Haftanstalten in Ecuador: Drehscheiben der Gewalt

Binnen sieben Jahren ist Ecuador zu einem der unsichersten Länder Lateinamerikas mutiert, obwohl es lange Zeit als Insel des Friedens galt. Grund dafür ist unter anderem, dass die organisierten Drogenbanden die Strafanstalten des Landes kontrollieren – wie früher auch in Kolumbien der Fall.

Vom Kriegsschauplatz zum Knast mit Modellcharakter: In der einst berüchtigten Haftanstalt „La Modelo“ in der kolumbianischen Hauptstadt Bogotá gibt es mittlerweile fünf Resozialisierungsprogramme. Unser Bild zeigt Häftlinge beim Fußballspiel. (Foto: Knut Henkel)

Der Malecón von Guayaquil ist verwaist. Es ist Mittagszeit und nur ein paar Angestellte aus den umliegenden Büros sind zum Mittagessen oder auf einen schnellen Kaffee an der Promenade von Ecuadors größter Stadt unterwegs. Darunter auch Juan Acosta, Anwalt für Arbeitsrecht bei der Gewerkschaft der Bananen-, Landwirtschaftsarbeiter und Kleinbauern (ASTAC). „Nur ein paar Steinwürfe von unserem Büro entfernt, ist Staatsanwalt Édgar Escobar im September 2022 von Killern vor dem Gebäude der Staatsanwaltschaft ermordet worden – auf offener Straße, am helllichten Tag niedergeschossen“, sagt der 34-jährige Jurist.

„So etwas wäre noch vor ein paar Jahren undenkbar gewesen“, ordnet er die Tat ein. Im Vergleich zu den Nachbarländern Kolumbien und Peru galt Ecuador lange Zeit als eine Art friedliche Insel. „Heute“, so Acosta, „gehören wir zu den gefährlichsten Ländern der Region.“

Das ist seit dem Mord an Fernando Villavicencio, dem am 9. August von einem Killerkommando förmlich hingerichteten Präsidentschaftskandidaten, auch international zur Kenntnis genommen worden. Seitdem ist klar, dass Ecuador seinen Charme als friedliches Urlaubsparadies verloren hat und mit Einbußen bei den Urlauberzahlen rechnen muss.

Guayaquil, die Handelsdrehscheibe mit dem großen Pazifikhafen, bekommt das bereits zu spüren. Die mondäne Uferpromenade, der Malecón, ist verwaist, obwohl sowohl private Wachschützer als auch Polizei in Uniform patrouillieren. „Die Perspektiven sind düster“, meint Acosta und erwähnt auch die Morde, die im Gefängnis begangen werden und immer wieder für Schlagzeilen sorgen. Mehr als 450 Menschen wurden in den letzten 24 Monaten hinter Gittern regelrecht massakriert – bei Aufständen, Massakern und gezielten Morden in den 36 Haftanstalten des Landes.

Dabei sind die Morde an den sechs Killern von Fernando Villavicencio im Gefängnis „Guayas I“ vom 6. Oktober noch nicht mitgezählt. Die haben in Ecuador für Fassungslosigkeit gesorgt. „Sie belegen, dass die Drogenkartelle nach wie vor Strafanstalten in Ecuador kontrollieren“, so Fernando Carrión. Carrión, Wissenschaftler der der in mehreren Ländern aktiven „Lateinamerikanischen Fakultät für Sozialwissenschaften“ (Flacso) ist Experte für die Sicherheitspolitik der Regierung in Ecuador. Er stellt ihr ein vernichtendes Urteil aus: „In Ecuador ist mit der 2018 erfolgten Auflösung des Justizministeriums, der parallel erfolgten Auflösung des Sicherheitsministeriums und massiven Einsparungen bei den Sicherheits- und Strafvollzugsbehörden ein Vakuum entstanden.“ Das habe der organisierten Kriminalität Tür und Tor geöffnet.

