STALKING: Aus der Isolation

Ein spezifisches Strafgesetz gegen Stalking ist wichtig, reicht als alleinige Maßnahme aber nicht aus, glaubt der zuständige Beamte für das Stalking-Projekt der Polizei Bremen.

Woxx: Wer wird zum Stalker und warum?

Stephan Rusch: Grundsätzlich kann jeder zum Stalker werden. Gleichwohl gibt es mittlerweile Untersuchungen, etwa von der Technischen Universität in Darmstadt, wo mittels einer Metaanalyse an rund 400 Stalkern festgestellt wurde, dass über 50 Prozent von ihnen eine Persönlichkeitsstörung in völlig unterschiedlicher Ausprägung aufweisen. Dazu gibt es verschiedene Theorien. Der britische Arzt und Psychoanalytiker John Bowlby etwa geht davon aus, dass beim Stalking eine Bindungsstörung im Kindesalter vorausgeht, dass also spätere Stalker sehr früh eine wichtige Bezugsperson verloren haben.

Inwiefern ist Stalking eine psychische Erkrankung, ein suchtartiges Verhalten, das somit eher therapeutisch behandelt werden müsste, statt strafrechtlich belangt?

Das ist immer die Frage von strafrechtlichem Handeln – ob hinter einer Tat ein krankes Motiv oder eher Rachsucht und Geldgier steckt. Wenn sie über Sexualstraftäter nachdenken, dann steht dahinter in erster Linie ein Strafanspruch des Staates und der Rechtsanspruch des Opfers. Andererseits brauchen diese Menschen auch Hilfe, um das, womit sie belastet sind, abstellen zu können. Da macht eine Therapie natürlich Sinn. Wir haben hier in Bremen ein entsprechendes Prinzip beim Stalking: Strafe ja – Therapie aber auch. Es geht um Opferschutz und Täterbegrenzung. Das beinhaltet nicht nur, dass wir dem Opfer, wenn es psychisch sehr stark belastet ist, therapeutische Hilfe vermitteln. Sondern wir versuchen auch die Täter zu überreden, sich in Behandlung zu begeben.

Gibt es viele Kliniken, die auf die Behandlung von Stalkern spezialisiert sind?

Das ist nach wie vor ein Grundproblem in Deutschland, dass selbst Therapeuten mit dem Thema Stalking nicht wirklich bewandert sind. In Bremen haben wir seit 2001 ein Stalking-Projekt, das eigentlich weltweit einzigartig war: Wir haben etwas auf die Beine gestellt, ohne diesbezüglich über einen Strafgesetzparagrafen zu verfügen. Dieser wurde erst 2007 eingeführt. Während wir 2001 nur 54 Anzeigen von Opfern in Bremen hatten, haben wir heute weit über 700 pro Jahr. Das liegt daran, dass wir seit 2001 eine sehr offensive Kampagne gegen das Stalking gestartet haben.

Wie entstand das Pilotprojekt in Bremen?

1999 hatten wir den Versuch eines Tötungsdeliktes im Kontext eines Beziehungskonflikts. Wir haben bei der Aufarbeitung dieses Deliktes festgestellt, dass das Opfer sich schon Monate zuvor an Polizei und Hilfsorganisationen gewandt hatte. Und nirgends wusste man mit dieser Frau etwas anzufangen. Es gab keinen entsprechenden Straftatbestand. Daraufhin haben wir dieses Pilotprojekt 2001 ins Leben gerufen, mit dem Ziel, die Opfer zu schützen. Wir haben für unsere Polizeibeamte Handlungsanweisungen entwickelt: Die Betroffenen sollen ernst genommen, anstatt weggeschickt zu werden. Was die Opfer berichten, muss protokolliert werden. Wir haben ein so genanntes Opferwohnprinzip eingeführt: Grundsätzlich gilt bei irgendwelchen Delikten das Tatortprinzip. Das heißt, es ist immer diejenige Polizeidienststelle und Staatsanwaltschaft zuständig, in deren Bezirk ein entsprechendes Delikt passiert. Jedoch ist es beim Stalking so, dass das Opfer im Stadtteil A wohnt, im Stadtteil B einkaufen und im Stadtteil C zur Arbeit geht und überall den Angriffen des Stalkers ausgesetzt ist. Nun würden sich formalrechtlich ja völlig unterschiedliche Polizisten und Staatsanwälte um die einzelnen Vorgänge kümmern müssen. Das Opferwohnortprinzip bedeutet an dieser Stelle, egal, wo das Opfer den Angriffen des Stalkers ausgesetzt ist, es ist immer diejenige Polizeidienststelle und Staatsanwaltschaft zuständig, in deren Bezirk das Opfer wohnt.

