30 Jahre „Wende“: Das Erbe des Mineralsekretärs

Der einstige Reformer Michail Gorbatschow, kommunistischer Parteichef und Staatspräsident der Sowjetunion, gab die entscheidenden Impulse, die zum Ende des sowjetischen Systems und des Ost-West-Konflikts sowie zur deutschen Wiedervereinigung führten. Der Wandel im Ostblock hatte jedoch schon früher begonnen.

Selbstkritik ist die „unerlässliche Bedingung für den Erfolg einer revolutionären Partei“: Michail Gorbatschow, hier mit Erich Honecker, während seiner Rede auf dem XI. Parteitag der SED 1986 im Palast der Republik in Berlin. (Foto: Bundesarchiv, Bild 183-1986-0421-010/Mittelstädt, Rainer/CC-BY-SA 3.0)

Rumänien am Nachmittag des 25. Dezember 1989. Das Jahr des Wandels endet mit einer Hinrichtung. Nicolae Ceaușescu, der rumänische Staatspräsident und Generalsekretär der Rumänischen Kommunistischen Partei, wird zusammen mit seiner Frau Elena im Schnellverfahren zum Tode verurteilt und kurz darauf erschossen.

Knapp zwei Monate zuvor in München: In einem voll besetzten Seminarraum des Geschwister-Scholl-Instituts (GSI) für Politikwissenschaft herrscht zu Beginn des Wintersemesters großes Gedränge und Sprachengewirr. Neben Deutsch sind mehrere slawische Sprachen zu hören, auch Ungarisch und Rumänisch. Krzysztof Miszczak betritt, flankiert von zwei jungen jugoslawischen Studentinnen, den stickigen Raum. Der schmächtige Pole mit den blonden Haaren und der riesigen Hornbrille grüßt einen tschechoslowakischen Kollegen, einen Exilanten mit Schnauzbart, der seit ein paar Tagen in München weilt.

Miszczaks Veranstaltungen und die des von ihm gegrüßten Sergej Saizew haben großen Zulauf. Mehr noch die von Margareta Mommsen. Die gebürtige Österreicherin hat gerade erst ihre Professur angetreten. Bis zu ihrer Emeritierung im Jahr 2003 wird sie Lehrstuhlinhaberin an dem zur Ludwig-Maximilian Universität gehörenden GSI sein. Ihr Schwerpunkt: das politische System Russlands. Mommsens Vorlesungen sind brechend voll. In ihren Seminaren und denen ihrer Assistenten Miszczak und Saizew tummeln sich außer interessierten Studenten aus dem Westen Exilanten aus Mittel- und Osteuropa. Fieberhaft wird über die Entwicklungen diskutiert, die sich im vor dem Zusammenbruch stehenden kommunistischen Ostblock täglich überschlagen.

Seit der Ernennung von Michael Gorbatschow zum Generalsekretär der Kommunistischen Partei der Sowjetunion (KPdSU) 1985 fühlen sich die osteuropäischen Reformbewegungen ermutigt. Im eigenen Land fördert Gorbatschow den Wandel aktiv. Das Sowjetimperium ist am Ende, der Fall der Mauer in Berlin am 9. November der Höhepunkt des Wendejahres 1989. „Glasnost“ und „Perestroika“ sind die Schlagwörter, mit denen der KPdSU-Chef und spätere Staatspräsident der Sowjetunion Aufsehen erregt. Es ist keine Rede mehr davon, oppositionelle Bewegungen mit militärischen Mitteln zu unterdrücken. Auch wenn sein Ruf nach einer „Revolution von oben“ in den anderen sozialistischen Ländern auf ein unterschiedliches Echo stößt, erkennt Gorbatschow die Zeichen der Zeit.

Dabei hat der Wandel nicht erst 1989 begonnen, sondern sich bereits zu Beginn des Jahrzehnts abgezeichnet – vor allem in Polen und Ungarn. Als die Streiks auf den Werften von Danzig und Gdingen sowie die damit verbundene Entstehung der unabhängigen Gewerkschaft „Solidarnosc“ (Solidarität) im Sommer 1980 die kommunistische Regierung in Polen herausfordern, sind die Folgen all dessen noch nicht abzusehen.

Gorbatschow ist 1985 nicht mit dem Ziel angetreten, den Sozialismus abzuschaffen, sondern ihn zu erneuern und wiederzubeleben.