Knast als Kriegsschauplatz

Die permanente Überbelegung der Strafanstalten sowie die Tatsache, dass dort nur halb so viele Vollzugsbeamte ihren Dienst tun als von den Vereinten Nationen empfohlen, haben mit zu der aktuellen Situation geführt. Mehrfach wurde innerhalb der Gefängnisse und in deren näheren Umgebung der Ausnahmezustand verhängt, um den Machtkampf hinter Gittern zu beenden. Denn auch die Gefängnisse sind zum Schauplatz des Krieges der Drogenkartelle geworden, die um Schmuggelrouten, die Vorherrschaft über Stadtviertel und ganze Küstenstreifen konkurrieren.

Mehr Kontrolle in den Haftanstalten sei nötig, so der Sicherheitsexperte Carrión, der zwei der in den letzten Monaten getroffenen Maßnahmen der Regierung begrüßt: Die Entlassung von rund 10.000 Häftlingen aus der Haft sowie die Neuanstellung von rund 1.400 Vollzugsbeamten. „Damit hat die Regierung des scheidenden Präsidenten Guillermo Lasso zwar auf die Missstände reagiert, aber sie ist weit davon entfernt, die Haftanstalten zu kontrollieren, wie die Morde zeigen“, so Carrión. Zudem gebe ein weiteres strukturelles Problem: „Die Verfassung schreibt zwar Resozialisierung und Reintegration vor, real findet die jedoch nicht statt“.

Direkte Folge davon ist, dass das Gros der Straftäter rückfällig wird, wie auch Studien belegen. Die Verhältnisse erinnern Carrión an Kolumbien Ende der 1990er-Jahre: Da kämpften Guerillas, Paramilitärs und Mafia in den Gefängnissen des Landes um die Vorherrschaft.

Das solche Parallelen gemacht werden, kann Nestor Dario Cárdenas durchaus nachvollziehen. Er arbeitet für die nationale kolumbianische Gefängnisverwaltung (INPEC) und hat lange im „La Modelo“ Dienst geschoben, der berüchtigten Haftanstalt mitten in Kolumbiens Hauptstadt Bogotá. Cárdenas erinnert sich an die Zeit Ende der 1990er-Jahre, als er als junger Gefängniswärter begann. „Da waren die langen Gänge zwischen den Pavillons schlecht ausgeleuchtet, immer wieder gab es Morde“, erklärt er. Zeitungsberichten zufolge sollen sogar Leichen in der Kanalisation entsorgt worden sein. Cárdenas bestreitet das nicht, will es aber auch nicht bestätigen.

Vergleich mit Kolumbien

Bis ins Jahr 2000 hinein gaben hier je nach Pavillon, das jeweils einen Trakt im Gefängnis bildet, die FARC-Guerilla, die ELN-Guerilla, die Paramilitärs und auch kriminelle Banden den Ton an. „Sie waren es, die de facto das La Modelo kontrollierten“, so Cárdenas über die damaligen Zustände. In Kolumbien war das quasi der Normalzustand in den Vollzugsanstalten; es hat mehrere Jahre gedauert, ehe die INPEC die Haftanstalten des Landes wieder unter ihre Kontrolle brachte. Mehr Personal, eine bessere Ausleuchtung der Gebäude und zumindest eine punktuelle Senkung der Zahl der Inhaftierten trugen dazu bei. Der ehemalige Wärter arbeitet heute als Presseverantwortlicher für die Gefängnisverwaltung und organisiert auch Führungen durch die Haftanstalten.

Er sei ein Verfechter rigoroser Sicherheitsmaßnahmen, wie er betont. „Unser Prozedere ist strikt, die Vorlaufzeiten für Besuche in den Haftanstalten relativ lang.“ Cárdenas trägt den gleichen schwarz-blau gemusterten Kampfanzug wie die INPEC-Vollzugsbeamten und kennt die meisten von ihnen. „Hier im La Modelo hat sich in den letzten zwanzig Jahren viel verändert – wir haben Fortschritte gemacht“, gibt er sich überzeugt. Er weist den Weg in den Innenhof des Gefängnisses, wo sich gerade knapp zwei Dutzend Häftlinge auf dem Fußballplatz verausgaben. Schräg gegenüber ackert ein Team im Gefängnisgarten, befreit die Mohrrüben von Unkraut, den Broccoli und die Kürbisblätter von Schnecken und erntet Tomaten.