Welche Beweislage muss man als Stalking-Opfer erbringen, um überhaupt glaubwürdig zu sein?

Problematisch war es vor März 2007, als das Stalking-Gesetz noch nicht existierte, insbesondere solange noch keine Straftatbestände erfüllt waren. Damals mussten Betroffene selbst dafür Sorge tragen, die hunderttausendste „Ich liebe dich“-Mail als Beweis zu sammeln und der Polizei vorzulegen. Erst mit Einführung des entsprechenden Straftatbestandes im Jahr 2007 wurde die Beweislastumkehr geschaffen: Stalking ist strafbar und die Strafverfolgungsbehörden sind aufgerufen, Beweise zu sammeln – was jedoch auch nicht ohne Zutun des Opfers geht. Verhaltensmaßregeln werden mit den Betroffenen abgesprochen. Ein profanes Mittel ist etwa, dass das Opfer Protokoll führt, um festzuhalten was wann und durch wessen Handlung geschehen ist und wer als Zeuge anwesend war.

Sind Sie also der Meinung, dass ein Gesetz mit Strafparagrafen gegen Stalker notwendig ist?

Mehrere Argumente sprechen für ein Stalking-Gesetz mit Strafparagrafen: Mit der Schaffung eines Strafgesetzes erklären wir den Opfern, dass das, was der Täter tut, kriminelles Unrecht ist. Dies ermöglicht es den Opfern, aus ihrer Isolation heraus zu kommen. Wir dürfen nicht vergessen, dass viele durch das Verhalten der Stalker in eine schwere Isolation oder Depression geraten. Ein weiteres Argument ist die Beweislastumkehr: Nicht mehr die Opfer müssen Beweise sammeln, sondern die Strafverfolgungsbehörden müssen den Täter beweiskräftig überführen. Auch hat die Einführung eines solchen Strafgesetzes präventive Wirkung: Wenn ein Stalker weiß, dass sein Handeln rechtlich verfolgt wird, dann überlegt er sich das eher. Die Kritiker des Stalking-Gesetzes dagegen monieren, dass Nötigung oder Bedrohung schon durch das Strafgesetzbuch geahndet würden. Der Straftatbestand der Bedrohung beinhaltet jedoch, dass der Täter Leib und Leben bedrohen muss. Er muss dann etwa sagen: „Ich bring‘ dich um“. Der heutige Sprachgebrauch ist jedoch häufig: „Ich mach‘ dich platt“. Das wird im Strafgesetz nicht berücksichtigt, da es nicht automatisch eine Bedrohung gegen Leib und Leben indiziert. Das große Problem für die Opfer ist das Konglomerat an Straftaten beim Stalking: Von der Körperverletzung, Beleidigung, Nötigung bis zur Sachbeschädigung. Ohne entsprechendes Gesetz müsste man jedes Delikt einzeln abhandeln. Das Stalking-Gesetz ermöglicht es dagegen, alle Delikte unter einer Strafnorm zu subsumieren.

Wie viele Übergriffe müssen vorliegen, bevor die Strafnorm zur Geltung kommt, die Opfer sind ja unterschiedlich empfindlich?

Bevor das Strafgesetz kam, haben wir gesagt, sobald das Opfer die Verhaltensweisen eines Täters als Stalking empfindet, nehmen wir es auch als Stalking ernst. Das Strafgesetz sagt nun, es muss „ein beharrliches Handeln“ seitens des Täters vorliegen. Was bedeutet das? Auch sollte die Lebensgestaltung des Opfers durch die Verhaltensweisen des Täters „schwerwiegend beeinträchtigt“ sein. Als Praktiker finde ich diese Definition sehr unglücklich: Denn wo fängt das an und wo hört es auf? Ich will hier ein Beispiel erwähnen: Eine junge Frau kommt nach Hause, die Rollos sind hoch, sie macht das Licht an und legt Musik auf. Sie bewegt sich völlig unbekümmert und frei in ihren eigenen vier Wänden. Jetzt beginnt die Stalking-Periode: Die Frau kommt nach Hause. Sie macht das Licht nicht mehr an. Diese Tatsache würde vom Gesetzgeber wahrscheinlich nicht als schwerwiegende Beeinträchtigung eingestuft werden. Und wenn das Opfer in der Folge nun auch die Rollos runter lässt, keine Musik mehr auflegt – dann hat sich ihr Leben doch massiv verändert. Dann müsste man auch von einer schwerwiegenden Beeinträchtigung der Lebensgestaltung ausgehen.

Inwiefern haben Sie Einfluss auf die Bewertung der Stalking-Fälle?