Die „Solidarnosc“ verlangt mehr Mitbestimmung und gesellschaftliche Freiheit. Sie prangert die ökonomische Unfähigkeit und politische Verkrustung des kommunistischen Regimes an. Der kurze Aufbruch endet jäh, als im Dezember 1981 das Kriegsrecht verhängt und die Arbeit der Gewerkschaft damit illegal wird. Im Oktober 1982 wird sie per Gesetz endgültig verboten. Zwei Jahre später wird der katholische Priester und „Solidarnosc“-Unterstützer Jerzy Popiełuszko vom polnischen Geheimdienst ermordet.

1988 dann kommt es erneut zu Streiks, die sich zu einer Kraftprobe zwischen „Solidarnosc“ und dem Regime von General Wojciech Jaruzelski, seit 1985 Staatspräsident, entwickeln. Daraufhin beginnen im Februar 1989 Gespräche am „Runden Tisch“ zwischen der Regierung und der Gewerkschaft um deren Anführer Lech Walesa. Sie führen im April zu einer Verfassungsreform, zur Wiederzulassung der „Solidarnosc“ und zu den ersten Parlamentswahlen mit einer freien Aufstellung von Kandidaten.

Unterdessen ist es auch in Ungarn zu Diskussionen über die Zukunft des Landes gekommen. Der von Staats- und Parteichef Janos Kádár praktizierte „Gulasch-Kommunismus“ hat zwar ökonomische Freiheiten, aber nicht die erhofften politischen Fortschritte gebracht. Ministerpräsident Károly Grosz, ab Mai 1988 Generalsekretär der Ungarischen Sozialistischen Arbeiterpartei, ist ein Verfechter politischer und wirtschaftlicher Reformen. Kádár hingegen wird aller Ämter enthoben.

Eine andere Situation herrscht derweil im Osten Deutschlands. Erich Honecker, der Vorsitzende der „Sozialistischen Einheitspartei Deutschlands“ (SED), besteht darauf, dass die DDR nicht gezwungen werden dürfe, dem neuen sowjetischen Modell zu folgen. Politbüromitglied Kurt Hager stellt die Frage, ob man verpflichtet sei, es seinem Nachbarn gleichzutun, wenn dieser seine Wände neu tapeziert.

Die DDR-Führung sieht jedenfalls nicht die Notwendigkeit von Reformen. Sie sieht sich vielmehr durch die „reformistische Einkreisung“ bedroht. Seit der zweiten Ölkrise befindet sich die Volkswirtschaft der DDR im Niedergang. Die Sowjetunion – noch unter Leonid Breschnew – hat die Rohöllieferungen kürzen müssen, weil sie selbst in Schwierigkeiten steckt.

Hilfe kommt ausgerechnet aus dem Westen. Alexander Schalck-Golodkowski, Stasi-Offizier im besonderen Einsatz, fädelt mit Bayerns Ministerpräsident Franz-Josef Strauß einen „Deal“ ein, damit die DDR 1983 über ein westdeutsches Bankenkonsortium einen Kredit von einer Milliarde D-Mark erhält. Dadurch wird zumindest der Staatsbankrott der DDR vermieden. Die Politik nach innen bleibt restriktiv, auch wenn der Widerstand in Bevölkerung und selbst in den SED-Reihen wächst. Doch Honecker & Co. mauern weiter. Was sich weiter östlich beim „großen Bruder“ abspielt, ist den Betonköpfen im Politbüro äußerst suspekt.

Dabei ist Gorbatschow 1985 nicht mit dem Ziel angetreten, den Sozialismus abzuschaffen, sondern ihn zu erneuern und wiederzubeleben. Er will zu den Ursprüngen der Revolution von 1917 zurück und appelliert an „die echten sozialistischen Ideale“. Sein Buch „Perestroika“ (1987) trägt nicht zufällig, zumindest in der deutschen Fassung, den Untertitel „Die zweite russische Revolution“. Er propagiert mit „Glasnost“ mehr Meinungs- und Reisefreiheit, Offenheit und Mitsprache durch Demokratisierung und freie Wahlen. Sie sollen die „Perestroika“, die Umgestaltung von Verwaltung und Wirtschaft durch mehr Eigenverantwortung der Betriebe, Dezentralisierung und Investitionen aus dem Ausland begleiten.

