Gegen das Chaos fordert der Architekt Christian Bauer mehr städteplanerisches Engagement seitens der Politik. Konzentrierte Wohnformen, die näher am Arbeitsplatz liegen – das sind die Herausforderungen der Zukunft.
Woxx: „Out There: Architecture Beyond Building“ ist der Titel der diesjährigen Architekturbiennale. Wie ist er zu verstehen?
Christian Bauer: Der Titel der Biennale wurde erst sehr spät gefunden, so dass viele Teilnehmer bereits ihre Herangehensweise hatten. Für mich persönlich geht es darum, über Architektur im philosophischen Sinne nachzudenken: Was ist Architektur? Und was ist die Rolle der Architekten? Man kann den Titel aber auch so interpretieren, dass Architektur in Richtung Design geht. Für meine Begriffe ist man auf der Biennale zu sehr in Richtung Design gegangen. Die Skulpturen, die hier ausgestellt sind, sind zwar schön fürs Auge, aber wir leben in einer Zeit, wo man sich eine rein stilistische Auseinandersetzung nicht mehr so sehr leisten kann. Ich bin eher für eine Reflektion über die Zukunft von bebauter Umwelt im Kontext von nachhaltiger Entwicklung. Diese Auseinandersetzung wollen wir auch in der ?Fondation de l’Architecture‘ führen: Wir hätten gerne, dass sich neben Architekten auch Entscheidungsträger mit diesem Thema befassen. Denn jeder politische Gestus, der etwas mit Bauen zu tun hat, beinhaltet Konsequenzen. So wie man sich mit Umweltverschmutzung beschäftigt, so sollte man sich mit dem Bauen beschäftigen – es kann nämlich auch eine Form von Umweltzerstörung sein.
Aaron Betsky, Kurator der diesjährigen Biennale, meinte kürzlich: „Architektur ist alles, was über das Gebäude hinausgeht – nämlich Kultur.“ Welche Kultur beinhaltet Architektur denn heute noch – angesichts globaler Retortestädteplanungen oder labelartiger Gebäude von Stararchitekten?
Architektur drückt eigentlich die Kultur eines Landes aus. Sie drückt aus, wie Menschen an einem bestimmten Standort leben.
Ein Pei-Gebäude sagt doch aber nichts mehr über die Menschen aus, die drum herum wohnen?
Persönlich finde ich es nicht gut, wenn ein Architekt seinen Stil global anwendet. Es ist eine Form von moderner Perversion. Wenn Architektur exzessiv reproduziert wird, dann ist es nur noch „culture de l’internationalisme“ und nicht mehr „culture du lieu“. Ich hoffe immer noch, dass eine Rückbesinnung stattfindet. Es gibt viele Länder, die ihre ursprüngliche Baukultur zerstört haben. Ich muss hier besonders an Afrika denken, wo man viele Gebäude sieht, die von einem westlichen Architekten dorthin gesetzt wurden. Diese passen teilweise überhaupt nicht ins Klima oder in die Natur. Das ist ein großes Problem. Es ist wichtig, dass eine Baukultur mit dem Ort übereinstimmt.
Welche Kultur vermitteln Luxemburger Bauten denn noch?
Ich würde die Luxemburger Baukultur als individualistisch bezeichnen. Das hat sich vor allem in letzter Zeit stark herauskristallisiert. Die Architekten sind von unterschiedlicher Herkunft. Jeder hat seine persönliche Einstellung. In Luxemburg drücken wir kein kollektives Bewusstsein durch die Gebäude aus – wir haben dagegen sehr viele Einfamilienhäuser. Als diese in den Fünfzigerjahren gebaut wurden, entstand eine andere Typologie als jene der größeren Bauernhöfe in den Dörfern und der kleineren Reihenhäuser in den Vororten der Städte. Es entstand die „neue Villa“, eine Art Luxemburger Bungalow: ein bisschen Schloss mit großem Dach und ein bisschen Bauernhaus. Zusätzlich haben die Ausländer, die nach Luxemburg kamen, eigene Einflüsse mitgebracht. So dass Luxemburger Architektur heute ein wirkliches Potpourri ist. Persönlich würde ich sagen, dass dieser Individualismus irgendwann zu einem optischen Chaos führt, der nicht sehr attraktiv ist. Mehr als der Stil interessieren mich jedoch konzentrierte Wohnformen. Zukünftig müssen wir in Luxemburg Wohnungen entwickeln, die weniger Raum in Anspruch nehmen und die näher am Arbeitsplatz liegen. In Luxemburg-Stadt gibt es nach wie vor sehr viele Baulücken. Es gibt nach wie vor sehr viele Zonen, in denen sich nur Büros oder Industrie befinden: etwa die Industriezone von Leudelingen oder die auf Cloche d’Or. Hier wohnt niemand, und sogar in der Mittagszeit findet hier kaum Stadtleben statt. Beim Kirchberg zeigt sich zwar seit kurzem, dass mehr in Wohnungsbau investiert wird. Doch gerade große Institutionen wie die EU sind Monolithen, die den Wohnungsbau immer an den Rand drängen.