Wir haben einen Vernehmungskatalog für unsere Polizeibeamten und die Staatsanwaltschaft entwickelt. Eine ganz wichtige Frage an das Opfer ist zum Beispiel: Wie haben Sie vor Beginn der Stalking Periode gelebt und wie leben Sie heute? Wenn man dann vergleicht, kann man ganz genau erkennen, wie schwerwiegend das Opfer tatsächlich in seiner Lebensgestaltung beeinträchtigt ist. Und falls noch körperliche und psychische Atteste dazu kommen, hat man strafrechtlich schon einiges in der Hand.

Auch die so genannte „Gefährderansprache“ ist vorgesehen.

Wir haben die Gefährderansprache im Zuge des Bremer Pilotprojektes eingeführt: Hier geht ein kräftiger Polizeibeamte zum Stalker und setzt ihn – norddeutsch ausgedrückt – „auf den Pott“. Es wird ihm also klar gemacht, dass die Polizei von seinem Verhalten weiß, es nicht toleriert und nötigenfalls Konsequenzen daraus ziehen wird. Bisher haben viele Stalker ihr Verhalten eingestellt, sobald sie mit der Polizei oder einer anderen behördlichen Stelle konfrontiert wurden. Trotzdem geben wir bei der so genannten mehrstufigen Gefährdungseinschätzung genau acht, um welchen Menschen es sich beim Stalker handelt. Eine Gefährderansprache kann nämlich auch zur Eskalation führen. Das wollen wir natürlich in jedem Fall vermeiden. Deshalb achten wir darauf, ob jemand Trinker ist oder eine Affinität zu Waffen hat. Gleichwohl setzten wir auch andere gefahrenabwendende Maßnahmen ein, wie etwa die in Gewahrsamnahme. So existieren neben dem Strafrecht an sich auch präventiv polizeiliche Maßnahmen, die wir treffen können.

Inwiefern erkennt ein Stalker selbst, dass er Probleme hat?

2006 haben wir in Bremen ein Stalking-Krisen-Interventionsteam gegründet, bestehend aus zwei Psychologen. Wir verweisen die Opfer an dieses Team. Auch Täter werden angeschrieben. Allerdings geht es nicht um einen Täter-Opfer-Ausgleich – beim Stalking kommt so etwas nicht in Frage. Sondern es geht darum, dem Opfer in der Krisensituation die Angst zu nehmen und es wieder auf die Spur zu bringen. Beim Täter geht es darum, zu klären, inwieweit er eine Persönlichkeitsstörung aufweist, um dann mit ihm weiterzuarbeiten. Interessanterweise nimmt die überwiegende Mehrzahl der angeschriebenen Täter dieses Angebot der Stalking-Beratung an.

Was raten Sie konkret, wenn sich jemand bedroht und bedrängt fühlt?

Auch hier haben wir Erfahrungen durch unsere Opferstudie gemacht. Wir haben am Anfang unseres Pilotprojektes Flyer entwickelt, die Verhaltenstipps für die Opfer enthielten. Durch unsere Opferstudie haben wir festgestellt: wenn sie einem völlig gestressten Opfer mehr als zwei Punkte erläutern, vergisst es diese ohnehin nach drei Minuten wieder. Deshalb geben wir den Betroffenen nur noch zwei wesentliche Handlungsanweisungen mit: Im Akutfall den Notruf zu wählen und zu versuchen, bei einer Freundin unterzukommen. Anschließend gehen wir mit einem sehr individuellen Konfliktmanagement auf die Betroffenen zu. Die Schaffung eines Strafgesetzes allein wird den Opfern nicht helfen. Es muss auch etwas bei der Exekutive passieren: Es müssen vernünftige Fortbildungen für Polizeibeamte angeboten, Staatsanwälte und Richter müssen geschult werden.

 

Zur Person
Stephan Rusch ist Kriminalhauptkommissar am Landeskriminalamt Bremen und seit 2004 Verantwortlicher für die Weiterentwicklung des Bremer Stalking-Projektes. Er betreut auch die Kooperation mit dem Rechtspsychologischen Institut (IRP) der Universität Bremen, das zum Phänomen Stalking forscht. Rusch ist Mitglied der Deutschen Stalking-Opfer-Hilfe e.V. (DSOH) und Mitbegründer des Deutschen Instituts für Stalking-Prävention und Rechtsaufklärung. Er hat Bücher und Artikel zum Thema veröffentlicht.
Am 12. und 13. November ist Rusch als Redner zur Themenwoche „Stalking – Erkennen, Handeln und Helfen“ eingeladen, die von der Stadt Düdelingen und der Arbeitsgruppe Gesond Diddeleng organisiert wurde.
Weitere Infos zur Themenwoche unter: annabelle.saffran@dudelange.lu��


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