Auch zwei von Gorbatschows Vorgängern hatten bereits versucht, neue Wege zu beschreiten: Nikita Chruschtschow (1894-1971) und Juri Andropow (1914-1984). Chruschtschow, von 1953 bis 1964 KPdSU-Chef und von 1958 Regierungschef der Sowjetunion, leitete auf dem 20. Parteitag der KPdSU 1956 die Entstalinisierung ein und initiierte zahlreiche Reformen in der Gesellschafts- und Wirtschaftspolitik. Außenpolitisch vertrat er die „friedliche Koexistenz“ mit dem Westen, wurde aber 1964 von Leonid Breschnew gestürzt. Letzterer steht für eine lange anhaltende Stagnation, die das Riesenreich zu Beginn der 1980er-Jahre in größere wirtschaftliche Schwierigkeiten brachte. Das zentralistische System erwies sich als ineffizient, die Wirtschaft litt unter dem Rüstungswettlauf und der sowjetischen Expansion, die sich in militärischen Abenteuern wie dem Truppeneinmarsch in Afghanistan manifestierte. Der Rückstand zu den westlichen Industrieländern in Konsum und Technologien hatte sich vergrößert, Gesundheits- und Bildungswesen lagen darnieder, die Korruption grassierte.

Am 12. November 1982, zwei Tage nach Breschnews Tod, erfolgte die Wahl Juri Andropows zum neuen KPdSU-Generalsekretär und im Jahr darauf zum Staatsoberhaupt. Die Aufdeckung und Bekämpfung etlicher Missstände brachten Andropow große Popularität ein. Zu seinen Plänen zählten die Demokratisierung von Staat und Wirtschaft durch die Förderung der Eigeninitiative und Entbürokratisierung. Andropow nahm viele spätere Vorhaben Gorbatschows vorweg. Doch er kam nicht dazu, sie umsetzten und starb im Februar 1984. Sein Nachfolger war der Apparatschik Konstantin Tschernenko. Auch dieser starb nach etwas mehr als einem Jahr im Amt.

Als Gorbatschow Generalsekretär wird, propagiert er zwar mit „Glasnost“ die neue Offenheit und lockert die Zensur. Doch er hält am Machtmonopol der KPdSU fest, bekennt sich zur Planwirtschaft und ist gegen Privateigentum von Produktionsmitteln im größeren Umfang. Seine Osteuropapolitik bedeutet jedoch eine Abkehr von der „Breschnew-Doktrin“. Bis dahin beruhte die sowjetische Hegemonie vor allem auf die Anwesenheit der sowjetischen Streitkräfte in den kommunistischen Satellitenstaaten. Doch Gorbatschow bekundete bei mehreren Gelegenheiten seinen „Respekt für verschiedene Wege zum Sozialismus“. In seiner Rede vor dem Europarat in Straßburg im Juli 1989 erklärte er „jede Einmischung in innere Angelegenheiten“ für unzulässig.

Zu diesem Zeitpunkt befindet sich die Moskauer Vorherrschaft in Osteuropa vor dem Zusammenbruch. Der „Eiserne Vorhang“ wird erstmals durchschnitten, als ungarische Soldaten am 2. Mai 1989 mit dem Abbau der elektronischen Sicherungsanlagen und des Stacheldrahtes beginnen. Ein halbes Jahr später fällt die Berliner Mauer. 1990 erklären sich zuerst Litauen, dann Estland und Lettland für unabhängig, 1991 die Ukraine. Der russische Präsident und Gorbatschow-Rivale Boris Jelzin verhandelt zusammen mit seinen Amtskollegen aus der Ukraine und Weißrussland über einen neuen Unionsvertrag.

Doch die Verhandlungen scheitern, stattdessen wird die „Gemeinschaft Unabhängiger Staaten“ (GUS) ins Leben gerufen, zu der sich 15 Staaten zusammenschließen. Die Sowjetunion wird für aufgelöst erklärt. Gorbatschow tritt am 25. Dezember 1991 als deren Staatspräsident zurück, auf den Tag genau zwei Jahre nach der Hinrichtung der Ceaușescus in Rumänien.

In der Russischen Föderation wird Gorbatschow so manchem wohl mit seinem Spitznamen in Erinnerung bleiben. Eine seiner ersten Maßnahmen als KPdSU-Generalsekretär war nämlich eine Kampagne „zur Überwindung der Trunksucht“. Eine Zeit lang hatte es daraufhin Wodka nur noch gegen Bezugsscheine gegeben. Dadurch hat er nicht nur den Unmut seiner Landsleute auf sich gezogen, sondern sich auch den Titel „Mineralsekretär“ eingehandelt.


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