„Das ist eines von fünf Resozialisierungsprogrammen, wo sich die Insassen weiterbilden und ihren Weg zurück in die Gesellschaft vorbereiten können“, erklärt er. Dazu gehört auch die Bäckerei. Deren Tür zum Innenhof steht offen, im Nebenraum die Gitterwagen mit frischen Croissants, Brot und anderen Backwaren, die am Abkühlen sind.

Am Eingang wartet bereits Dario Hernández auf uns, drückt jedem ein französisches Hörnchen in die Hand und gibt den Weg zur Backstube frei. Der 41-jährige ist Häftling wie alle anderen der aus knapp einem Dutzend Insassen bestehenden Back-AG. „Proyecto Panaderia CPMS Bog“, steht auf den weißen Kunststoffschürzen der Männer, die Teig kneten, Croissants formen oder am Ofen stehen. Das steht für „Bäckereiprojekt CPMS Bogotá“ – das Ausbildungsprojekt in der Haftanstalt in Kolumbiens Hauptstadt läuft vielversprechend.

Die Stimmung in der Bäckerei ist an diesem Morgen gut. Häftlinge wie Álvaro Rafael García, der für mehrere Banküberfalle verurteilt wurde und eine Haftstrafe von 17 Jahren absitzt, geben Auskunft über ihre Taten und auch über ihre persönlichen Perspektiven. Als Bäcker hofft García nach seiner Entlassung auf einen Neuanfang.

Grundlegende Reformen

Dass solche Hoffnungen begründet sind, soll so bald wie möglich Normalität im kolumbianischen Vollzugsalltag werden: Resozialisierung soll fortan groß geschrieben werden, wenn es nach dem Justizministerium geht, das vor kurzem eine Justizreform und parallel dazu eine des Vollzugssystems vorgestellt hat.

Zur Zeit stecken Gesetzesvorlagen, die eine 180-Grad-Wende im Justiz- und Vollzugsalltag vorbereiten, allerdings im Parlament fest, wo sie auf massiven Widerstand treffen. Grund dafür ist die tradierte Strafzwecklogik, die sich durch Kolumbiens Justizgeschichte zieht und von der amtierenden Regierung kritisiert wird. „Wir plädieren für grundlegende Reformen des Strafgesetzbuches und wollen die Situation in den Vollzugsanstalten humaner gestalten“, so Camilo Eduardo Umaña, der stellvertretende Justizminister Kolumbiens. Man wolle „weg von der rigorosen Sanktionspraxis hin zu Täter-Opfer-Ausgleich und Resozialisierung“. Dafür haben er und die gesamte Regierung viel Kritik geerntet – unter anderem vom noch amtierenden Generalstaatsanwalt Francisco Barbosa, aber auch von vielen Parlamentariern. Allerdings wird der erzkonservative Barbosa spätestens im Februar durch ein progressive Kollegin ersetzt. Das könnte der Justiz- und Vollzugsreform eine Chance auf ihre Umsetzung verschaffen.

Ähnliche Reformen wie in Kolumbien erhofft sich Fernando Carrión für Ecuador von der designierten Regierung Daniel Noboas. Der Sohn des erzkonservativen Bananen-Tycoons Álvaro Noboa wurde am 15. Oktober zum Präsidenten gewählt und soll bereits am 1. Dezember vereidigt werden. Er steht vor immensen Aufgaben. Die Reform des Vollzugssystems und die Bekämpfung der überbordenden Kriminalität im Land stehen dabei ganz oben auf seiner Agenda. „Allerdings fehlt es bisher an einem detaillierten Konzept, wie die Regierung vorgehen will, um die Justiz zu stärken und Polizei und Ermittlungsbehörden im Kampf gegen die organisierte Kriminalität effektiver zu machen“, so Carrión.

