UKRAINE: Von der Parade an die Front

Zum ukrainischen Unabhängigkeitstag propagierte Präsident Petro Poroschenko einen inklusiven Nationalismus, der faschistische und antifaschistische Tradition zusammenführt. Die politischen Probleme des oligarchischen Systems bleiben ungelöst.

Wer eine Nation sein will, muss auf dicke Hose machen: Militärparade am diesjährigen ukrainischen Unabhängigkeitstag in Kiew. (Foto: Flickr)

Der 24. August stand auf dem Kreschatyk, Kiews realsozialistisch-klassizistischer Prachtstraße, ganz im Zeichen des ukrainischen Nationalbewusstseins. Zehntausende Kiewer, viele davon in ukrainische Trachten oder blau-gelbe Kleider gehüllt, jubelten der ersten Militärparade seit fünf Jahren anlässlich des ukrainischen Unabhängigkeitstages, der an den Austritt des Landes aus der Sowjetunion 1991 erinnert, zu. Wenig war zu spüren von der in den Wochen zuvor von Journalisten und politischen Aktivisten geäußerten Kritik, dass in Zeiten des Krieges eine Parade nicht angemessen sei, dass Soldaten und militärisches Gerät an der Front und nicht auf den Straßen Kiews gebraucht werden.

Nur vereinzelt waren Symbole und Fahnen der extremen Rechten zu sehen. Doch das bedeutet nicht, dass deren Einfluss vernachlässigbar wäre. In seiner Rede zum Unabhängigkeitstag erklärte Präsident Petro Poroschenko, bezugnehmend auf die bewaffneten Auseinandersetzungen im Osten des Landes: „Unsere Armee, die Nationalgarde, der Grenzschutz und die Freiwilligenbataillone haben das Erbe der Krieger der altukrainischen Fürsten, der Saporoscher Kosaken, der Ukrainischen Sitschower Schützen (einer Einheit im Ersten Weltkrieg), der Armee der Ukrainischen Volksrepublik (von 1917 bis 1920), der Ukrainischen Aufstandsarmee und der Ukrainer, die die Ukraine im Zweiten Weltkrieg in den Reihen der Roten Armee verteidigten, angetreten.“

Die Einreihung sowohl der ukrainischen Soldaten der Roten Armee als auch der Kämpfer der faschistischen Ukrainischen Aufstandsarmee (UPA) in die Traditionslinie der im Donbass kämpfenden ukrainischen Truppen erinnert an die Politik des nationalistischen kroatischen Präsidenten Franjo Tudjman in den Neunzigerjahren, dessen Geschichtspolitik ebenfalls von dem Bemühen geprägt war, Partisanen und Ustaschas als Kämpfer für die kroatische Sache zu „versöhnen“. Neben dem zu erwartenden Bezug auf ukrainische Nationalisten fällt auf, dass auch die ukrainische Regierung sich in ihrer Kriegspropaganda bemüht, an den „Großen Vaterländischen Krieg“ anzuknüpfen. So erklärte Poroschenko, dass die Panzer von der Parade direkt an die Front weiterrollen würden und rief so die Erinnerung an die Parade zum Jahrestag der Oktoberrevolution im November 1941 wach, als die Truppen tatsächlich von der Parade direkt an die Front vor der bedrohten sowjetischen Hauptstadt weitermarschierten.

Das Verhältnis zwischen der Regierung und der extremen Rechten ist längst nicht mehr so gut, wie es den Anschein haben mag.

Das Verhältnis zwischen der Regierung und der extremen Rechten indes ist längst nicht mehr so gut, wie es den Anschein hat. Mitte August drohte der „Rechte Sektor“ nach einer Verhaftung von Mitgliedern, die offensichtlich versucht hatten, Kriegswaffen von der Front in dessen Hochburgen in der Westukraine zu transportieren, seine Einheiten von der Front abzuziehen und auf Kiew marschieren zu lassen. Neben der Freilassung der Inhaftierten forderte die Organisation erfolgreich die Entlassung des stellvertretenden Innenministers Wladimir Jewdokimow, dem die Rechten vorwerfen, gegen die nationalen Interessen der Ukraine zu handeln und mit dem alten Machtapparat verbunden zu sein.

Die Säuberung des Staatsapparates von Angehörigen des Sicherheitsapparates der Janukowitsch-Ära, vor allem aber von korrupten Beamten und Politikern ist nicht nur eine Forderung der extremen Rechten. „Lustration“ ist eine der zentralen Forderungen, die derzeit von den Aktivisten der Euromaidan-Bewegung erhoben werden. Unter Lustration versteht man in der Regel die Überprüfung von Beamten und Politikern der ehemals realsozialistischen Länder auf ihre Verstrickung in die Herrschaftsausübung vor 1990 und ihren Ausschluss von politischen und öffentlichen Ämtern.

