In Deutschland wird über Hartz IV diskutiert. Angeblich leben Arbeits-lose über ihre Verhältnisse. Der gleiche Vorwurf trifft inzwischen aber auch ganze Staaten. Ein Überblick über die europäischen Sozialsysteme.
So schnell kann sich das Erscheinungsbild der Krise ändern. Von inkompetenten Bankern und gierigen Managern, die noch vor Wochen als Verursacher allen Übels galten, spricht heute fast niemand mehr. Dafür wird in Deutschland nun plötzlich über die Erwerbslosenhilfe gestritten, als sei vor allem sie für steigende Schulden und miserable Wachstumszahlen verantwortlich. Spätestens seit den Tiraden des FDP-Vorsitzenden Guido Westerwelle über angeblich zu hohe Sozialleistungen dominiert das Thema die Debatten.
Dabei fallen die staatlichen Hilfen in Deutschland nicht einmal besonders üppig aus, wie eine kürzlich vorgestellte Studie der Organisation für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung (OECD) belegt. Normalverdiener erhalten zwar im ersten Jahr nach dem Jobverlust im Vergleich zu anderen europäischen Ländern durchschnittliche Bezüge. Bei Arbeitslosen mit einem zuvor geringen Gehalt sieht es jedoch schon anders aus: Während man in Dänemark noch 83 Prozent des alten Verdienstes erhält, sind es in Frankreich 70 und in Deutschland nur 59 Prozent. Ähnliches gilt für Langzeitarbeitslose. „Die finanzielle Absicherung von Menschen, die ihren Arbeitsplatz verlieren oder über längere Zeit arbeitslos sind, ist in Deutschland im Vergleich zu den anderen OECD-Ländern durchschnittlich, im europäischen Vergleich jedoch eher gering“, heißt es in der Studie.
Doch so aussagekräftig die OECD-Studie in vielen Punkten auch sein mag, so schwierig lassen sich allgemeine Vergleiche ziehen. In kaum einem anderen Bereich sind die EU-Staaten so unterschiedlich wie bei den Sozialsystemen. In Portugal garantiert die „Sozialrente“ 187 Euro für Alleinstehende, während in Dänemark der „Social Bistand“ mindestens sechs Mal so hoch ausfällt. In Griechenland gibt es hingegen gar keine Sozialhilfe. Auch was die Arbeitslosenversicherung angeht, klaffen in Europa die Bezugsdauer und die Höhe der Leistungen weit auseinander. In Großbritannien kann nur sechs Monate lang Arbeitslosengeld bezogen werden. In Luxemburg sind es hingegen zwei und in Dänemark vier Jahre. In Belgien wird in der Regel sogar zeitlich unbegrenzt gezahlt. In der Höhe variieren die Beträge. In Irland gibt es pauschal 150 Euro pro Woche, in Frankreich kann der Betrag im Extremfall sieben Mal höher sein.
Die Europäische Union konnte an diesen extremen Gegensätzen bislang wenig ändern. Sie darf zwar für alle Mitgliedsstaaten verbindliche Normgrößen für Gurken vorschreiben oder, wie kürzlich geschehen, eine europaweite Registrierungspflicht für Batterien einführen, in der Sozialpolitik jedoch hat sie nichts zu sagen ? hier liegen die Befugnisse bei den nationalen Regierungen. Einfluss können die Europa-Politiker in Brüssel höchstens über den Europäischen Sozialfonds ausüben, dessen Mittel für die Weiterbildung von Arbeitslosen genutzt werden. Zudem wurden einige EU-Regelungen in das Arbeitsrecht aufgenommen. Ansonsten liegt es ausschließlich an den Mitgliedsstaaten, ob sie ihre Sozialpolitik koordinieren wollen und inwieweit sie das gegebenenfalls tun.