Stilmäßig wurde Ihre eigene Architektur kürzlich mit den Worten charakterisiert: „Maxime ist nicht Einfügung, sondern Widerspruch gegen das Vorhandene“. Inwiefern sollte sich Architektur in ein urbanes Umfeld integrieren?
Ich bin eher für die Einfügung in ein Umfeld. Ich nehme an, diese Aussage bezieht sich auf das ?Musée National d’Histoire et d’Art‘. Dieses Gebäude fügt sich meiner Ansicht nach ein – ist aber gleichzeitig ein öffentliches Gebäude, das sich aus einem Kontext herausheben sollte. Integration kann auf verschiedenen Ebenen passieren, das geschieht auch durch Opposition. Dabei muss das Neue nicht schockieren. Beim Museum haben wir uns mit dem Volumen und den Farben sehr zurückgehalten, weil das urbane Umfeld drum herum schon sehr viel Bewegung hat.
Liegt die Schönheit von Städten wie etwa Rom oder auch eines elsässischen Dorfes nicht gerade in der architektonischen Einheitlichkeit?
Ich schaue mir gerne Ortschaften an, in denen eine bauliche Harmonie vorhanden ist. Das drückt immer einen gewissen Konsens aus. Das Neue muss nicht immer sofort mitteilen: Ich bin neu. Es gibt Situationen, wo man als Architekt nah an das Alte herangehen sollte, etwa in der Altstadt. Da hätte ich es am liebsten, wenn man neue Gebäude erst auf den zweiten Blick erkennt. Doch je mehr man Luxemburg-Stadt verlässt, umso weniger weiß man als Architekt noch, woran man sich orientieren sollte, damit neue Gebäude eine kohärente Identität mit dem Umfeld vermitteln. Gerade auf dem Land fehlt ein „plan d’ensemble“. Auch in den Vorstädten kann oft jeder so bauen wie er will. Wichtig wäre, dass diese Vorstädte wieder eigene Zentren bekommen, in denen nicht nur eine Einheit vorhanden ist, sondern auch die Möglichkeit besteht, dass Menschen sich treffen können.
Müssten sich Architekten nicht selbst einem Bewertungskodex unterordnen, der Gebäude danach beurteilt, ob sie Lebensmittelgeschäfte integrieren, oder ob sie barrierefreies Wohnen sowie Umweltaspekte berücksichtigen?
Ein Architekt, der sich nicht an diesen Kriterien orientiert, der sollte überhaupt nicht planen. Letztlich spielt aber oft das Geld die entscheidende Rolle ? wenn etwa ein Bauherr sich ein ?Landmark‘ errichten will. Das Problem ist auch, dass Architekten oft nur einzelne Gebäude planen können. Deshalb wird Urbanismus zukünftig so wichtig. Und hier sind vor allem die Politiker gefordert. Sie treffen letztlich die Entscheidung über nachhaltiges Bauen. So wird nach wie vor zu sehr auf der grünen Wiese geplant. Dabei haben wir noch immer sehr viele Baulücken. Wenn man bedenkt, dass die „place de l’Etoile“ nun fast dreißig Jahre lang Brachfläche mitten in der Stadt ist – wo viele Leute wohnen und zu Fuß zur Arbeit hätten gehen können. Hier existiert noch immer keine Planungskultur. Da kommt der Individualismus wieder zum Vorschein: Unsere Gesetzgebung ist noch nicht dahingehend ausgerichtet, dem Allgemeininteresse mehr Gewicht zu geben. Auch in puncto Mobilitätskonzept wird zu sehr auf Mobilität gesetzt. Meines Erachtens müsste auf ein Durchmischungskonzept gesetzt werden: Je näher die Leute bei ihrer Arbeit wohnen, umso weniger müssen sie sich bewegen. In Luxemburg gibt es zwar eine Landesplanung, aber bei der Umsetzung hapert es.
Wenn man sich die Bausünden auf dem Boulevard d’Avranches, dem Boulevard Royal oder die Zersiedlung der Dörfer durch Villenbau ansieht ? dann fragt man sich, wer das genehmigt hat. Wie konkret ist inzwischen die diskutierte Idee eines Städtebaurats?
In Trier gibt es einen Städtebaurat. Wir fordern solche Räte in Luxemburg-Stadt, aber auch auf nationaler Ebene. Doch um in einem solchen Städtebaurat gut beraten zu sein, müssen Spezialisten aus dem Ausland hinzu gezogen werden. Denn Luxemburg ist ein bisschen wie ein Dorf, wo jeder jeden kennt.
Würde man ein altes Gebäude abreißen – hätte man vor allem einen Haufen Steine. Ein modernes Gebäude dagegen – ist in puncto Bauschuttentsorgung eine echte Katastrophe. Müsste nicht auch hier ein Umdenken kommen?
