erweiterten Perspektive hat Omega 90 das Ziel, eine Kultur des Lebens zu fördern, die die Realität des Todes miteinschließt. 


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