Den großen Differenzen innerhalb Europas liegen unterschiedliche historische Entwicklungen zugrunde. So dominierte in Portugal beispielsweise bis weit in die zweite Hälfte des vergangenen Jahrhunderts ein oligarchisches Gesellschaftssystem, das einer mittelalterlichen Ständeordnung näher stand als einer modernen kapitalistischen Ökonomie. Staatliche Institutionen dienten vor allem dazu, die Elite zu bedienen und so deren Macht zu sichern. Mit dem Ende der faschistischen Diktaturen in Portugal, Spanien und Griechenland und der anschließenden EU-Integration erfolgte zwar ein andauernder Modernisierungsschub, die relative Schwäche staatlicher Institutionen blieb aber oft bestehen. Sie gelten als ineffizient und korrupt, und wer kann, versucht sich ihnen zu entziehen. Schätzungen zufolge werden rund 40 Prozent des griechischen Bruttoinlandprodukts in der so genannten Schattenwirtschaft erzielt, in Süditalien liegen die Zahlen vermutlich noch höher. Umgekehrt gibt es auch kaum Anreize, in das reguläre Sozialsystem einzuzahlen: Die Leistungen sind niedrig, und Steuereinnahmen werden meist nur dazu verwendet, die Klientel der jeweiligen Regierung zu befriedigen.
In kaum einem anderen Bereich sind die EU-Staaten so unterschiedlich wie bei den Sozialsystemen.
In Deutschland und Frankreich sowie in den skandinavischen Ländern etablierte sich wiederum ein bürokratischer Wohlfahrtsstaat, der in seinen besten Zeiten eine weit reichende soziale Integration anbot. Großbritannien und später auch die neuen osteuropäischen Beitrittsländer setzten hingegen auf eine wirtschaftsliberale Politik. „So etwas wie Gesellschaft gibt es nicht“, postulierte die ehemalige britische Premierministerin Margaret Thatcher, um anschließend die sozialen Sicherungssysteme abzubauen und sie der Initiative des Einzelnen zu überlassen.
Einen zaghaften Versuch, die unterschiedlichen Modelle einander anzunähern, hatte die deutsche Regierung während ihrer Ratspräsidentschaft vor drei Jahren unternommen. „Flexicurity“ lautete damals das Zauberwort. Darunter verstand man eine Mischung aus „Flexibilität“, wie sie vor allem von wirtschaftsliberalen Regierungen gefordert wird, und Sicherheit, auf die die Befürworter des wohlfahrtsstaatlichen Modells nicht ganz verzichten wollen. Als Vorbild diente dabei der Staat Dänemark, der seine großzügigen Sozialleistungen an einen geringen Kündigungsschutz koppelte. Mit „Sicherheit im Wandel“ übersetzte das die damalige deutsche Regierung in ihrer Agenda. Konkrete Maßnahmen folgten allerdings nicht. „Schwierig“ sei der Meinungsfindungsprozess gewesen, erklärte Bundeskanzlerin Angela Merkel damals, die Formulierungen seien „hart umkämpft“ gewesen.
Das ist auch kein Wunder, denn die dänischen Bedingungen sind nicht einfach übertragbar. Das Modell funktioniert nur, wenn es genügend Jobs gibt, um Erwerbslose nach einer kurzen Übergangszeit wieder zu vermitteln oder neu zu qualifizieren. In Flächenstaaten wie Deutschland, Italien oder Spanien, wo ganze Regionen weitgehend vom Arbeitsmarkt abgelöst sind und es für Millionen Menschen schlicht keine qualifizierte Beschäftigung gibt, ist „Flexibilität“, nicht aber Sicherheit angesagt.
Tatsächlich orientierte sich die Bundesregierung nicht an dem dänischen System, sondern an dem niederländischen Poldermodell. Bereits in den Achtzigerjahren wurden dort einschneidende Veränderungen eingeleitet: Die Gewerkschaften verzichteten auf Lohnerhöhungen, die Arbeitslosen- und die Krankenversicherung wurden gekürzt, Beschäftigungsverhältnisse durch Zeitarbeit und Teilzeitjobs „flexibilisiert“. Dafür versicherten die Unternehmer, so weit wie möglich auf Kündigungen zu verzichten.
Deutschland ging jedoch noch einen Schritt weiter. Während viele EU-Staaten moderate Lohnsteigerungen verzeichneten oder zumindest die Inflation ausglichen, wurden hier die Reallöhne kontinuierlich gesenkt. So betrug nach Angaben des Statistischen Bundesamtes der monatliche Nettolohn in Deutschland vor zwei Jahrzehnten noch umgerechnet 1.411 Euro. Heute liegt er bei 1.320 Euro. Weil die Produktivität in der verarbeitenden Industrie im gleichen Zeitraum aber deutlich stieg, verschafften sich die deutschen Unternehmen dadurch starke Wettbewerbsvorteile.