Es kann durchaus ganz ökologisch sein, mit Ziegeln zu bauen. Jedoch müssen wir als Architekten immer besser isolieren, auch weil der Quadratmeterpreis im Wohnungsbau so hoch ist. Bei einem Bürogebäude auf dem Boulevard Royal bedeutet das, dass die Wände immer dünner und effektiver in puncto Isolierung werden. Wir müssen immer mehr mit Hightechmaterialien arbeiten, die sehr schwer zu recyceln sind. Problematisch sind hier auch die neuen Normen, die vor allem den Energieverbrauch in puncto Heizen regeln. In diesen Fragen müsste man viel weiter gehen: Energiennormen müssten auch den Energieverbrauch ins Auge fassen, der bei der Herstellung und der Entsorgung von gewissen Baumaterialien anfällt.
Denkmalschutz ist darauf ausgelegt, Altes zu erhalten. Architektur will Neues schaffen. Wie passt das zusammen?
Ich sehe das nicht als Gegensatz: Denkmalschutz ist Respekt vor der Architektur. Also muss ein guter Architekt auch Respekt vor dem Denkmal haben. Nur ist es heutzutage oft so, dass durch den Fortschrittsglauben sowie aufgrund von Rationalisierungsmaßnahmen erhaltenswerte Gebäude verschwinden.
Wie weit soll Denkmalschutz gehen, etwa bei den Hochöfen in Esch Belval?
Ich bin immer noch dafür, dass möglichst viel erhalten bleiben soll. Wichtig ist jedoch, dass denkmalgeschützte Gebäude am Ende nicht nur als Kulisse fungieren, sondern mit frischem Leben gefüllt und in ein Umfeld eingebunden werden. Denkmalschutz bedeutet, die Erinnerung wach halten, das können auch Fragmente sein. Für Luxemburg – ein kleines, sich rasant wandelndes Land ohne viele Denkmäler ? ist es wichtig, zu verhindern, dass plötzlich keine Spuren der Vergangenheit mehr da sind. Erhaltenswert sind manchmal auch recht banale Gebäude – wie etwa Arbeiterhäuser. So will die ?Fondation de l’Architecture‘ stärker mit ?sites et monuments‘ zusammenarbeiten. Letztere wurden bisher nicht ausreichend vom Staat oder der Bevölkerung unterstützt.
Als Biennale-Kurator für Luxemburg haben Sie elf Persönlichkeiten vier Fragen in puncto Architektur und Urbanismus gestellt. Inwiefern hat diese Auseinandersetzung mit Architektur auf der Biennale einen Einfluss auf Ihre persönliche Arbeit?
Die Biennale in Venedig bietet die Möglichkeit der Debatte über Architektur. Durch unsere Teilnahme dort wollen wir diese auch in Luxemburg anregen. Die Antworten auf die gestellten Fragen können eine Art Leitfaden für unsere Reflexionen darüber sein, wo und wie in Zukunft gebaut werden soll. Thematisch geht es nicht mehr um Architektur – sondern um die Frage, wie die Umwelt aussehen soll, in der wir leben wollen. Zu oft betrachten wir nur das Gebäude an sich. Wichtig ist jedoch das, was zwischen den Gebäuden passiert – im Stadtraum. Ob es hier noch soziales Leben bzw. einen Mix zwischen Alt und Jung gibt, ob hier gewohnt und gearbeitet werden kann. Eine Neunutzung durch Durchmischung – das ist der Ansatz, der überlegt werden muss. Ich bin noch immer traurig, dass in Luxemburg-Stadt so viele historische Gebäude abgerissen wurden. Hier muss die Politik wieder präsenter werden. Der Markt regelt eben nicht die Dinge. Dagegen müsste sich die Politik wieder stärker mit Zielvorgaben durchsetzen, anstatt dass die Wirtschaftslobby das Sagen hat.
Die Biennale in Venedig kann noch bis zum 24. November besichtigt werden.
Zur Person Christian Bauer:
Zu den bekanntesten Entwürfen des Architekten Christian Bauer gehören die Europaschule auf Kirchberg, das Musée National d’Histoire et d’Art und die Banque Centrale in Luxemburg-Stadt. Neben seiner Tätigkeit als Präsident der „Fondation de l’Architecture“ fungiert er dieses Jahr als Kurator des Luxemburger Pavillons „Points of View. 4 Questions. 44 Answers“ bei der 11. Architekturbiennale in Venedig. „La Mostra Internazionale di Architettura“, die mit Beiträgen von rund 50 Nationen zu den bekanntesten Treffen der weltweiten Architekturszene zählt, steht dieses Jahr unter dem Motto „Out There. Architecture Beyond Building“. Diesem Thema nähern sich Kurator Christian Bauer und seine Co-Kuratoren Tatiana Fabeck und Bohdan Paczowski nicht durch die Vorstellung von Bauprojekten aus Luxemburg. Vielmehr soll die Ausstellung „Points of View“ als Plattform dienen für eine kritische Auseinandersetzung mit dem Architekturschaffen im Allgemeinen. Dazu wurden elf Europäische Persönlichkeiten zur Rolle des Architekten in der Gesellschaft, zu Visionen der Globalisierung sowie zum Einfluss der Politik auf die Qualität der Architektur befragt, wobei die Antworten letztlich ein Kaleidoskop aktueller Meinungen und Interpretationen ergeben.