ABGEHÄNGT: Ein Fest für Ethnologen

Wie sieht das kulturelle Erbe der Überflüssigen aus? Wer solche Fragen stellt, hat es verdient, Protagonist in einem der Romane des flämischen Autors Dimitri Verhulst zu werden.

Den 1972 im ostflämischen Aalst geborenen Dimitri Verhulst sollte man gut im Auge behalten – was nicht schwer fallen dürfte: Mit „Die Beschissenheit der Dinge“, seinem nach „Problemski Hotel“ zweiten Roman, schaffte er es auf Platz Eins der Bestsellerliste in den Niederlanden und gewann auch einen begehrten Publikumspreis.
Rainer Kersten gelang es, auch der deutschen Übersetzung ihre Authentizität zu belassen, er hat den in der „Beschissenheit“ verwendeten Slang einfach in rheinischen Dialekt übertragen.

Manche Bücher kommen einem gerade recht. Eines Tages lag „Die Beschissenheit der Dinge“, ein handlicher 200-Seiten-Roman des Belgiers Dimitri Verhulst in der Redaktion. Warum uns das Werk unverlangt zugesandt wurde – schwer zu sagen. Vielleicht dachte man beim deutschen Luchterhand Verlag, dass sich das geographisch rechtfertigt. Denn von der Affinität mancher Redaktionsmitglieder für belgisches Bier wird dort wohl niemand gewusst haben. Um Bier geht es in diesem Buch – wie allgemein ums Trinken – jedenfalls auch. Wie auch immer: Das Buch kam zur rechten Zeit – ein Ausflug nach Brüssel stand bevor, und was gibt es zur Einstimmung Schöneres, als ein wenig Reiseliteratur?

Damit ist allerdings der Bezug des Buches zum Bildungsroman auch schon beendet. Verhulsts Roman, schenkt man dem Klappentext Glauben, ist geprägt von proletarischem Stolz. Bisweilen wird einem selbst von authentizitätsfetischistischen Literaturprofessoren erklärt, der klassische Arbeitsweltroman im Stile von Emile Zola sei gar keiner, da Zola und seinesgleichen keine Arbeiter waren. Verhulsts autobiographischer Text beschreibt ein Leben von Menschen, für die man sich nicht einmal mehr wegen ihrer Arbeitskraft interessiert. Wer es also superauthentisch mag, darf getrost einen Blick auf und in „die Beschissenheit der Dinge“ werfen.

Von der weiß der an der Schwelle zur Pubertät stehende „Dimmetrieken“ viel zu berichten. Zusammen mit seinem Vater und drei Onkel wächst er bei seiner Großmutter im flämischen Dorf Reetveerdegem auf. Das Leben der Familie ist maßgeblich geprägt vom Alkohol. Oder, wie Dimmetrieken bei Gelegenheit eines Besuchs seiner Cousine Sylvie illustriert: „Ein Scheißleben ist ausgesprochen übersichtlich: Jeden Nachmittag sah Sylvie meinen Vater und meine Onkel zum Frühstück erscheinen und sich nach der rituellen ersten Zigarette auf das Hackfleisch und die Sardellenbüchsen stürzen, um den Kater der vergangenen Nacht zu vertreiben.
Das fette Öl der Sardellen tropfte ihnen vom Kinn und wurde mit dem Ärmel eines ausgefransten Pullovers weggewischt, wenn sie nicht zu faul dazu waren. Danach verschwanden sie, um viele Stunden später betrunken wieder nach Hause zu kommen. Manche nennen das einen Teufelskreis, wir betrachten es als natürlichen Zyklus.“