Zugleich hat sich in der Bundesrepublik der größte Niedriglohnsektor im westlichen Europa herausgebildet. Rund acht Millionen Menschen arbeiten in prekären Verhältnissen mit Stundenlöhnen von teilweise unter fünf Euro. Rund 1,2 Millionen Menschen können von ihren Einkünften nicht leben und sind auf zusätzliche staatliche Unterstützung angewiesen. Die Grenze zwischen Armut, Sozialleistungen und Lohnarbeit verschwimmt immer mehr.
Die Folgen dieser Entwicklung sind gravierend. Die Bundesregierung konnte zwar in den vergangenen Jahren ihren Haushalt konsolidieren. Sie weist heute, allen Katastrophenmeldungen zum Trotz, eines der geringsten Haushaltsdefizite in Europa auf. Dafür hat nach einer in der vergangenen Woche veröffentlichten Studie des Deutschen Instituts für Wirtschaftsforschung die Zahl der Armen allein in der vorigen Dekade um rund ein Drittel zugenommen.
Je mehr die Löhne sinken, desto größer wird der Druck, die Sozialleistungen entsprechend zu reduzieren. Zynischer Ausdruck dessen ist die von Westerwelle angezettelte Debatte um den schwindenden Lohnabstand. Bereits Ende vergangenen Jahres hatte der Sachverständigenrat der Bundesregierung, die sogenannten Wirtschaftsweisen, empfohlen, den Regelsatz um ein Drittel auf rund 250 Euro zu senken – was dem bisherigen Satz für Kinder entspricht. Zum Ausgleich sollen die Empfänger dann mehr hinzuverdienen dürfen.
Aber nicht nur Arbeitslose leben angeblich über ihre Verhältnisse, sondern offenbar auch ganze Staaten. Einige Länder, insbesondere die ökonomisch schwächsten EU-Mitglieder in Südeuropa, stehen wegen ihrer schwindenden Wettbewerbsfähigkeit mittlerweile kurz vor dem Bankrott. Die EU stellte Griechenland faktisch unter Kuratel und verhängte extreme Sparmaßnahmen. Ein Exempel, das demonstrieren soll, was den Verlierern des innereuropäischen Konkurrenzkampfes blüht – und was womöglich bald auch auf andere EU-Staaten zukommen könnte.
Die Pläne zielen darauf, den Lebensstandard der Griechen dramatisch zu senken und die staatliche Infrastruktur zu demontieren. Der griechische Ministerpräsident Giorgos Papandreou hat bereits angekündigt, dass jene, die bisher „die größten Privilegien genießen, am meisten dazu beitragen müssen“, um die Krise zu bewältigen. Gemeint sind damit vor allem die Beamten, die bislang noch verhältnismäßig sichere Jobs innehatten. Über 800.000 Griechen, und damit rund jeder fünfte Beschäftigte, arbeiten im öffentlichen Sektor – im Verhältnis zur Bevölkerungszahl fast doppelt so viele wie in Deutschland. Irland und Lettland haben mit diesen Vorhaben bereits Erfahrungen gesammelt. Dort wurden unter anderem Beamtengehälter um ein Fünftel gekürzt, Sozialleistungen reduziert, Krankenhäuser und öffentliche Schwimmbäder geschlossen. Zudem will die griechische Regierung die Mehrwertsteuer anheben – was vor allem die unteren Einkommensschichten treffen wird.
Wie jedoch Einkommen gesenkt und gleichzeitig höhere Steuereinnahmen erzielt werden können, wird vermutlich ein Geheimnis der EU-Kommission in Brüssel bleiben. Zumal sich die Maßnahmen paradoxerweise teilweise selbst aufheben. So protestieren ausgerechnet jene Behörden gegen die Sparpläne, die eigentlich für neue Einnahmen sorgen sollen: In Athen wurde das Finanzministerium von den eigenen Bediensteten blockiert, Zöllner und Steuerfahnder streiken und legen unter anderem die Treibstoffversorgung lahm. Für diese Woche ist ein landesweiter Ausstand geplant. Offenbar wollen die Griechen sich nicht ohne weiteres völlig ruinieren lassen. Was Westerwelle wohl dazu sagen würde?
Anton Landgraf ist Publizist und lebt in Berlin.