Die allgegenwärtige Korruption hat den Aufstieg der je nach Quelle zwischen neun und fünfundzwanzig Drogenkartelle in Ecuador erleichtert. Sie sind es, die in erster Linie für die stetig steigende Mordquote im Land verantwortlich sind. Laut Prognosen der „Ecuadorianischen Beobachtungsstelle für Organisierte Kriminalität“ wird die Mordquote bis Ende des Jahres auf 35 Morde je 100.000 Einwohner steigen – das wären dann mehr als 7.000 Morde im Jahr 2023. Etliche davon Auftragsmorde, deren Zahl genauso steigt wie die Zahl der Entführungen, Erpressungen und Drogendelikte.

Kartelle und soziale Krise

Auch der ermordete Präsidentschaftskandidat Fernando Villavicencio hatte angekündigt, gegen solche Zustände vorzugehen. Damit war er sowohl für die Kartelle als auch für die korrupte Elite zum Risiko geworden. Welche Seite den Mord, der höchstwahrscheinlich in einem der Gefängnisse des Landes geplant wurde, in Auftrag gegeben hat, wird nach der Ermordung des aus Kolumbien stammenden Killerkommandos kaum mehr zu ermitteln sein.

Ecuador sei ein Land, das sich auf der Kippe befinde, meint Mario Melo. „Die Situation ist komplex, ein tragfähiger sozialer Pakt für die Zukunft des Landes ist nicht im Ansatz zu erkennen“, so der Dekan der juristischen Fakultät der Päpstlichen katholischen Universität Quitos. „Mitverantwortlich für den Aufschwung der Kartelle ist schließlich auch die soziale Krise im Land.“ Diese habe sich mit der Pandemie massiv verschärft und die seitdem herrschende Rezession gehe einher mit einer Erosion der sozialen Systeme. Die Verarmung breiter Bevölkerungsschichten schlägt sich in der Armutsquote nieder, parallel dazu wurden die öffentlichen Investitionen in die sozialen Sicherungssysteme und in die staatliche Infrastruktur unter der scheidenden Regierung von Guillermo Lasso massiv zurückgefahren.

Hier will die Nachfolgeregierung ansetzen, die sich für mehr Sozialausgaben, Umweltschutz und Frauenrechte sowie für mehr Arbeitsplätze, Sicherheit, öffentliche Gesundheit und öffentliche Bildung ausgesprochen hat. Schlüssige Konzepte und Vorschläge, wie all das finanziert werden soll, hat sie allerdings bislang nicht vorgelegt. Wird der designierte Präsident, der selbst der wirtschaftlichen Elite des Landes entstammt, diese zur Kasse bitten?, lautet eine der zentralen Fragen. „Fakt ist“, so Mario Melo, „dass unsere Elite traditionell an sich denkt, meist keine Steuern zahlt und keine Verantwortung für das Land übernimmt.“ Mit dieser Ansicht ist Melo nicht allein.

Ob Daniel Noboa, ein in den USA ausgebildeter Manager, an diesen strukturellen Ursachen hinter der ökonomischen und sozialen Krise etwas ändert wird, bleibt abzuwarten; die Erwartungen an ihn sind jedenfalls immens. Dabei steht die Reform von Polizei, Justiz und Vollzugssystem ganz oben auf der Liste, denn das Vertrauen in die Ordnungskräfte ist beschädigt. Davon zeugen in Guayaquil die Kameras und Hinweisschilder im Ausgehviertel Las Peñas, wo der Malecón, die Uferpromenade endet. Da, aber auch in vielen anderen Orten des Landes, haben sich längst die Nachbarschaften zusammengetan, um sich selbst zu schützen.

Knut Henkel berichtet für die woxx aus Lateinamerika.

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