Die Forderung nach radikalen personellen Veränderungen im Staatsapparat nimmt auch die Erfahrung der georgischen „Rosenrevolution“ auf, der einzigen erfolgreichen „farbigen Revolution“ in einer ehemaligen Sowjetrepublik. Dem aus der „Rosenrevolution“ hervorgegangen Regime der Vereinigten Nationalen Bewegung unter Michail Saakaschwili gelang es tatsächlich, durch radikale Maßnahmen wie die Entlassung sämtlicher Beamter der für ihre Korruptheit berüchtigten Verkehrspolizei politische Legitimität für die neue Regierung zu generieren und die Korruption auf den unteren Ebenen der Verwaltung auszurotten. Deshalb beraten auch georgische Experten die ukrainische Regierung bei ihren Reformvorhaben.

Begleitet von Demonstrationen von Maidan-Aktivisten, die symbolische Barrikaden errichteten und die Lustration als nächste Etappe der politischen Umwälzung in der Ukraine bezeichneten, beschloss das Parlament mit 252 von 450 Stimmen am 14. August in erster Lesung den Entwurf eines Lustrationsgesetzes. Neben Personen, die an Repressionen gegen die Protestierenden auf dem Maidan beteiligt waren, Mitgliedern des Regierungsapparates, die während der Zeit der Proteste ihren Posten nicht freiwillig verlassen haben, Unterstützern der Separatisten im Osten der Ukraine, korrupten Beamten sowie Funktionären der KP und des sowjetischen Sicherheitsapparates vor 1991 sollen auch „Personen, eingebunden in die Organisation der politischen Verfolgung von Mitgliedern der ukrainischen nationalen Befreiungsbewegung während des Zweiten Weltkrieges und der Nachkriegsperiode“ für zehn Jahre das Recht verlieren, öffentliche Ämter zu bekleiden. Da es kaum noch politisch aktive auf sowjetischer Seite am Kampf gegen die ukrainischen Nationalisten Beteiligte geben dürfte, handelt es sich hierbei um ein symbolisches Statement. Der Kampf der UPA, der tatsächlich vor allem im Massenmord an Polen, Juden und Kommunisten bestand, wird so auf eine Ebene mit den Protesten zum Jahreswechsel 2013/2014 gehoben.

Neben der Lustration des Beamtenapparats sollen die für den 26. Oktober angesetzten Parlamentswahlen Teil eines institutionellen Neuanfangs des ukrainischen Staates sein. „Neuwahlen sind die beste Form der Lustration“, sagte Poroschenko, als er am Montag voriger Woche die Auflösung des Parlamentes und den Termin von Neuwahlen verkündete. „Das gegenwärtige Parlament unterstützte das Janukowitsch-Regime mehr als anderthalb Jahre lang. Die meisten dieser Abgeordneten stimmten diktatorischen Gesetzen zu, die hunderte Leben kosteten. Sie müssen dafür politisch und strafrechtlich verantwortlich gemacht werden. Ist es möglich, den Krieg zu gewinnen, wenn nur 232 Abgeordnete der Erklärung der Donetzker und der Lugansker Volksrepublik zu terroristischen Organisationen zustimmen?“

Hier wird deutlich, dass Poroschenko sich, wenn er die Neuwahlen als Teil seines Friedensplanes bezeichnet, darauf bezieht, dass ein neugewähltes Parlament eine bessere Ausgangslage für einen militärischen Sieg über die Separatisten herstellt. Für die Auseinandersetzungen im Osten des Landes mag eine konsolidierte Machtbasis der Regierung im Parlament tatsächlich einen Gewinn an Legitimität bedeuten. Ob die Neuwahlen und der Austausch von Beamten tatsächlich zu einem rechtsstaatlichen und weniger korrupten Staatswesen führen, erscheint fraglich. Die politischen und sozioökonomischen Bedingungen, die dazu geführt haben, dass die ukrainischen staatlichen Institutionen notorisch korrupt sind, dass Parlamentsabgeordnete eher individuelle Interessen beziehungsweise jene der sie alimentierenden Oligarchen vertreten als die von politischen Parteien und ihren Wählern, existieren weiterhin. Die ökonomische und politische Macht der Oligarchen ist immer noch ungebrochen. Solange sich dies nicht ändert, ist zweifelhaft, ob mit Lustration und Neuwahlen die angestrebten Veränderungen erreicht werden können.

Peter Korig ist freier Autor und berichtet aus Kiew.


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