Diese Haltung charakterisiert den gesamten Flow des Buches. Ganz ohne Betroffenheitsgesten beschreibt Verhulst, was in diesem Zyklus, diesen Stunden des Trinkens und des Ausnüchterns vor sich geht. Das ist oft witzig, etwa wenn einer der Onkel eine Tour de France des Saufens organisiert und dabei die spezifische Schwierigkeit der verschiedenen Rad-Etappen in verschiedene Alkoholika und Trinkgeschwindigkeiten umzurechnen versucht. Die Gleichgültigkeit des erzählenden Dimmetrieken widert aber bisweilen auch an, und erst nach und nach merkt man, dass sich hinter seinen scheinbar emotionslosen Beobachtungen meist eine tiefe Humanität verbirgt. Keine Stelle des Buches könnte indes drastischer konterkarieren, was man anfangs womöglich als romantische Vorstellung eines Trinkerlebens zu konsumieren vermag, als jene, an der ein inzwischen erwachsener Dimitri beschreibt, wie dankbar er seiner Großmutter dafür ist, dass sie ihn auf eigene Initiative in eine Pflegefamilie gab.

„Gott schuf den Tag, und wir schleppten uns hindurch.“

So ist das Buch also zutiefst komisch, und dabei kritisch und einfühlsam zugleich. Was es über den eigentlichen Plot hinaus so lesenswert macht, sind die kleinen Beobachtungen und emotionalen Momente am Rande des Alltags, die Verhulst über seinen Text verstreut hat. So etwa, wenn der Erzähler an den Abschied von seiner Großmutter denkt. „Sie muss gespürt haben, dass es zum letzten Mal war“, schreibt er und erinnert sich „an den Dichter Hans Andreus, der seine Frau mit den Worten vom Sterbebett weggeschickt hatte: ?Geh jetzt mal, das hier muss ich alleine machen.'“

Vom Abschiednehmen und davon, dass jeder den letzten Weg alleine gehen muss, handelt auch Verhulsts neuestes Buch. In einem kleinen, von Hügeln umsäumten Kaff in Belgien lebt Madame Verona. Bevor ihr Mann an Krebs starb, hatte er sie mit einem enormen Vorrat an Feuerholz versorgt. Als mit dem letzten Stück Holz auch der letzte Rest an Wärme, den ihr der Geliebte hinterließ, erloschen ist, beschließt Madame Verona, ins Tal hinabzusteigen, um dort mit ihrem Hund auf den Tod zu warten. Während sie wartet, erfahren wir einiges über ihr Leben und über das kleine Dörfchen Oucwègne, das von der wirtschaftlichen Entwicklung abgehängt und zurückgelassen wurde.

Wie ihre Erinnerung selbst, bleiben die einzelnen Kapitel des Buches einigermaßen unvermittelt und fragmentarisch. So findet sich mittendrin auch ein Gedicht, das sich als Reminiszenz an Hans Andreus lesen lässt und so beginnt:

„Wenn mein Moment gekommen ist, möchte ich nicht, dass du bei mir wachst.
Mir kurz die Decke grade ziehen, das darfst du, sonst aber nichts.
Und wenn du bei diesem Deckegradeziehen auch noch ganz lieb lachst,
werd ich das vorgetäuschte Glück für dieses eine Mal dir noch vergeben.“

Verhulsts Bearbeitung des Stoffes, der vor allem eine Liebesgeschichte bleibt, alterniert zwischen unglaublich schönen poetischen Momenten und dem Abdriften in Kitsch ? was jeweils überwiegt, werden die Leser jeweils selbst entscheiden. Dennoch kommt das Buch nicht an die „Beschissenheit“ heran. Zu disparat sind die einzelnen Kapitel, zu oft gleitet der Autor hier bei seinen Alltagsbeobachtungen ins Banale ab. Wer jedoch seine anderen Bücher mag, wird auch „Madame Verona steigt den Hügel hinab“ wegen seiner starken Momente schätzen.

Dimitri Verhulst – Die Beschissenheit der Dinge. Luchterhand Literaturverlag. Taschenbuch, 224 Seiten.
Dimitri Verhulst – Madame Verona steigt den Hügel hinab. Luchterhand Literaturverlag. Taschenbuch, 112 Seiten.


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